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Europäische Verteidigungspolitik – Dis­kurse in und über Polen und Frankreich

Think-Tank-Publikationen 2017 / 2018

SWP-Zeitschriftenschau 2019/ZS 01, 24.01.2019, 8 Seiten

doi:10.18449/2019ZS01

Forschungsgebiete

Im Jahr 2017 haben sich die Außen- und Verteidigungsministerinnen und -minister fast aller EU-Staaten zu einer Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit (PESCO) im Bereich der Verteidigungspolitik der Europäischen Union entschlossen. Die Diskus­sionen, die in Think-Tanks der Mitgliedstaaten über diese Initiative geführt werden, zeigen, dass die Erwar­tungen an eine europäische Verteidigungs­architektur weit auseinander­gehen und ganz unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt werden. Dies gilt vor allem für Polen und Frankreich. In Polen wird europäische Verteidigungspolitik in erster Linie als eine Form der kollektiven Landesverteidigung gegenüber Russland verstanden, die sich in den Nato-Rahmen einfügen muss. Für Frankreich hingegen ergeben sich Risiken für die eigene und die europäische Sicher­heit primär aus Rich­tung der südlichen Nachbarschaft. Deswegen legt Paris besonderen Wert auf den Auf­bau von militärischen Interventionskapazitäten. Diese unterschiedlichen Präferenzen der zwei größten und wichtigsten Nachbarstaaten Deutschlands spiegeln sich deut­lich in wissenschaftlichen Analysen und Kommentaren europäischer Think-Tanks zu Fragen der europäischen Rüstungspolitik und der weiteren Integration der europäischen Verteidigungspolitik wider.

Ein Blick über die Debatten, die in europäi­schen Think-Tank-Publikationen über die gemeinsame Verteidigungs- und Sicherheits­politik geführt werden, zeigt, dass die Prä­ferenzen der EU-Mitgliedstaaten in diesem Politikfeld stark variieren. Die Unterschiede werden insbesondere dann deutlich sicht­bar, wenn über den Nutzen der neuen Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit (PESCO) im Bereich der Sicherheits- und Ver­teidigungspolitik räsoniert wird, zu der sich 25 EU-Mitgliedstaaten im Jahr 2017 bekannt haben. Im Rahmen der PESCO sol­len die beteiligten Staaten unter anderem »Verteidigungsfähigkeiten gemeinsam ent­wickeln, […] die operative Einsatzbereitschaft verbessern und den Beitrag ihrer Streitkräfte ausweiten«, wie es in der offi­ziellen Verlautbarung der EU heißt (Anm.: wissenschaftliche Einordnungen der PESCO und Kommentare zu dieser Initiative finden sich in den besprochenen und in den wei­terführenden Publikationen, die am Ende dieses Literaturüberblicks aufgeführt sind). Beson­ders klar treten die Differenzen in der Bewertung der PESCO zutage, wenn eine Auswahl von Think-Tank-Publikationen be­leuchtet wird, die seit 2017 erschienen sind und sich hauptsächlich mit der Haltung Frankreichs und Polens zu diesem Prozess befassen. Viele Analysen vor allem – aber nicht nur – aus diesen beiden Ländern nehmen direkt Bezug auf die divergierenden verteidigungspolitischen Interessen des jeweils anderen EU-Mitglieds.

Ziel dieser Zeitschriftenschau ist es, die in Bezug auf Polen und Frankreich unter­schiedlichen Problemwahrnehmungen, Interessen­beschreibungen und Handlungsempfehlungen in den Publikationen ein­ander gegenüberzustellen und in den euro­päischen Diskurs über Verteidigungspolitik einzuordnen. Die hier untersuchten Ver­öffentlichungen wurden nach zwei Krite­rien ausgewählt: Erstens wurden Analysen und Kommentare von Wissenschaftlerin­nen und Wissenschaftlern französischer und polnischer Think-Tanks herangezogen, die um Publikationen aus anderen EU-Mit­gliedstaaten ergänzt wurden, wodurch sich jeweils die Innen- und Außenperspektive auf die geführten Debatten erschließen lässt. Zweitens wurden solche Publikationen in die Auswahl aufgenommen, die die seit 2017 eingetretenen neuen Entwicklungen in der europäischen Verteidigungs­politik wissenschaftlich beleuchten. Dies schließt öffentlich zugängliche Policy-Briefs, Analysen und Kommentierungen von Wis­senschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus europäischen Think-Tanks mit ein. Im Zuge der folgenden Abschnitte zu den Dis­kursen, die sich auf Polen und Frankreich beziehen, wird auch auf EU-institutionelle Faktoren und auf Integrationsaspekte ein­gegangen sowie auf deren verteidigungs- und rüstungspolitische Dimension. Die meisten der hier besprochenen Beiträge haben sich mit diesen weitergehenden Themen befasst.

