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Nukleare Rüstungskontrolle in Gefahr

Der neue Rüstungswettlauf und die Erosion der Rüstungskontrolle unterminieren die strategische Stabilität

SWP-Aktuell 2020/A 34, 07.05.2020, 8 Seiten

doi:10.18449/2020A34

Forschungsgebiete

Die regelbasierte internationale Ordnung ist in der Krise und mit ihr die nukleare Ordnung, die im Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen (NVV), im umfas­senden Testverbotsvertrag (CTBT) und in den bilateralen Rüstungskontrollverträgen zwischen den USA und Russland zur Begrenzung strategischer Waffensysteme ver­ankert ist. Während die nukleare und konventionelle Rüstungskontrolle erodiert, beschleunigt sich der qualitative Rüstungswettlauf. Neue Waffensysteme und Szena­rien nuklearer Kriegsführung stellen die strategische Stabilität in Frage, die im New-START-Vertrag definiert wurde. Seine Verlängerung ist dringlich, um eine weitere Destabilisierung zu verhindern und Zeit für Neuverhandlungen zu gewinnen. Ein Folge­abkommen muss neue technologische und politische Entwicklungen berücksichtigen, um das strategische Gleichgewicht zu sichern und die Glaubwürdigkeit des Abrüstungsgebots des NVV zu erhalten. Der Sitz im Sicherheitsrat bietet Deutschland die Chance, dazu die Initiative zu ergreifen.

Der Abbau der konventionellen und nukle­aren Rüstungskontrolle, der schon seit 2002 zu beobachten ist, hat sich beschleunigt. Im Au­gust 2019 ist der Vertrag zwischen den USA, Russland und weiteren Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion über die Ab­schaffung landgestützter Mittelstrecken­systeme (INF, 1987) außer Kraft getreten. Bereits 2002 hatten sich die USA aus dem bilateralen Vertrag über die Begrenzung der Raketenabwehr (ABM, 1972) zurückgezogen. Nun ist der New-START-Vertrag von 2010 über die Begrenzung strategischer Nuklear­waffen bedroht. Seine Laufzeit endet in neun Monaten. Sie ließe sich verlängern, doch Washington zeigt sich skeptisch. Der multilaterale Vertrag über Konven­tio­nelle Streitkräfte in Europa (KSE, 1990) ist un­wirk­sam, sein Anpassungsabkommen (AKSE, 1999) nicht in Kraft getreten. Zudem ist das Atomabkommen der fünf ständigen Sicher­heitsratsmitglieder und Deutschlands mit dem Iran (JCPOA) in Gefahr, und die Trump-Administration erwägt nun auch, den multilateralen Ver­trag über den Offe­nen Himmel (Open Skies) zu kündigen.

Diese Entwicklung demonstriert, dass die Bereitschaft zur präventiven Risiko­einhegung deutlich abnimmt. Somit fehlen Transparenz, Begrenzungen und Verifi­kation militärischer Potentiale und Aktivi­täten als Stabilitätsanker in der Krise.

New-START-Vertrag, ABM-Vertrag und strategisches Gleichgewicht

Am 5. Februar 2021 endet die zehnjährige Laufzeit des New-START-Vertrags. Er be­grenzt das strategische Kernwaffenpotential der USA und Russlands auf je 1 550 Spreng­köpfe auf je 700 dislozierten Trägersystemen mit interkontinentaler Reichweite. Hinzu kommen 100 Trägersysteme als stra­tegische Reserve. Sie können auch für konventionelle Ein­sätze verwendet werden. Allerdings gelten die Obergrenzen nur für jene Spreng­köpfe, die für die aktiven Trägersysteme gefechtsbereit gehalten wer­den. Dabei wer­den strategische Bomber nur wie ein einzi­ger Sprengkopf gezählt, ob­wohl sie bis zu 20 Schwerkraftbomben oder Marschflugkörper mitführen können. Nicht erfasst werden die nicht gefechts­bereiten Reserve- und Lagerbestände, außer Dienst gestellte Sprengköpfe und solche, die für substrategische Systeme vorgesehen sind.

Die Gesamtzahlen an Kernwaffen betrugen im Juni 2019 um die 6 490 in den russi­schen und etwa 6 185 in den amerikanischen Beständen. Im September 2019 hatten die USA 1 376 Sprengköpfe auf 668 strategischen Trägersystemen (800 mit Reserve) disloziert, Russland 1 426 Sprengköpfe auf 513 Träger­systemen (757 mit Reserve).

