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USA - Russland: Nun ist ein Kompromiss in der Raketenabwehr möglich

Verzögerungen bei der US-Raketenabwehr und die Wiederwahl von Obama machen einen Kompromiss mit Russland möglich. Nun kommt es darauf an, dass Putin von Maximalforderungen abweicht, meint Michael Paul.

Kurz gesagt, 21.11.2012 Research Areas

Verzögerungen bei der US-Raketenabwehr und die Wiederwahl von Obama machen einen Kompromiss mit Russland möglich. Nun kommt es darauf an, dass Putin von Maximalforderungen abweicht, meint Michael Paul.

In seiner ersten Amtszeit hat Präsident Barack Obama einen Neubeginn in den amerikanisch-russischen Beziehungen ermöglicht und so die Grundlagen für eine konstruktive Zusammenarbeit geschaffen. Ob aber ein Durchbruch zur Kooperation mit Moskau in seiner zweiten Amtszeit zu erreichen ist, hängt vor allem davon ab, ob der Streit über die Raketenabwehr beigelegt werden kann. Dann wären auch weitere Fortschritte in der nuklearen Abrüstung und Rüstungskontrolle möglich, die ohne Moskau nicht erreichbar sind. Gelingt dies nicht, könnten die bilateralen Beziehungen dauerhaft beschädigt und auch Fortschritte in anderen Politikbereichen erschwert werden.

Das Abrüstungsabkommen "New START" wäre zweifellos ohne den "Reset" nicht möglich gewesen. Zugleich entsprachen aber Verhandlungen auf gleicher Augenhöhe und die amerikanische Anerkennung strategischer Parität in hervorragender Weise russischen Interessen. Ein amerikanischer Alleingang in der Raketenabwehr in Europa würde diesen gerade wieder zurückgewonnenen Status beschädigen und wäre daher für Moskau kaum zu akzeptieren. Auf amerikanischer Seite sind innenpolitische Widerstände gegen einen Kompromiss zu überwinden: Zwar ist Russland nicht "Gegner Nummer 1", wie der republikanische Präsidentschaftskandidat Mitt Romney meinte, aber die Vorbehalte sind groß und die Bereitschaft zu Zugeständnissen gering.

Putin fordert Garantien, die Obama nicht gewähren kann

Russland hat sich unter Präsident Wladimir Putin darauf festgelegt, "feste" Garantien dafür zu verlangen, dass das amerikanische Raketenabwehrsystem nicht gegen die russischen Nuklearstreitkräfte gerichtet ist. Präsident Obama kann seinerseits keine "rechtlich verbindlichen" Garantien geben, da seine Regierung im Ratifikationsprozess des "New START"-Vertrages versprochen hat, keine Begrenzungen des Abwehrsystems zuzulassen – ein Versprechen, an das Kritiker des Vertrages wie Senator Jon Kyl immer wieder erinnern.

Die aktuellen Planungen zur Errichtung eines Raketenabwehrsystems sind eine Antwort auf die sich abzeichnenden Risiken durch die Weiterverbreitung von ballistischen Raketen und Massenvernichtungswaffen und richten sich speziell gegen entsprechende Fähigkeiten Irans und Nordkoreas. Im Rahmen des Raketenabwehrsystems für Europa soll bis 2015 eine weiterentwickelte Version der SM-3-Abfangrakete stationiert und eine Bodenstation in Rumänien errichtet werden. Diese Anfangsbefähigung soll bis 2018 zur vollen Einsatzbereitschaft ausgebaut werden: In Phase 3 soll eine abermals weiterentwickelte Version der Abfangrakete stationiert werden, um auch Mittelstreckenraketen größerer Reichweite erfassen zu können. Danach soll in Phase 4 eine komplett neue Abfangrakete entwickelt, getestet und stationiert werden, die gegen ballistische Raketen interkontinentaler Reichweite einsetzbar ist.

Ein Verzicht auf die von Moskau am heftigsten kritisierte vierte Phase des Abwehrsystems wäre ein entscheidendes Zugeständnis, das die Zusammenarbeit im strategischen Dreieck Brüssel, Moskau und Washington befördern könnte. Aufgrund der Entwicklungsprobleme bei der SM-3-Abfangrakete wurde in einem Ausschussbericht des Senats die Finanzierung einer weiteren Variante bereits kritisch hinterfragt. Nun verzögert sich auch die ursprünglich für das Fiskaljahr 2013 vorgesehene Ausschreibung der Neuentwicklung. Eine Studie amerikanischer Experten kam außerdem zu dem Ergebnis, dass die bisherige Planung nicht nur unausgereift sei, sondern statt Phase 4 in Europa eine Basis im Nordosten der USA eingerichtet werden sollte. Die geplante Architektur von Phase 4 nämlich sei im Falle einer Raketenbedrohung aus dem Mittleren Osten weder für den Schutz der USA, noch Europas optimal. Auch die Tatsache, dass die Entwicklung iranischer Raketen interkontinentaler Reichweite zunehmend fragwürdig ist, stellt Phase 4 grundsätzlich in Frage.

Sollte auf Phase 4 nicht gänzlich verzichtet werden, so schafft die zeitliche Verzögerung immerhin die Gelegenheit, andere Kompromisslinien zu finden.

Statt Garantien könnte es ein Abkommen über die Zusammenarbeit in der Raketenabwehr geben

Ein Kompromiss könnte darin bestehen, anstelle von Garantien ein Abkommen über die Zusammenarbeit in der Raketenabwehr zu schließen. Mittels festgelegter technischer Kriterien könnte Russland beurteilen, ob die Komponenten des Raketenabwehrsystems mit dem erklärten Ziel, dass sich das System nicht gegen Russland richtet, übereinstimmen oder nicht. Praktische Zusammenarbeit wäre in jedem Fall der beste Weg zur Lösung von Misstrauen und Fehlperzeptionen.

Die Kooperation sollte mit kleinen Schritten beginnen und einem pragmatischen Ansatz folgen. Sie sollte von vertrauensbildenden Maßnahmen flankiert werden und eine klare Zielsetzung verfolgen. Insofern wäre es einfacher, zunächst Informationen gemeinsam auszuwerten, als Hardware zu kombinieren. Das Zusammenführen nachrichtendienstlicher Einschätzungen der Raketenbedrohung zwischen NATO und Russland sowie USA und Russland ist ein Beispiel für praktische Zusammenarbeit. Auch sollten gemeinsame Übungen auf taktischer Ebene fortgesetzt werden. Weitere Schritte könnten darin bestehen, Kooperationszentren zu schaffen, die der Sammlung und Verteilung von Informationen und Daten dienen würden.

Die Raketenabwehr bietet eine Gelegenheit, die Beziehungen langfristig und nachhaltig zu verbessern. Ob das Potential für Kooperation genutzt wird, ist offen. Denn obwohl Obama nun größere Flexibilität hat, bleibt die Entwicklung iranischer Raketen ein entscheidendes Kriterium für die Raketenabwehr. Immerhin hat aber Moskau bereits Gesprächsbereitschaft erklärt – sowohl hinsichtlich der Raketenabwehr als auch der Abrüstung substrategischer Nuklearwaffen. Sollte Putin von den russischen Maximalforderungen abrücken, könnte er durch ein neues Abrüstungsabkommen sogar wirkungsvollere, praktische Garantien erhalten. Wie im Verhandlungsprozess des "New START"-Vertrages bedarf es erneut des persönlichen Engagements beider Präsidenten, wenn signifikante Fortschritte erzielt werden sollen.

Der Text ist auch auf EurActiv.de und Tagesspiegel.de erschienen.