Polen: Das Nato-Bündnis als erste Priorität

In der polnischen Debatte wird ein distan­ziertes Verhältnis gegenüber einer zuneh­mend integrierten EU-Verteidigungspolitik erkennbar.

Justyna Gotkowska vom polnischen Centre for Eastern Studies (OSW) entdeckt in den jüngsten verteidigungspolitischen EU-Initiativen wie der PESCO kaum hilf­reiche Ansätze, die den europäischen In­tegra­tionsprozess wieder befördern könn­ten. PESCO sei keine angemessene Antwort der EU auf die neuen globalen und regio­nalen Heraus­forderungen in der Sicherheitspolitik. So trage PESCO den ungelösten strategischen Widerspruch zwischen den Präferenzen Deutschlands und Frankreichs in sich. Während Berlin in Verteidigungsfragen einen inklusiven und integrationspolitischen Ansatz verfolge, setze Frankreichs seine Prioritäten eher auf eine exklu­sive und militärisch effektive EU-Vertei­di­gungspolitik. Wenn sich die integrations­fördernden Erwartungen an PESCO nicht bewahrheiteten, sei eine weitere Fragmentierung Europas in diesem Politikfeld zu be­fürchten. Die Unterschiede in der strategischen Kultur der EU-Mitgliedstaaten könn­ten laut Gotkowska in der Folge sogar noch zunehmen, und dies insbesondere zwischen den Schlüsselakteuren innerhalb der Union, zu denen sie Frankreich, Deutschland und Polen zählt. Während Paris seine und Europas Sicherheitsinteressen eindeu­tig in Nordafrika bedroht sehe, richte sich das Hauptaugenmerk in Warschau auf die Sicherung der europäischen Ostflanke, die vom Baltikum über Polen bis nach Rumä­nien reicht. Die Autorin diagnostiziert eine Überfokussierung auf PESCO und eine schleichende Abkehr der EU vom transatlan­tischen Bündnis. Diese Entwicklung schwä­che die Glaubwürdigkeit des militärischen Abschreckungspotentials der Nato gegenüber Russland und sei ein Risiko für die Sicherheitsinteressen Polens. So sei die in europäischen Fachkreisen vielfach geführte Debatte über einen Rückzug der USA (dis­engagement) aus Europa und den Nato-Struk­turen, die sich vor allem an der Rhetorik von US-Präsident Trump orientiere, in Wahr­heit irreführend. Erst das Gerede über einen US-Rückzug, der eine intensivere europäische Verteidigungspolitik der westlichen EU-Mitgliedstaaten nötig mache, werde mög­licherweise einen tatsächlichen Rückzug der USA aus Europa auslösen. Deshalb stoße dieser Diskurs nicht nur in Polen, sondern auch in den Staaten entlang der Nato-Ost­flanke und in den übrigen Visegrád-Staaten (V4) – der Tschechischen Republik, Ungarn und der Slowakei – auf große Skepsis.

Marcin Terlikowski vom Polish Institute of International Affairs (PISM) blickt posi­tiver auf die europäische Sicherheits- und Verteidigungs­politik. Er betont die poli­tische Bedeutung von PESCO, kritisiert je­doch im selben Zuge die Ausgrenzung rüstungsindustriell schwächerer Staaten Zentral- und Osteuropas. Dadurch laufe die europäische Verteidigungs- und Rüstungspolitik Gefahr, zu einem elitären, westeuro­päischen Projekt zu werden. Er empfiehlt Warschau, stattdessen seinen Fokus auf die transatlantischen Beziehungen und die Nato zu legen und mit einer Teilnahme an PESCO die militärischen Kapazitätslücken Europas zu schlie­ßen. Für Polen sei es von elementarer strategischer Bedeutung, dass Doppelstrukturen zwischen der EU und der Nato vermieden werden, PESCO gleichzeitig inklusiv ausgerichtet bleibe und bindenden Charakter habe. Warschau solle deshalb auf eine enge Abstimmung von PESCO-Projek­ten mit Nato-Planungsprozessen drängen und die Möglichkeiten, die mit diesen Pro­jekten verbunden seien, wie bei­spielsweise im Bereich der militärischen Mobilität, nut­zen. Denn diese Planungen deckten sich mit dem Ziel der Nato, die Landes- und Bündnisverteidigung Polens im Dienste der polnischen Sicherheitsinteressen in Europa in komplementärer Weise auszubauen.