Falls die beiden dominierenden Atommächte, die gemeinsam über etwa 91% der rund 14 000 Kernwaffen weltweit verfügen, sich bis zum Februar 2021 nicht auf eine Ver­längerung einigen, wäre auch der New-START-Vertrag Geschichte. Erstmals seit 1972 wären dann strategische Nuklear­waffen weder vertragsrechtlichen Begrenzungen noch der Verifikation unterworfen.

Schon 2001 hatte die Bush-Administra­tion den Vertrag über die Begrenzung stra­tegischer Abwehrraketen (ABM-Vertrag) gekündigt; seit 2002 ist er außer Kraft. Er sollte verhindern, dass eine erweiterte Rake­tenabwehr die strategische Zweitschlag­fähigkeit unterminiert, auf der die gegen­seitige nukleare Abschreckung beruht. Die Sorge vor einer erweiterten strategischen Raketenabwehr der USA, aber auch vor der Einführung präziser konven­tioneller Angriffswaffen mit globaler strate­gischer Wirkung (prompt global strike) hat russische und chinesische Rüstungsprojekte befeuert. Deren erklärtes Ziel ist es, die Zweitschlagfähigkeit abzusichern. So hat der russische Präsident Putin in seiner Jahresan­sprache am 1. März 2018 betont, die neuentwickelten russischen Systeme Avangard, Burevestnik, Poseidon und andere seien in der Lage, einen erweiterten US-Raketenabwehrgürtel zu durchdringen oder zu umgehen.

Aber auch die Einführung von kleineren Kernwaffen mit geringerer Sprengkraft (low yield), Hyperschallgleitern, Antisatelliten­waffen, moderner U-Boot-Abwehr und Cyber­angriffspotentialen stellt die New-START-Definition von stra­tegischer Stabilität in Frage. In der Nuclear Posture Review von 2018 haben die USA erklärt, dass sie in diesem Rüstungs­wettlauf einen entscheidenden technolo­gischen Vorsprung wahren wollen. Mehr Präzision und Geschwindigkeit, ver­bunden mit der Störung von Auf­klärung, Frühwarnung, Kommunika­tion und Füh­rung redu­zieren die Stabilität in der Krise. Dazu trägt auch bei, dass die Rolle von Atom­waffen in den Militärdoktri­nen wieder auf­gewertet wird und die nukleare Rhetorik sich verschärft. Optionen selek­tiver, regio­nal begrenzter Nukleareinsätze werden nicht mehr ausgeschlossen.

Daher ist die strategisch-nukleare Rüstungskontrolle dringend zu erneuern. Zu­nächst kommt es darauf an, den New-START-Vertrag zu verlängern, um Zeit für das Aus­handeln eines Folgevertrags zu gewinnen. Darin wird der Begriff strategische Stabilität neu definiert und der Regulierungsrahmen erweitert werden müssen. Wegen geo­strate­gischer Asymmetrien sollte er zudem Flexi­bilität für die Wahl strategischer und sub­strategischer Waffen gewähren. All das ist in der restlichen Vertragslaufzeit nicht zu bewältigen.

Eine Verlängerung um maximal fünf Jahre ist nach Artikel XIV des Vertrags mög­lich. Dazu bedarf es administrativer Akte der Präsidenten, in Russland auch der Befas­sung der Duma und des Föderationsrats. Deren Plazet kann zwar als sicher gelten, da sich der Kreml bereits für die Verlängerung ausgesprochen hat, aber auch dieses Ver­fahren kann Monate dauern. Daher ist ein positives Signal aus Washington dringlich.

Washington befürchtet jedoch Vorteile für Moskau, sollte der Vertrag verlängert werden, ohne neue russische Waffen ein­zubeziehen. Zudem erwägt es, den New-START-Vertrag nur dann fortzusetzen, wenn China sich an ihm beteilige. Diese Position ist gegenwärtig unrealistisch. Mit rund 290 Atomsprengköpfen verfügt das Land über ein Potential ähnlich dem Frankreichs (300) und Groß­britanniens (200). Gleiches gilt für Chinas Interkontinentalwaffen. Peking lehnt die Multilateralisierung von New START ab, solange die Kernwaffenarsenale der beiden atomaren Supermächte das eigene um je­weils das Zwanzigfache übersteigen. Diese Position unterscheidet sich nicht wesentlich von der Haltung Frankreichs und Großbritanniens. Keinesfalls würde die Restlaufzeit von neun Monaten ausreichen, um sich auf eine substantielle Agenda für multilaterale Verhandlungen zu einigen, geschweige denn, diese erfolgreich abzuschließen.

