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Konsequenzen
Ruf nach neuer Politik
Konsequenzen der Wahlen
Die Wahlen vom 2. März haben einen grundlegenden Sachverhalt der estnischen Politik bestätigt: Die politische Landschaft ist fragmentiert und im Fluß, wohingegen für die Außen-, Sicherheits- und Wirtschaftspolitik ein hohes Maß an Kontinuität bezeichnend ist.
Das estnische Parteiensystem ist weiterhin durch programmatische Unschärfen, organisatorische Veränderungen und starke Personalisierung geprägt.
- Eine weit gefaßte, marktwirtschaftlich und pro-europäisch eingestellte rechte Mitte dominiert zwar, ist jedoch von Wahl zu Wahl strukturellen Veränderungen unterworfen. Fraglich ist, ob und wie sich die Res Publica ideologisch zwischen der christlich-konservativen Pro Patria und der liberalen Reformpartei einordnen wird.
- Die Zukunft der Sozialdemokratie ist unklar. Die „offizielle“ Sozialdemokratie des Landes, die Moderaten, schaffte zwar den Sprung ins Parlament, ist aber deutlich geschwächt. Die Zentrumspartei könnte sich mittelfristig in Richtung Sozialdemokratie entwickeln, müßte sich dann aber von links-populistischen Tendenzen befreien und einen Modus vivendi mit den von der Sozialistischen Internationale anerkannten Gemäßigten finden.
- Aufgrund schwacher Bindungen zwischen Wählern und Parteien sowie einer sich immer wieder verändernden Parteienstruktur kann auch künftig das Verschwinden existierender bzw. das Erscheinen neuer politischer Subjekte nicht ausgeschlossen werden. Die Wahlen der letzten Monate haben gezeigt, daß die Gesellschaften in den baltischen Staaten immer noch sehr offen für neue Parteien und markante politische Führungsfiguren sind. So kann das Phänomen der „Parvenue“-Partei Res Publica durchaus neben den Erfolg Einar Repses und seiner Partei „Neue Zeit“ bei den Parlamentswahlen in Lettland oder den Wahlsieg von Rolandas Paksas bei den litauischen Präsidentschaftswahlen gestellt werden – wenngleich große Unterschiede zwischen der markigen Demagogie Paksas‘ und dem gemäßigten Populismus der Res Publica bestehen.
Während hinsichtlich der weiteren Entwicklung des Parteigefüges also noch einiges fraglich sein dürfte, wird allerdings die neue estnische Regierung – unabhängig von ihrer Zusammensetzung – außen- und wirtschaftspolitisch den bisherigen Kurs halten und das Land in NATO und EU führen.
- Wirtschaftlich steht das Land gut da. Die estnische Wirtschaft wächst kräftig (5,5% im vergangenen Jahr), die Inflation liegt bei unter 3%. Zwar wurde für 2003 erstmals ein Haushalt mit einem leichten Defizit veranschlagt, dies ändert aber nichts an der Tatsache, daß die Staatsfinanzen gesund sind. Da voraussichtlich Res Publica und die Reformpartei mit großer Wahrscheinlichkeit in der künftigen Regierung vertreten sein werden, wird die liberale Wirtschafts- und restriktive Finanzpolitik beibehalten werden. Sollte die Zentrumspartei dennoch an der Regierung beteiligt werden, könnte sie ihr Vorhaben einer progressiven Einkommensteuer kaum gegen die Reformpartei durchsetzen. Da die estnische Krone fest an den Euro gekoppelt ist, besteht kein Spielraum, um über die Währungspolitik Einfluß auf die Wirtschaftsentwicklung zu nehmen. Beide Faktoren zusammen sowie die weltwirtschaftliche Lage könnten die Lösung einiger wichtiger Teilprobleme erschweren. So muß das hohe Leistungsbilanzdefizit eingedämmt und die Arbeitslosenquote (landesweit 9%) gedrückt werden. Für zusätzliche Ausgaben im Zusammenhang mit NATO- und EU-Mitgliedschaft (Streitkräftemodernisierung, Auslandseinsätze, Kofinanzierung von Brüsseler Finanztransfers) müssen neue Ressourcen erschlossen werden.
- Die NATO-Mitgliedschaft des Landes steht so gut wie fest. Vermutlich wird sich Estland bis dahin und auch darüber hinaus als loyaler Verbündeter der USA präsentieren und die amerikanische Irak-Politik unterstützen. Ein eventuelles NATO-Referendum – von einigen Politiker aus der Zentrumspartei angedacht – ist vom Tisch und wird auch von der Zentrumspartei nicht lanciert werden.
- Eine vorrangige Aufgabe der künftigen Regierung wird die Volksabstimmung über den EU-Beitritt im September sein. Die Zustimmung zur EU-Mitgliedschaft war in Estland im Vergleich zu anderen Beitrittsländern in den letzten Jahren verhältnismäßig gering. Nach Umfragen des estnischen Meinungsforschungsinstituts EMOR sind die Befürworter seit vielen Monaten stabil in der Überzahl (57% : 36% Ende 2002). Die Zahlen des Eurobarometers sehen das Pro-EU-Lager hingegen in einer weniger komfortablen Situation. Mit nur 39%-Befürwortern ist Estland Schlußlicht in der Rangfolge der Beitrittsländer (Allerdings stellt auch das Eurobarometer fest, daß unter denjenigen, die an der Abstimmung teilnehmen wollen, eine deutliche Mehrheit für den Beitritt [62%:35%] besteht). In dem mehrheitlich pro-amerikanischen Estland könnten sich Maßregelungen aus EU-Ländern hinsichtlich der Irak-Politik in einer sinkenden Akzeptanz für die EU-Mitgliedschaft niederschlagen. Als Problem könnte sich unter Umständen die Zentrumspartei erweisen. Als Regierungsmitglied würde der bisher in Sachen EU-Mitgliedschaft ambivalente Zentrums-Chef Savisaar voraussichtlich für den Beitritt eintreten. Beobachter halten es aber nicht für ausgeschlossen, daß Savisaar in der Opposition eine destruktive Linie verfolgen und mit der euroskeptischen Karte spielen könnte.
- Im Verhältnis zu Rußland ist kein großer Durchbruch zu erwarten, jedoch dürfte jede Regierung an der Politik der kleinen Schritte festhalten, die im letzten Jahr erste Erfolge zeitigte, und die Notwendigkeit einer weiteren Verbesserung der beiderseitigen Beziehungen betonen. Zweifelsohne ist Edgar Savisaar Moskaus „Wunschkandidat“ für den Posten des neuen Regierungschefs, was unter anderem mit der von der Zentrumspartei zum Ausdruck gebrachten Flexibilität bei der Staatsbürgerschaftspolitik zu tun hat. Abzuwarten bleibt, wie Moskau reagiert, wenn Savisaar nicht zum Zuge kommt. Vermutlich wird es eine Mischung aus intensivierten Kontakten (vor allem im Bereich der wirtschaftlichen Zusammenarbeit) und einer zurückhaltenderen Politik geben, bei der die bilateralen Beziehungen eng mit der estnischen Minderheiten- bzw. Staatsbürgerschaftspolitik in Verbindung gebracht werden. In der Staatsbürgerschaftspolitik wird keine grundlegende Wende eintreten, da im Prinzip nur die Zentrumspartei hieran interessiert ist. Estlands nahende NATO-Mitgliedschaft kann zu einer Beruhigung im gegenseitigen Verhältnis beitragen.