In einer Publikation für den European Council on Foreign Relations (ECFR) be­leuch­tet Marcin Zaborowski die polnischen In­teressen in Rüstungs- und Verteidigungs­fragen. Zaborowski identifiziert eine Reihe von Problemen, mit denen Warschau kon­frontiert sei und die einer Vertiefung der europäischen Integration in diesem Bereich entgegenwirkten: Die früheren polnischen Regierungen und auch die aktuelle hätten sich bei der Ausstattung der Streitkräfte des Landes seit Ende des Kalten Krieges beinahe ausschließlich auf die USA und auf US-amerikanische Rüs­tungsanbieter gestützt. Dies erkläre die im europäischen Vergleich nur schwache Integration der polnischen Rüs­tungsindustrie. Dies sei jedoch in einem Umfeld zunehmend als problematisch an­zuse­hen, in dem die europäische Sicherheits­architektur durch eine aggressive rus­sische Außenpolitik, durch einen unstet wir­kenden US-Bündnispartner und den nahenden Brexit vor große Herausforderun­gen gestellt werde. Zaborowski sieht die polnische Rüstungsindustrie zudem als zunehmend strukturell reformbedürftig an, da sie zu überwiegenden Teilen in staat­licher Hand sei und große Effizienz- und Kostenprobleme aufweise. Diese Defizite würden durch das Fehlen einer langfristigen Strategie Warschaus in Rüstungsfragen noch verstärkt. So gereiche die unhinterfragte Bevorzugung von US-Rüstungsanbie­tern den polnischen Interessen allzu oft zum Nachteil, da es keinen Wissenstransfer gegeben habe, von dem die polnische In­dustrie nachhaltig hätte profitieren kön­nen. Auch habe die polnische Regierung ihre Rüstungsaufträge bislang in der Regel ohne Rücksicht auf Fragen der Kompatibilität mit anderen EU-Partnern vergeben. Dies isoliere Polen auch innerhalb des von ihm präfe­rierten regionalen Rahmens, der V4-Grup­pe. Denn die anderen V4-Staaten hätten bereits durchaus von einem diversifizierten europäischen Rüs­tungsmarkt in vielfältiger Weise profitieren können. Eine stärkere Öffnung Warschaus gegenüber dem euro­päischen Rüstungsmarkt bedeute aber gleichzeitig ein Risiko für die staatlich dominierte heimische Rüstungsindustrie. Nichtsdestotrotz müsse die polnische Regie­rung die Chancen einer vertieften europäi­schen Verteidigungsintegration erkennen und nutzen. Ein größeres Engagement in Fragen der europäischen Verteidigungspoli­tik könnte für Polen laut Zabo­rowski auch gerade unter dem Aspekt von Vorteil sein, dass die EU Warschau derzeit in anderen Politikbereichen, vor allem in Fragen der Rechtstaatlichkeit und der innereuropäi­schen Solidarität, deutlich kritisiere.

Auch Karolina Muti vom italienischen Istituto Affari Internazionali (IAI) identifiziert Polen als das fehlende Glied in einer europäischen Verteidigungs- und Rüstungsstruktur. Muti konstatiert, dass Warschau sich vor allem als ein treuer transatlantischer Partner betrachte, der der Beziehung zur US-ameri­kanischen Schutzmacht und zur US-Rüs­tungsindustrie uneingeschränkte Priorität einräume. Für problematisch er­achtet Muti vor allem die wachsende Unzu­verlässigkeit der US-Seite, auf die Warschau ihrer Ansicht nach mit einer entschiedenen Annäherung an die EU und deren Mitgliedstaaten reagieren sollte. Polen werde von einer effektiven substantiellen Beteiligung an den verschiedenen PESCO-Projekten nicht nur materiell und finanziell profitieren, sondern auch auf EU-Ebene einen Zu­wachs an politischer Glaubwürdigkeit verbuchen können. Warschau werde dann eine aussichtsreiche Brückenfunktion ein­nehmen können zwischen den unterschiedlichen strategischen Interessen West- und Osteuropas. Eine Neuausrichtung auf seine EU-Partner biete Polen darüber hinaus die Chance, seine militärischen Ressourcen (Indus­trie und Rüstung) zu modernisieren. Die in Polen von vielen Seiten artikulierte Befürchtung, Initiativen wie PESCO könn­ten unerwünschte Doppelungen von Struk­turen hervorbringen, die schon im Rahmen der Nato bestehen, lässt Muti zwar gelten; die Autorin glaubt aber, dass diese Gefahr gerade durch eine breite und aktive Partizi­pation Warschaus gebannt werden könnte.