Allerdings sollte jetzt das Fundament dafür gelegt werden, dass nach weiteren Reduzierungen bei US-amerikanischen und russischen Kernwaffen auch die ande­ren Kernwaffenstaaten an multilateralen Gesprä­chen über strategische Stabilität teilnehmen. Dies betrifft die im NVV anerkannten Kern­waffenstaa­ten ebenso wie jene außer­halb des NVV, wie Indien, Paki­stan und Israel. In solchen Unterredungen könnten Nuklear­doktrinen und Abschreckungskonzepte besprochen sowie Transparenzmaßnah­men vereinbart wer­den. Zudem könnte man Leit­linien erör­tern, um zu klären, unter welchen Bedin­gun­gen und wann sich die übri­gen Kernwaffenstaaten an einem Nachfolge­ver­trag beteiligen. Die Initiative dazu ließe sich im Sicherheitsrat und im Ersten Aus­schuss der VN-Generalversamm­lung ergreifen.

Mittelstreckenwaffen, INF-Vertrag und regionale Gleichgewichte

Mit dem Ende des Vertrags über nuklear­fähige landgestützte Mittestreckenwaffen (INF-Vertrag) im August 2019 haben beide Seiten hohe Risiken in Kauf genommen. Der Ver­trag von 1987 untersagte Produk­tion, Besitz, Stationierung und Test von land­gestützten ballistischen Raketen und Marschflugkörpern mit Reich­weiten zwi­schen 500 und 5 500 km. Er beendete das Wettrüsten in dieser Waffenkategorie, das seit den späten 1970er Jahren die Sicher­heit Europas bedrohte, aus russischer Sicht aber auch eine Komponente enthielt, die sich gegen China richtete.

Seit 2014 haben die USA Russland öffentlich vorgeworfen, mit dem Test und der Ein­führung von Marschflugkörpern des Typs 9M729 (im Nato-Sprachgebrauch SSC-8) den INF-Ver­trag zu brechen, weil die Waffe mit einer Reich­weite von über 2 000 km im ver­botenen Reichweitenspektrum liege. Die Beweis­führung beruht auf Erkenntnissen nationaler Nachrichtengewinnung der USA, die sie den Alliierten im Herbst 2018 zur Kenntnis gaben. Eine kooperative Verifikation fand nicht statt­. Das INF-Verifika­tions­regime war im Mai 2001 vertragsgemäß beendet worden, seine Wiedereinführung ist poli­tisch gescheitert. Die USA kündigten den Vertrag am 2. Februar 2019 mit Billi­gung der Alliierten, worauf Russland seiner­seits mit Kündigung rea­gierte. Seit dem 2. August 2019 ist er außer Kraft.

Seit Russland 2018/19 SSC-8-Marsch­­flugkörper stationiert hat und die USA im Herbst 2018 ihre Kündigungsabsicht be­kanntgaben, diskutiert die Allianz über die Gefahr »nuklearer Abkoppelung« und über Gegenmaßnahmen. Nur 16 Tage nach dem Ende des INF-Vertrags testeten die USA einen landbeweglichen Marschflugkörper im verbotenen Reich­weitenspektrum. Dazu nutzten sie das Mk-41 Vertical Launch System, das auf Aegis-Schiffen für den Start von see­gestützten Marschflugkörpern (SLCM) des Typs Tomahawk oder Abwehrraketen vom Typ SM-3 in Dienst gestellt ist. In einer modi­fizierten Version wird dieses Startgerät auch für Aegis-ashore-Systeme zur Raketen­abwehr in Europa verwendet. Russland wertet dies seit Jahren als Vertragsbruch, da der INF-Vertrag auch bodengestützte Start­geräte für Mittelstreckensysteme ver­bietet. Es wurde versäumt, die gegenseitigen Vor­würfe reziprok zu verifizie­ren und, falls nötig, über technische Zusatzprotokolle ver­tragskonforme Standardversionen für neue Systeme zu vereinbaren. Damit wurde die Chance vertan, die Krise koope­rativ und gesichtswahrend beizulegen.

