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Ursachen
Ruf nach neuer Politik
Ursachen und Entwicklungen
Im Wahlergebnis manifestieren sich gesellschaftliche und politische Entwicklungen, die teils existierten, teils in dieser Form nicht vorhanden sowie teils nicht sichtbar waren. Sie sind für die gegenwärtige politische Situation charakteristisch und werden sich auch als für die Bildung und die Arbeit der künftigen Regierung relevant erweisen.
- Die Stimme des Zweiten Estland. Durch eine entschlossene, streng marktwirtschaftliche Reformpolitik erwarb sich Estland in den 90er Jahren den Ruf eines Musterschülers der Systemtransformation im östlichen Teil Europas. Vor zwei Jahren wiesen 26 estnische Sozialwissenschaftler in einem vielbeachteten Aufruf auf die lange vernachlässigten Schattenseiten der Wirtschaftsreform hin, auf wachsende soziale Unterschiede, Arbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit von Teilen der Gesellschaft. Das von den Früchten der wirtschaftlichen Umgestaltung weitgehend ausgeschlossene „zweite Estland“ meldete sich nun zu Wort. Im Elektorat der populistischen Zentrumspartei und der agrarischen Volksunion sind gerade „Transformationsverlierer“ unverhältnismäßig stark vertreten: Rentner und Angehörige der russischen Minderheit, Bauern und Bewohner des ländlichen Raums. Parteien, die sich als Fürsprecher dieser gesellschaftlichen Gruppen verstehen, erhielten bereits bei den letzten Wahlen ähnlich hohen Zuspruch (Zentrum, russische Parteien, Bauernparteien); bei dem jetzigen Votum bekamen auch noch jene Parteien einen Denkzettel, die für die liberale Reformpolitik der vergangenen Jahrzehnte stehen.
- Relevanz sozialer und wirtschaftlicher Themen. Daß der Unmut sozialer Protestwähler eine große Rolle spielte, ist auch mit der größeren Bedeutung gesellschaftspolitischer und wirtschaftlicher Fragen insgesamt in der politischen Auseinandersetzung zu erklären. Beherrschendes Thema des Wahlkampfes war die Steuerpolitik (Absenkung der gegenwärtig bestehenden linearen Einkommensteuer versus Einführung einer progressiven Einkommensteuer). Premier Kallas, Verfechter einer liberalen Niedrigsteuerpolitik, stilisierte die Wahlen sogar zu einem „Referendum über die Steuerpolitik“. Andere wichtige Fragen waren Unterstützung für junge und kinderreiche Familien oder Armutsbekämpfung. Weniger Bedeutung maßen die Wähler hingegen außen- und sicherheitspolitischen Themen bei.
- Gesunkene ethnische Polarisierung. Auch die Beziehungen zwischen estnischer Mehrheit und russophoner Minderheit standen folglich nicht im Zentrum der Auseinandersetzung. Parteien (wie das Zentrum oder die Res Publica) die der russischsprachigen Bevölkerung zunächst Entgegenkommen signalisiert hatten, ruderten während des Wahlkampfs wieder zurück, so daß sich keine politische Polarisierung entlang der ethnischen Achse ergab. Positiv zu bewerten ist, daß die „ethnische Stimmabgabe“ in der russischen Minderheit substantiell abnahm. Die wahlberechtigten Russophonen (Etwa 36% der Angehörigen der russischen Minderheit besitzen mittlerweile die estnische Staatsbürgerschaft. Diese 170.000 Wähler machen knapp ein Fünftel des gesamten Elektorats aus.) unterstützten diesmal nicht „russische“ Parteien (die Vereinigte Volkspartei Estlands (ONPE) kam nur auf 2,2%, die Russische Partei lediglich auf 0,2% der Stimmen), sondern stimmten mehrheitlich für „gesamtestnische“ Gruppierungen, vor allem für die Zentrumspartei. Selbst in den russischen Hochburgen im Nordosten des Landes (Bezirk Ida-Viru) erhielten die russischen Parteien nicht mehr als 10% der Stimmen. Der Umstand, daß russische Wähler bei Gruppierungen wie dem Zentrum, aber auch bei Res Publica oder der Reformpartei eine politische Heimat gefunden haben, ist ein wichtiger Ansatzpunkt für die Integration der nicht-estnischen Minderheit in die Mehrheitsgesellschaft. Ob die russischen Wähler dauerhaft bei diesen Parteien verbleiben werden, hängt davon ab, inwieweit diese ihre sozialen, aber auch spezifischen Nationalitätsinteressen vertreten werden. Die auf den Listen von Zentrum, Res Publica und der Reformpartei gewählten russischen Abgeordneten haben angekündigt, eine fraktionsübergreifende russische Parlamentsgruppe zu gründen.
- Neue Politik. Der Erfolg von Res Publica und der Absturz zweier „alter“ Parteien (der Moderaten und der Pro Patria, die zusammen die Hälfte ihrer Unterstützung einbüßten) kann als Ruf nach Wandel und Neuerungen in der politischen Kultur und Ausdruck der Unzufriedenheit mit dem politischen Establishment interpretiert werden. So votierten Teile der politikverdrossenen Mittelschichten und viele „wütende junge Männer“ für die Republikaner, die - ohne klares programmatisches Profil- bereits bei den Kommunalwahlen im vergangenen Herbst von sich reden machten. Die erst Ende 2001 vom estnischen Politologen Rein Taagepera ins Leben gerufene Partei definiert sich vor allem in Abgrenzung zur bestehenden Politik und der jetzigen politischen Elite. Korruptionsbekämpfung (mit dem Wahlkampfslogan „Wähle Ordnung!“) , Entbürokratisierung und Zurückdrängung der politischen Parteien aus dem Staatsapparat sind Kernelemente der von den Republikanern unter ihrem Vorsitzenden Juhan Parts proklamierten „Neuen Politik“. Mit Blick auf ihre wirtschaftspolitischen Vorstellungen kann die Res Publica als marktwirtschaftlich und fiskalkonservativ charakterisiert werden. Ob die die Partei wirklich neuen Schwung in Estlands Politik bringen wird, bleibt abzuwarten. Vermutlich wird sich die Partei den von ihr kritisierten Konkurrenten allmählich angleichen. Ein erster Schritt in diese Richtung könnte eine graduelle ideologische Auskristallisierung sein, denn schon auf dem Parteitag vom August 2002 gab es erste Anzeichen dafür, daß Teile der republikanischen Basis ihre Organisation zu einer „rechtszentristischen“ Gruppierungen machen wollen.