Frankreich: Reformambitionen innerhalb und außerhalb des EU‑Rahmens

Die Analysen von Think-Tanks, die sich mit den verteidigungs- und rüstungspolitischen Präferenzen und Wahrnehmungen Frank­reichs befassen, setzen sich zunächst mit den hochgesteckten europapolitischen Re­formambitionen des seit 2017 regierenden Staatspräsidenten Emmanuel Macron aus­einander. Schon dabei treten jedoch auch Widersprüche zutage, die in wissenschaft­lichen Publikationen benannt werden.

Pierre Haroche vom Pariser Institut de Recherche Stratégique et de l’École Militaire (IRSEM) arbeitet in einem Beitrag für einen Sammelband seines Instituts das »geostrategische Dilemma« heraus, dem die EU-Mit­glied­staaten seiner Meinung nach gegenüberstehen. Polen und Frankreich seien von unvereinbaren Bedrohungswahrnehmungen beherrscht: Polen sei gebannt von den Ängsten vor Russland an der europäischen Ostflanke, Frankreich richte seinen Blick dagegen ganz auf die Südflanke Europas, weil es einen zunehmenden Migrationsdruck aus Afrika fürchte. Beide europäische Staaten definierten nicht nur ihre natio­nalen Sicherheitsinteressen unterschiedlich, sondern hätten daraus auch vollkommen diverse Verteidigungspolitiken ab­geleitet. Weitere Faktoren, die die Unterschiede in den Sicherheitsinteressen von Polen und Frankreich verstärken und den europäischen Verteidigungsdiskurs nachhaltig beeinflussen, sind laut Haroche die Wahl Donald Trumps, eine striktere Fiskaldisziplin in der EU seit Beginn der Finanz- und Staatsschuldenkrise, die Gefahr durch den Terrorismus, die Migrationskrise, die aggres­sive Selbstbehauptung Russlands im inter­nationalen System und der bevorstehende Brexit. Doch genau in diesem Komplex von aktuel­len Sicherheitsrisiken sieht Haroche eine Gelegenheit für Fortschritte in der euro­päischen Verteidigungspolitik und eine gute Voraussetzung insbesondere für PESCO, als integratives Element zu wirken. Wenn die divergenten Interessen ausbalanciert und die damit einhergehenden unter­schiedlichen Prioritäten wechselseitig an­erkannt würden, die EU-Staaten also zu einer »trans­aktionalen Solidarität« fänden, könne das europäische geostrategische Di­lemma über­wunden werden. Die Bedin­gungen dafür seien auch dadurch gegeben, dass auf mili­tärischer Ebene unterschied­liche Fähigkeiten für Kriseneinsätze im Süden auf der einen und für die militärische Präsenz der Nato im Osten auf der anderen Seite gefordert seien. So könnten Frankreich und Polen als Antipoden des verteidigungspolitischen Gegensatzes aus­gleichend auf die europäischen Interessenkonflikte wirken und Führungsrollen ein­nehmen, um den Balanceakt zwischen Nato-Bündnistreue, den nationalen und den teils gegenläufigen Prioritäten auf europäi­scher Ebene erfolgreich zu bewältigen.