Zwar weisen Erklärungen der US-Admini­stration über künftige Stationierungsorte darauf hin, dass sie sich auf China konzen­triert, doch hat der Nato-Generalsekretär die Stationierung konventioneller INF in Europa nicht ausgeschlossen. Nun kommt es darauf an, einen neuen regionalen Statio­nierungswettlauf bei landgestützten Mittel­streckenwaffen zu verhindern. Geprüft wer­den sollte, unter welchen Bedingungen die russischen und französischen Initiativen zu einem Moratorium dazu beitragen können. Solange nicht ko­operativ vereinbart und verifiziert werden kann, dass das Standarddesign der SSC-8-Syste­me die 500-km-Ver­tragsgrenze nicht überschreitet, sollte ihr verifizierbarer Rückzug hinter den Ural angestrebt werden. Dann könnten sich die Europäer an der Verifikation durch Vor-Ort-Inspektionen und Beobachtungsflüge gemäß dem Vertrag über den Offenen Himmel beteiligen. Aller­dings will das Weiße Haus auch diesen Vertrag kündigen.

Die Diskussion zur strategischen Balance in Europa darf aber auch die Existenz see- und luftgestützter Marschflugkörper (SLCM, ALCM) nicht außer Acht lassen, die ver­gleichbare Fähigkeiten besitzen, aber keiner vertragsrechtlichen Begrenzung unterliegen. Seit dreißig Jahren hat Washington diese Sys­teme wiederholt in konventioneller Rolle eingesetzt, vor allem im Nahen Osten. In ihrer Nuclear Posture Review von 2018 kündig­ten die USA an, SLCM wieder mit nuklearen Gefechtsköpfen auszustatten. Dem US-Hauptquartier in Europa sind vier Aegis-Zer­störer zugeteilt, die SLCM Tomahawk mit einer Reichweite von 2 200 km mitführen. Sie patrouillieren regelmäßig in den euro­päischen Randmeeren und können von dort aus den europäischen Teil Russlands weit­gehend abdecken.

Amerikanische Aegis-Zerstörer attackierten 2017 und 2018 vom Mittelmeer aus syrische Ziele präzise mit SLCM und stellten so deren Leistungsfähigkeit unter Beweis. An diesen Angriffen beteiligten sich zu­letzt auch französische See­streitkräfte mit SLCM und britische Luft­streitkräfte mit ALCM. Meh­re­re Alliierte, darunter Deutschland, Polen und Finnland, verfügen ebenfalls über weit­reichende (konventionelle) Ab­standswaffen, die von Kampfflugzeugen abgefeuert wer­den können.

Russland begann seine Intervention in Syrien im Oktober 2015 gleichfalls mit dem Ein­satz von SLCM, nämlich mit zwei Dutzend Kalibr, die von der Kaspischen Flottille gestartet wurden. Mit diesem präzi­sen Einsatz seegestützter Marschflugkörper über eine Entfernung von 1 600 km hat es bewiesen, dass es vom Kaspischen Meer aus in der Lage ist, die angrenzende südliche Peripherie mit Mittelstreckenwaffen abzu­decken, ohne den INF-Vertrag zu brechen. Die russischen SLCM Kalibr und ALCM Kinshal können konventionell oder nuklear bestückt werden.

China, das wie Frankreich über knapp 300 Kernsprengköpfe verfügt, besitzt zwar etwa 1 600 landgestützte Mittelstrecken­raketen, vorrangig für konventionelle Ein­­sätze. Das Kerngebiet der USA können sie aber nicht erreichen. Gleichwohl erhöhen sie das Risiko für alliierte Stützpunkte an der Peripherie des Ost- und des Südchinesischen Meeres und beeinflussen so die regio­nale Kräftebalance. Sie sollen dazu beitra­gen, im Falle eines Konflikts um Taiwan die Meereszugänge gegen eine Intervention von US-Flugzeugträgergruppen abzuriegeln (A2/AD-Strategie). Für eine operative Bewer­tung des regio­nalen Gleichgewichts können allerdings see- und luftgestützte Waffen­systeme nicht außer Betracht bleiben, auf denen die erweiterte Abschreckung der USA in der Region beruht.

Die öffentlichen Aufforderungen Präsident Trumps und seiner Sicherheitsberater an China, sich an einer INF-Regelung zu be­teiligen, haben weder die regionalen Kräfte­dispositive noch die globale Unterlegenheit der chinesischen Kernwaffenarsenale be­rücksichtigt. Daher lehnt Peking es ab, sich in eine INF-Regelung oder den New-START-Vertrag einbinden zu lassen. Ein ernsthaftes Verhandlungsangebot liege nicht vor.

Die Debatte über Mittelstreckenwaffen zeigt, dass künftige Verträge über strategische Stabilität zwar bei den globalen stra­tegischen Fähigkeiten der USA und Russ­lands ansetzen müssen, aber auch regionale Kontexte, geostrategische Dis­paritäten und neue Waffensysteme einzukal­kulieren sind. Ein neuer New-START-Vertrag könnte diesen Zusammenhang kon­zeptionell erfassen und unterhalb künftiger Gesamtbegrenzungen Flexibilität für die Zusammensetzung ein­zelner Kompo­nenten einräumen.