Jean-Dominique Giuliani, Vorsitzender der Fondation Robert Schuman, kommentiert in einem Policy-Paper des Forschungsinstituts im Mai 2018 die großen Erwartungen der verteidigungs- und sicherheitspolitischen Kreise in Paris an ein »powerful Europe«. Wer ein solches anstrebe, solle aber nicht nur die EU-Strukturen, sondern auch dezidiert militärische Formate außerhalb der EU-Institutionen in den Blick nehmen. Giuliani sieht in dem Be­schluss zu PESCO vor allem ein, wenn auch spätes »Erwachen« (awakening) Europas. Die deutsch-französischen Beziehungen, denen Giuliani in seinen Ausführungen einen großen Stel­lenwert zumisst, seien von entscheidender Bedeutung für die anstehenden Entwicklungen im Bereich der europäischen Vertei­digungs­politik. Wie der Autor ferner dar­legt, haben jedoch Kompromisse, die Deutschland wegen seiner Präferenz für einen möglichst inklusiven und integrativen Charakter von PESCO erzwungen hat, die französische Seite dazu bewegt, nach verteidigungspolitischen Koopera­tions­projekten auch außerhalb der EU-Struk­turen zu suchen: Die Euro­päische Interventionsinitiative (EI2), die Macron in seiner Sorbonne-Rede im Sep­tember 2017 an­kündigte, sei unter diesem Blickwinkel zu sehen. Durch die EI2 könne Frankreich seine Sicherheitsinteressen in der südlichen Nachbarschaft besser vertreten. Das EI2-Format eignet sich laut Giuliani darüber hinaus dazu, Großbritannien auch nach dem Brexit weiter in eine europäische Sicherheitsarchitektur einzubinden. Die unterschiedlichen Wahrnehmungen der Sicherheitslage und die disparate strategische Ausrichtung der Außen- und Sicherheits­politik in den EU-Mitgliedstaaten seien jedoch nach wie vor ein zentrales Problem. Das Zustandekommen einer im Sinne Frank­reichs unerlässlichen gemeinsamen »strate­gischen Kultur« in Europa werde da­durch weiter erschwert.

Barbara Kunz vom Pariser Institut Fran­çais des Relations Internationales (ifri) blickt in einem Beitrag für den German Marshall Fund (GMF) mit gemischten Erwartungen auf die europäische Verteidigungspolitik. Auch sie malt – wie Haroche und Giuliani – das Bild einer Krisenlandschaft, die mit den USA unter Trump, dem Brexit und der Migrationsdebatte den Hintergrund dar­stellt, vor dem die europäische Verteidigungspolitik nun Fortschritte erzielen muss. Kunz benennt zunächst jedoch drei Fakto­ren, die den dafür benötigten deutsch-fran­zösischen Motor gegenwärtig »zum Stot­tern« brächten: die Ost-Süd-Debatte, die Diskussion über die strategische Autonomie Europas und der Zustand der transatlantischen Beziehungen. Deutschland und Frank­reich verfolgten in allen Bereichen – trotz ähnlicher Bewertung – unterschiedliche Prioritäten. So scheue Frankreich nicht vor unilateralem Agieren zurück, falls keine europäische Handlungsoption zur Verfügung steht. Jedoch bemühe sich Paris meist, dieses Vorgehen im Nachhinein in multi­laterale, europäische Formate ein­zubetten. Die deutsche Herangehensweise sei dagegen weniger zielgerichtet und strategisch un­ambitioniert. Dies wiederum stoße auf fran­zösischer Seite in der Regel auf Unverständ­nis und Irritation. Schlussendlich aber, so Kunz, müssten sich die beiden treibenden Kräfte in der EU auf bilateraler Ebene eini­gen, um ein weiteres Auseinanderdriften innerhalb der Gemeinschaft zu vermeiden. Gleichzeitig bedürfe es indes auch einer intensiveren und erweiterten strategischen Diskussion darüber, wie mit der Nato und anderen Formaten außerhalb der EU-Struk­turen (u.a. die EI2) umgegangen werden soll und wie die jeweiligen nationalen Interessen und Prioritäten anerkannt werden könnten, um zu gewährleisten, dass das PESCO-Projekt gemeinsam und langfristig erfolgreich umgesetzt wird.

In einem ebenfalls vom GMF veröffentlichten Policy-Brief spricht Alice Pannier Frankreich eine wichtige Position als Mittler zu. Es sei an Frankreich, einerseits seine starken sicherheits- und verteidigungspoliti­schen Verbindungen mit Großbritannien verstärkt in die zukünftige europäische Sicherheitsarchitektur nach dem Brexit ein­zubringen; und andererseits müsse Paris EU-Initiativen in diesem Bereich gegenüber anderen uni- und bilateralen Projekten prio­risieren, da die EU nur so einen kohärenten und konsistenten Ansatz entwickeln und verfolgen könne. Das sicherheitspolitische Spannungsfeld, in dem sich Frankreich bewegt, wird nach Pannier also nicht nur durch die Beziehungen zur Nato, durch Ad‑hoc-Interventionsformate und PESCO bestimmt, sondern auch durch die engen bilateralen und somit potentiell risiko­behafteten Rüstungskooperationen mit Großbritannien. Auf strategischer Ebene möge die Konvergenz mit London zwar größer sein als mit den (meisten) übrigen europäischen Partnern; die Integration und Institutionalisierung der europäischen Ver­teidigung (inklusive der Rüstungspolitik) seien für Paris jedoch die attraktivere Op­tion, wenn es sein politisches Gewicht in seinem Sinne vergrößern und künftig eine Führungsrolle in europäischen Verteidigungsfragen zugesprochen bekommen wolle. Dafür müsse Frankreich aber auf unilaterale (Ad-hoc-)Entscheidungen in Verteidigungsfragen verzichten.

Fazit

Zusammenfassend kann festgestellt wer­den, dass die Betrachtungen zur Zukunft der europäischen Verteidigungspolitik in den besprochenen Think-Tank-Publikatio­nen, die ihr Augenmerk auf Polen und Frankreich richten, differenziert aus­fallen. Dies gilt auch allgemein für jene Reflexionen, die sich mit den Herausforderungen und potentiellen strukturellen Veränderun­gen der EU-Verteidigungspolitik befassen. Die Tatsache, dass der europäische Vertei­digungsdiskurs gleichzeitig von innen-, integrations- und sicherheitspolitischen Fragestellungen geprägt wird, erschwert es den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaft­lern, die viel­schichtigen Motivationen und Handlungs­optionen für die Beteiligung von EU-Mit­gliedstaaten an PESCO zu analysieren. Doch zeigt die Durchsicht der bespro­chenen Publikationen auch, dass sich ins­besondere die Beschreibungen der ak­tuell drängendsten Probleme und Krisen größ­ten­teils decken.

Die Auswertung des in Polen vorherrschenden Diskurses macht deutlich, dass sich die Debatten in den ost- und zentral­europäischen EU-Mitgliedstaaten von denen in Westeuropa, hier am Beispiel Frankreichs, doch stark unterscheiden. Die polnische Bewertung der gemeinsamen verteidigungs­politischen Anstrengungen fällt kritischer und distanzierter aus – eine Beobachtung, die für alle besprochenen Beiträge gilt. Diese Skepsis besteht, obwohl Warschau sowohl auf nationaler als auch auf europäischer Ebene von den neuen Initiativen in vielerlei Hinsicht politisch profitieren könnte. Un­geachtet dieser Vorbehalte hat die polnische Regierung Ende 2018 angekündigt, sich auch an der zweiten Runde der PESCO-Projekte wieder – wenn auch nur in be­grenzten Umfang – beteili­gen zu wollen. Vor allem Terlikowski und Muti haben darauf hingewiesen, dass sich im Rahmen der PESCO-Umsetzung für Polen die Chance eröffnen könnte, in die Rolle eines gewich­tigen Maklers zu schlüpfen, der einerseits zwischen den westlichen und östlichen EU-Mitgliedstaaten vermittelt und andererseits auf eine sinnvolle Komple­mentarität zwi­schen EU- und Nato-Erfordernissen hin­wirkt – wobei Warschau gewiss für den Primat der letzteren einträte.

Alle hier zitierten Autorinnen und Auto­ren, die sich mit den verteidigungspolitischen Interessen Frankreichs befasst haben, sind sich darin einig, dass Paris gut beraten wäre, weniger isoliert zu handeln und sich stattdessen mit Deutschland und Polen um einen gemeinsamen Ansatz zu bemühen, damit PESCO zu einem erfolgreichen Pro­jekt wird. Dies setzt indes eine EU-weite ge­mein­same Strategie voraus, die einen Aus­gleich widerspiegeln müsste zwischen allen (gesamt-)europäi­schen und geostrategischen Interessen. Die französische Regierung hat, wie in den Beiträgen deutlich geworden ist, für die Gestaltung ihrer Verteidigungs­politik einige Optionen zur Hand. Sie kann zwischen bilateralen Abkommen über Rüstungsprojekte und politischen sowie militärischen Kooperationsformaten wäh­len. Paris hat seine Vorliebe für bilaterale und Ad-hoc-Formate offenbart, die nicht zwangs­läufig im EU-Rahmen verortet sein müssen. Damit könnten sich neue Chancen ergeben, Großbritannien nach dem Brexit in eine künftige europäische Sicherheits- und Verteidigungsarchitektur einzubinden, ein Aspekt, den die meisten Autorinnen und Autoren kurz vor dem nahenden Brexit-Termin im Frühjahr 2019 in ihre Überlegun­gen mit ein­bezogen.