Substrategische Kernwaffen

Künftige Rüstungskontrollvereinbarungen sollten auch substrategische Kernwaffen und Dual-use-Einsatzsysteme einschließen, die nicht in den INF-Definitionsrahmen fallen und keinen Begrenzungen oder Transparenzregimen unterliegen. Dabei könnten die Erklärungen der Präsidenten der USA und Russlands von 1991/92 (Presi­dential Nuclear Initiatives) wieder auf­gegriffen werden. Sie hatten einen freiwilli­gen und deutlichen Abbau dieser Systeme sowie ihren weitgehenden Rückzug aus europäischen Stationierungsländern zur Folge.

Es handelte sich dabei um Artillerie­granaten, Luftabwehrraketen, landbeweg­liche taktische ballistische Raketen mit einer Reichweite unterhalb 500 km sowie um Abstandswaffen und Schwerkraftbomben, die von Dual-capable-Kampfflugzeugen (DCA) aus verwendet werden können. Auch heute noch verfügen vorwärts stationierte DCA der USA und – im Rahmen der nukle­aren Teilhabe – DCA von vier Nato-Part­nern in Europa über die Fähigkeit, US-Frei­fallbomben einzusetzen. Die Voraussetzung dafür wäre, dass der Präsident der USA in einem bewaffneten Konflikt zur Verteidigung des Bündnis­gebietes auf Vorschlag von Nato-Gremien ihre Freigabe anordnet. Neben den F-16-Jagd­bombern Belgiens und der Niederlande kommen dafür auch deut­sche und italieni­sche Tornado-Kampfflug­zeuge in Betracht.

Die in Europa gelagerten etwa 150 ameri­kanischen Freifallbomben des Typs B61-3/4 werden derzeit auf die modernere Version B61-12 umgerüstet. Sie verfügen jetzt neben einer variablen Sprengkraft (0,3 bis 50 Kilo­tonnen) auch über eine Lenkzusatzausstattung, die eine mehrfach erhöhte Abwurfpräzision und eine begrenzte Abstands­fähig­keit ermöglicht. Mit der Einführung des US-Stealth-Kampfbombers F-35, der die gegne­rische Luftabwehr unerkannt über­winden soll, wird sich die Eindring­fähigkeit der Nato-Kampfbomber weiter verbessern. Eine deutsche Entscheidung über ein nuklear­fähiges Tornado-Nachfolgemodell steht noch aus. Das geplante deutsch-fran­zösisch-spani­sche Future Air Combat System wird nicht vor 2040 zur Verfügung stehen. Als Interims­lösung schlägt das Bundesministerium der Verteidigung vor, ameri­kanische F-18-Kampfflugzeuge zu kaufen.

Bei der Schwerkraftbombe B61-12 handelt es sich nicht um eine spezifische sub­strategische Waffe; sie gehört künftig auch zur Standardbewaffnung strategischer Bom­ber. Die USA verfügen über mehrere Hun­dert B61-Bomben. Für SLCM beschaffen sie neue Kernsprengköpfe. Dennoch geht die Nato davon aus, dass Russlands 2 000 »takti­sche« Kernwaffen den substrategischen Beständen der Allianz in Europa quantitativ deutlich überlegen sind, zumal in den euro­päischen Nato-Staaten keine landbeweglichen Kurzstreckensysteme wie der russische Iskander-Marschflug­körper in Dienst gestellt sind. Seit 2010 hat die Nato daher eine mögliche Reduzierung eigener substrategischer Bestände davon abhängig gemacht, dass die russische Überlegenheit in dieser Kategorie berücksichtigt wird und dass Russland seine taktischen Kernwaffen aus der geographischen Schlagdistanz zu den europäischen Verbündeten wegverlegt.

Dagegen argumentiert Russland, seine etwa 1 820 taktischen Kernwaffen seien zentral gelagert und verteilten sich auf die Luft- und Raketenabwehr (390), maritime Komponenten (820), die Luftstreitkräfte (530) und landbeweg­liche Kurzstrecken­systeme (rund 80). Nur zwei Drittel seien in Europa stationiert, ein Drittel in Asien. Zudem müs­se Russland 500 französische und britische Kernwaffen mitberechnen, die keiner Rüstungskontrolle unterliegen.