Zieht man ein Resümee der besprochenen Analysen und Kommentare, so sieht sich Frank­reich als treibende Kraft in der Entwicklung einer europäischen Verteidigungspolitik, scheut sich aber bislang nicht, andere Mitgliedstaaten mit seinem Diskurs über eine strategische Autonomie der EU und dem von ihm vorangetriebenen EI2-Vorstoß zu irritieren.

Diese wissenschaftlichen Erklärungen der Motive Frankreichs wie auch des kriti­schen und ambivalenten Verhaltens Polens in Fragen der europäischen Verteidigungspolitik sollten in Berlin aufmerksam zur Kenntnis genom­men werden. Deutschland sollte für sich daraus die Aufgabe ableiten, die auseinanderdriftenden geostrategischen Interessen zwischen dem Osten und dem Westen der EU auszutarieren, und dabei eigene Interessen mit in die Debatte ein­bringen. Mit anderen Worten, Berlin sollte verstärkt die Rolle eines Vermittlers ein­nehmen. Deutschland wird in dieser Funk­tion allerdings mit Kritik aus Frankreich und Polen rechnen müssen (hier sei auf Gotkowskas und Kunz’ Analysen verwiesen), denn beide Nachbarn haben sich wiederholt über die ihrer Ansicht nach zu geringe Ressourcenausstattung der Bundes­wehr und die Zurückhaltung Deutschlands bei der Bewältigung von internationalen Krisen beklagt und die Glaubwürdigkeit deutscher Versprechen in Zweifel gezogen. Dass sich Berlin in Zukunft stärker in Ver­teidigungsfragen engagieren und damit mehr Verantwortung übernehmen sollte, ziehen nicht nur die Autoren und Auto­rin­nen der hier besprochenen Literatur in Be­tracht. Auch deutsche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler wie Major und Mölling (2017, siehe weiterführende Litera­tur) kommen zu ähnlichen Schlussfolge­rungen. Im Hinblick auf PESCO kann dies bedeuten, dass Deutschland Gefahr läuft, seine eigenen Interessen hin­sichtlich der Entwicklung einer europäischen »strategi­schen Kultur« zu vernachlässigen, wenn es keine proaktiven Beiträge zur Ausgestaltung dieser verteidigungspolitischen Initia­tive formuliert. Das Fehlen eines gemeinsamen strategischen Ansatzes wird in den meisten Beiträgen als problematisch für die weitere Entwicklung einer gesamteuropäischen Verteidigungspolitik verstanden. Diese Auffassung teilen in ähnlicher Form auch andere europäische »Think-Tanker«, die zu PESCO forschen. So sieht beispielsweise Blockmans (2018, siehe weiterführen­de Literatur) neben der Strategiefrage auch noch weitere Herausforderungen auf PESCO in naher Zukunft zukommen, die von der Politik gelöst werden müssen. Dazu gehören überzeugende und verbindliche Regeln für die Implementierung des PESCO-Rah­mens in und gegen­über den beteiligten Staaten, die Vereinbarung ambitionierter Ziele bei gleichzeitigem Festhalten am inklusiven und integrativen Ansatz und die Vereinbar­keit von PESCO mit anderen Verteidigungsstrukturen in Europa. Wenn diese Punkte unerledigt blieben, könnte dies den Erfolg von PESCO gefährden, zumal wenn sich die aktuellen Tendenzen in Warschau (starker US-Fokus) und in Paris (Neigung zu Ad-hoc-Formaten) noch verstärken. Die in dieser Zeitschriftenschau referierte Literatur zeigt hinsichtlich des europäischen Verteidigungs­diskurses somit nicht nur Handlungsempfehlungen auf, die direkt Warschau und Paris betreffen. Es wurden auch implizit oder explizit konkrete Erwartungen an Berlin formuliert. Vor dem Hintergrund der laufenden politischen und wissenschaftlichen Debatten muss sich die Bundesregierungen schließlich selbst die Frage stellen, welchen Charakter die deutsche – aber auch die europäische – Verteidigungs­poli­tik haben soll und wie sich die Vision einer gemeinsamen Verteidigungsunion und einer »europäischen Armee« – beides Be­grif­fe, die einer rechtlichen und politi­schen Untermauerung noch bedürfen (vgl. Wolf­städter 2018, siehe weiterführende Litera­tur) – angesichts der vorhandenen Unter­schiede in der EU trotz­dem realisieren lassen könnte.

Besprochene Publikationen

Giuliani, Jean-Dominique, »Defence: Europe’s Awakening«, in: Jean-Domi­nique Giuliani/Arnaud Danjean/François Grossetête/Thierry Tardy (Hg.), Defence: Europe’s Awakening, Paris: Fondation Robert Schuman, 22.5.2018 (Policy Paper, European Issues, Nr. 474), S. 5–12.

Gotkowska, Justyna, The Trouble with PESCO: The Mirages of European Defence, Warschau: Centre for Eastern Studies (OSW), Fe­bruar 2018 (Point of View Nr. 69)

Haroche, Pierre, »France, Poland and the Relaunch of EU Defence Cooperation«, in: Barbara Jankowski/Amélie Zima (Hg.), France and Poland: Facing the Evolution of the Security Environment, Paris: Institut de Re­cherche Stratégique et de l’École Militaire, IRSEM, Juli 2018 (Issue 59), S. 77–84.

Kunz, Barbara, The Three Dimensions of Europe’s Defense Debate, Washington, D.C.: The German Marshall Fund of the United States (GMF), 2018 (Policy Brief Nr. 024).

Muti, Karolina, Poland: The Missing Link in European Defence, Rom: Istituto Affari Internazionali (IAI), September 2018 (IAI Commentaries Nr. 48).

Pannier, Alice, France’s Defense Partnerships and the Dilemmas of Brexit, Washington, D.C.: GMF, 2018 (Policy Brief Nr. 022).

Terlikowski, Marcin, PESCO and Cohesion of European Defence Policy, Warschau: The Polish Institute of International Affairs (PISM), 17.11.2017 (Bulletin Nr. 112 [1052]).

Terlikowski, Marcin, PESCO: First Projects and the Search for (a Real) Breakthrough, Warschau: PISM, 8.5.2018 (Bulletin Nr. 65 [1136]).

Terlikowski, Marcin, PeSCo: The Polish Per­spective, Paris: Armament Industry European Research Group (ARES), Okto­ber 2018 (ARES Policy Paper Nr. 32).

Zaborowski, Marcin, Poland and European Defence Integration, London: European Council on Foreign Relations, Januar 2018 (Policy Brief).

Weiterführende Publikationen

Bendiek, Annegret/Ronja Kempin/Nicolai von Ondarza, Mehrheitsentscheidungen und Flexibilisierung der GASP, Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, Mai 2018 (SWP-Aktuell 31/2018).

Blockmans, Steven, »The EU’s Modular Approach to Defence Integration: An Inclusive, Ambitious and Legally Binding PESCO?«, in: Common Market Law Review, 55 (2018) 6, S. 1782–1826.

De France, Olivier/Claudia Major/Paola Sartori, How to Make PeSCo a Success, Paris: ARES, September 2017 (ARES Policy Paper Nr. 21).

Fiott, Daniel/Antonio Missiroli/Thierry Tardy, Permanent Structured Cooperation: What’s in a Name?, Paris: European Union Institute for Security Studies, November 2017 (Chaillot Paper Nr. 142).

Major, Claudia/Christian Mölling, »Was genau heißt ›neue Verantwortung‹?«, in: Internationale Politik, 72 (März/April 2017) 2, S. 89–97.

Wolfstädter, Laura Maria, »Europäische Verteidigungsunion«: Versuch einer rechtlichen Einordnung, Berlin: Jacques Delors Institut, 1.8.2018 (Blog Post).

Lena Strauß, M.A. ist Forschungsassistentin in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik.

Nicolas Lux, M.A. ist Programm-Manager im Brüsseler Büro der SWP.

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ISSN 1611-6380