Die Diskussion über die politische Bedeu­tung substrategischer Kernwaffen und eine Senkung der Einsatzschwellen lässt sich nicht von der Analyse konventioneller Ver­teidigungs­optionen trennen. Hierbei fallen Wahrnehmungen asymmetrischer Bedro­hungen ins Auge. Wegen der geographischen Nähe russischer Streit­kräfte sorgt sich die Nato um die subregionale Kräftebalance im Baltikum. Moskau hingegen rechnet mit der globalen konventionellen Überlegen­heit der Nato und befürchtet, auch den technologischen Rüstungswettlauf um die strategische Balance zu verlieren.

Zwar weisen beide Seiten darauf hin, dass der Einsatz von Kernwaffen nur unter extremen und äußerst unwahrscheinlichen Umständen denkbar wäre, etwa wenn das nationale Überleben bedroht sei. Sowohl Washington als auch Moskau argwöhnen aber, dass der Kon­trahent in einem regiona­len Konflikt Low-yield-Kernwaffen selektiv und zu einem frühen Zeitpunkt einsetzen könnte, um konventionelle Schwächen aus­zugleichen und die Konfliktbeendigung zu erzwingen, sobald die strategischen Ziele erreicht sind. Die Einführung von Low-yield-Sprengköpfen in den USA und Russland nährt diese Befürchtung.

Zweck des Vertrags über Konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE-Vertrag) von 1990 war es, konventionelle Angriffsoptionen zu eliminieren und so auch die mili­­tärische Notwendigkeit zum Einsatz von Nuklearwaffen zu reduzieren. Dazu verein­barten die Staaten der Nato und des da­ma­ligen Warschauer Paktes ein militärisches Gleichgewicht für Europa und seine Sub­regionen. Spätestens seit der Nato-Ost­erwei­terung von 1999 aber war das KSE-Gleich­gewichtsmodell überholt. Daher unter­zeich­neten die KSE-Vertragsstaaten im selben Jahr ein Anpassungsabkommen (AKSE). Es sollte die bisherige Blockbalance durch nationale und territoriale Begrenzun­gen für jeden Vertragsstaat ablösen, um destabilisierende subregionale Kräftekonzentrationen zu verhindern.

Infolge des Drucks der Bush-Admini­stra­tion auf die Bündnispartner trat der AKSE nicht in Kraft, während die Nato-Erweite­rung fortgesetzt wurde. Die balti­schen Staaten sind auch nach ihrem Beitritt zur Nato nicht in den Anwendungsbereich des KSE-Vertrags zurückgekehrt. Russland hat zwar 2004 den AKSE ratifiziert, aber Ende 2007 den überholten KSE-Ver­trag sus­pen­diert. Dieser entfaltet deshalb in der Nato-Russ­land-Kontaktzone keine stabi­lisierende Wirkung. Das Wiener Doku­ment der OSZE kann ihn nicht ersetzen, weil es offensiv­fähige Waffen nicht begrenzt und militärische Aktivitäten nur unzurei­chend erfasst.

Daher kommt es darauf an, die konven­tionelle Rüstungskontrolle in Europa zu erneuern und vor allem in der Nato-Russ­land-Kontaktzone ein Stabilitätsregime zu errichten, um destabilisierende Streitkräfte­konzen­trationen zu verhindern, militärische Aktivitäten frühzeitig zu erkennen und so das Risiko militärischer Offensiven zu reduzieren. Solche Stabilitätsverein­barungen könnten auf die Zurückhaltungsverpflichtungen der Nato-Russland-Grund­akte zurückgreifen. Eine militärische Ent­spannung in der Region könnte auch dazu beitragen, die Diskussion über die Senkung der Atomschwellen zu beruhigen.

Vertrag über die Nichtverbreitung von Nuklearwaffen (NVV-Vertrag)

Die wachsende Bedeutung der nuklearen Abschreckung, die Wiederaufnahme des nuklearen Rüstungswettlaufs und die Erosion der Rüstungskontrolle werden die NVV-Überprüfungs­konferenz negativ beeinflussen. Sie wurde wegen der Corona-Krise um ein Jahr auf April 2021 verschoben. Dort dürfte die bisher gezeig­te Einigkeit der fünf anerkannten Kern­waffenstaaten gegenseitigen Schuldzuweisungen zum Opfer fallen. Das in den USA erwogene Vor­gehen, die Atomwaffenpolitik der ständigen Mitglieder im Sicherheitsrat (P5) nach den Kate­gorien »verantwortungsvoll« und »ver­antwortungslos« zu unterscheiden, wird die Mehrzahl der Nichtkernwaffenstaaten nicht überzeugen. Zu befürchten ist viel­mehr, dass sich ihre Spaltung in zwei Lager ver­tieft. Das eine Lager wird seine Sicherheit auf die erweiterte Abschreckung durch die USA stützen, das andere, größere bezweifelt den politischen Willen der P5, die Abrüstungsverpflichtungen nach Artikel VI des NVV einzuhalten, und will den Ver­trag über das Verbot von Nuklearwaffen (TPNW) von 2017 in Kraft setzen.

Die Bundesregierung steht dem TPNW skeptisch gegenüber, weil er keine reali­sti­schen Schritte zur Reduzierung von Kern­waffen vorsehe und die NVV-Staaten­ spalte. Der Verbotsvertrag ächtet nicht nur den Einsatz und die Weitergabe von Atomwaffen, sondern auch ihren Besitz, ihre Produk­tion und ihre Lagerung. Er untersagt die Zusammenarbeit mit Kernwaffenstaaten und diskriminiert somit sie und ihre Ver­bündeten. Ausdrücklich verbietet er die nukleare Teilhabe und die Mitgliedschaft in einem Bündnis, das Nuklearwaffen als vor­läufig unverzicht­baren Teil seiner kollek­tiven Sicherheitsstrategie definiert.

Gleichwohl versucht Deutschland, positive Signale zu setzen. Der Ansatz, mit »kleinen Schritten« die Voraussetzungen für nuk­leare Abrüstung, etwa die Verifikation, zu erörtern, soll Brücken bilden, einen Minimalkonsens ermöglichen und so die Einheit der NVV-Staaten wahren. Mit dieser Zielsetzung versuchen mehrere Nichtkernwaffenstaaten, die sich inner- und außerhalb nuklearer Bündnisgarantien positionieren, realisierbare Schritte zu defi­nieren, um künftig weitere Abrüstungsmaßnahmen zu ermöglichen, etwa in der Non-Pro­liferation and Disarmament Initiative (NPDI).

Die 16 Mitgliedstaaten der Stockholm-Initiative haben am 25. Februar 2020 in Berlin eine Agenda aus Anlass des 50-jäh­rigen Bestehens des NVV verabschiedet, um den NVV-Prozess positiv zu gestalten.

Von den USA ins Leben gerufen wurde die International Partnership for Nuclear Dis­armament Verification (IPNDV). Sie erörtert Verifikationsverfahren für den gesamten Kernwaffenkreislauf, von der Produktion von Spaltmaterial über Bau, Mon­tage, Lage­rung und Stationierung von Kernwaffen bis zu Demontage, Trennung der Komponenten, Zerstörung und Ent­sorgung nuklearen Abfalls. 2019 fand in Deutschland eine Übung zur Verifikation der Zerstörung eines Atomsprengkopfes statt. Frankreich hat diese Probe maßgeblich mitgestaltet.

Neben der Diskussion über die Erprobung von Verifikationsverfahren geht es darum, Fortschritte bei der Umsetzung der Ver­pflichtungen zu erzielen, die in den NVV-Überprüfungskonferenzen 2000 und 2010 (64-Punkte-Aktionsplan) vereinbart wurden. Sie umfassen

  • den weiteren Abbau der Atomwaffen,

  • die Transparenz der Kernwaffenarsenale,

  • den Dialog über Nukleardoktrinen und die Verringerung des Gewichts von Atomwaffen in den Militärstrategien,

  • die Verhinderung von Atomkriegen und die Risikoreduktion durch niedrigere Bereitschaftsgrade von Atomstreitkräften und bessere Krisenkommunikation,

  • Verhandlungen über ein Produktionsverbot für waffenfähiges Spaltmaterial (FMCT),

  • die Achtung des Teststoppmoratoriums und das Inkrafttreten des Vertrags über das umfassende Verbot von Atomtests (CTBT),

  • die Stärkung kernwaffenfreier Zonen (KWFZ) und negativer Sicherheitsgarantien (NSA),

  • die Einrichtung einer massenvernichtungswaffenfreien Zone im Nahen Osten,

  • die Stärkung von multilateralen Veri­fikationsmechanismen und Sicherungsvereinbarungen mit der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO) und

  • die Universalisierung des NVV.

Schon ein Bekenntnis der Vertrags­staaten zu diesen Vereinbarungen und ein Dialog über Kernwaffendoktrinen, den die P5 angeboten haben, wären ein bescheidener Erfolg. Überzeugender allerdings wären kon­krete Schritte, wie die Verlängerung des New-START-Vertrags, ein INF-Moratorium oder die Inkraft­setzung des Vertrags über das umfassende Verbot von Atomtests.

Die wachsenden Spannungen um das nordkoreanische Atomprogramm und die verschärfte Auseinandersetzung zwischen den USA und dem Iran weisen jedoch in eine andere Richtung. Der Rück­zug der USA aus dem gemeinsamen und umfassenden Aktionsprogramm (JCPOA), das den Iran vom Bau einer Atombombe abhält, und ihre Politik des »maximalen Drucks« haben eine weitere Eskalation am Golf hervorgerufen. Washingtons Drohung mit Sekundär­sanktionen gegen Verbündete hat auch das transatlantische Verhältnis beschädigt.

Die iranische Führung hat erklärt, sie fühle sich nicht mehr an die Verpflichtungen des JCPOA gebunden, da die USA nicht zur Vertragstreue zurückgekehrt seien. Zudem seien die Europäer (E3) unfähig, die amerikanischen Wirtschaftssanktionen zu umgehen. Die Schwelle für die Urananreicherung von 3,67%, welche die Produktion waffenfähigen Materials verhindern soll, hat Teheran auf 4,5% angehoben. Dennoch hat es die Über­wachung seiner Atomanlagen durch die IAEO bisher nicht eingeschränkt. Ob die Auslösung des Schlichtungsmechanismus durch die E3 zur Deeskalation bei­tragen wird, bleibt fraglich. Sollte der Vor­gang schließlich dem Sicher­heitsrat vor­gelegt werden, wäre das Ende des JCPOA besiegelt und die Gefahr einer weiteren Eskalation wüchse. Eine essentielle Aufgabe bleibt daher, den Handel mit dem Iran wieder in Gang zu setzen, auch wenn die E3 die regio­nale Rolle des Landes kritisieren.

Schlussfolgerungen

Die aktuellen Krisen sollten nicht von der Dringlichkeit der nuklearen Abrüstung ablenken. Für die Abrüstungs­verpflichtung nach Artikel VI NVV gibt es keine Bedingung, die da lautete, zuerst müssten alle Konflikte bereinigt werden und bis dahin habe die Sicherheit einer Staatenminderheit Vorrang vor der Sicher­heit der NVV-Staatenmehr­heit. Zwar muss eine Spaltung vermieden werden, doch darf der »Ansatz der kleinen Schritte« nicht als Vorwand herhalten, um effektive Abrüstung weiter zu konditionieren, zu verzögern oder gar zu verhindern. Die Erneuerung der Rüstungskontrolle und substantielle Abrüstungsschritte sind dringend geboten. Andernfalls dürfte die Rüstungskontrollarchitektur weiter erodieren, der NVV ernsthaften Schaden nehmen und die Instabilität in Krisen wachsen.

Um dies zu verhindern, bleibt die Bundesregierung sowohl in einer politisch moderierenden als auch in einer konzeptio­nellen Rolle gefordert. Ihr politisches Ge­wicht sollte sie nachdrück­lich und gemein­sam mit europäischen Partnern in bilateralen Kon­sultationen, im Bündnisrahmen und im NVV-Kontext einbringen. Der deut­sche Sitz im Sicherheitsrat bietet Gelegenheit, die Initiative zu ergreifen. Es geht nun darum,

  • den New-START-Vertrag zu verlängern,

  • Verhandlungen über einen Nachfolgevertrag zu beginnen, der auch neue militärische Fähigkeiten erfasst,

  • dazu Gespräche über die künftige strate­gische Stabilität zu initiieren und rele­vante Akteure einzubeziehen,

  • den militärischen Fachdialog über Ab­schreckungsdoktrinen im Nato-Russland-Rat wiederaufzunehmen,

  • dabei auch die Bedingungen zu erörtern, unter denen ein Stationierungswettlauf mit landgestützten Mittelstreckensystemen in Europa verhindert werden kann,

  • und durch ein verifizierbares Stabilitätsregime in den Nato-Russland-Kontakt­zonen zur Deeskalation beizutragen.

Deutungen, nach denen regional be­grenzte Kriege mit Low-yield-Waffen denk­bar seien, dürfen in den Militärdoktrinen und Streitkräftedispositiven keinen Platz haben. Ein erneutes Bekenntnis zum gemeinsamen Statement der Präsidenten Gorbatschow und Reagan, dass nukle­are Kriege nicht gewonnen werden können und niemals geführt werden dürfen, wäre ein wichtiges politisches Signal.

Wolfgang Richter ist Wissenschaftler in der Forschungs­gruppe Sicherheitspolitik.

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2020

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ISSN 1611-6364