Die Vereinten Nationen haben einen Vertrag zum Schutz der Hohen See verabschiedet. Um sein Potenzial für die globale Meerespolitik zu nutzen, sollten die EU und Deutschland ihr strategisches Engagement in diesem Forum jetzt planen, meinen Miranda Böttcher und Gerrit Hansen.
Nach mehr als 15 Jahren Verhandlungen haben die Vereinten Nationen am 19. Juni den ersten internationalen Vertrag zum Schutz der Hohen See verabschiedet. Das Abkommen über die »Biodiversität außerhalb nationaler Gerichtsbarkeit«, kurz BBNJ, konzentriert sich speziell auf die Umsetzung der internationalen Vorgaben zur Erhaltung und nachhaltigen Nutzung der biologischen Vielfalt der Meere. Es soll vor allem die internationale Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Akteuren verbessern und bestehende Lücken schließen.
Eine solche Lücke bestand lange Zeit beim Schutz der marinen Biodiversität und bei der Bewältigung der Herausforderungen durch illegale, ungemeldete und unregulierte (IUU-) Fischerei und andere menschliche Aktivitäten in Gebieten außerhalb nationaler Gerichtsbarkeit (ABNJ) auf See. Die Governance der Hohen See war bisher stark fragmentiert, mit vielen regionalen und sektoralen Akteuren. Dies hat zu internationalen Bestrebungen geführt, im Rahmen des Seerechtsübereinkommens der Vereinten Nationen (UNCLOS) ein neues, einheitliches Abkommen zum Schutz der Hochsee zu entwickeln. Das UNCLOS dient als »Verfassung« für die Weltmeere, konzentriert sich jedoch in erster Linie auf die Regulierung wirtschaftlicher Aktivitäten.
Das BBNJ-Abkommen zielt darauf ab, ein Gleichgewicht zwischen den Vorteilen aus der Nutzung der Meere und Meeresressourcen und den damit verbundenen Risiken für marine Ökosysteme herzustellen. Es soll den Staaten detaillierte Verfahren, Schwellenwerte und Leitlinien für die Durchführung von Umweltverträglichkeitsprüfungen (UVP) in der Meeresumwelt an die Hand geben. Das Abkommen enthält auch Bestimmungen zur Berücksichtigung kumulativer Auswirkungen verschiedener Aktivitäten und schlägt umfassende Monitoring- und Berichtspflichten vor. Das BBNJ-Abkommen tritt 120 Tage nach seiner Ratifizierung durch 60 Unterzeichnerstaaten in Kraft, was erfahrungsgemäß mehrere Jahre dauern kann. Wichtige Akteure wie Frankreich streben jedoch ein Inkrafttreten bereits zur UN-Meereskonferenz 2025 in Nizza an. In der Zwischenzeit werden regelmäßige Treffen der vorgeschlagenen Vorbereitungskommission (PrepCom) ein multilaterales Forum bieten, um wichtige Fragen der marinen Biodiversität, einschließlich des Klimawandels, zu behandeln. Wenn diese Vorbereitungsphase sorgfältig genutzt wird und geeignete Synergien und Allianzen geschaffen werden, könnte sich das BBNJ-Abkommen zu einem übergreifenden globalen Forum für Meerespolitik entwickeln, das die Verbindungen zwischen Klima-, Meeres- und Biodiversitätspolitik stärkt.
Auch wenn die Welt gerade die Verabschiedung des BBNJ-Vertrags feiert, sind noch erhebliche Herausforderungen zu bewältigen. So ist zu erwarten, dass sich die Konflikte und Spannungen, die die Vertragsverhandlungen geprägt haben, auch in der Ratifizierungs- und Umsetzungsphase fortsetzen werden. Die unterschiedlichen Prioritäten der Länder zeigten sich nicht zuletzt in der langwierigen Debatte über die Aufnahme des Grundsatzes des gemeinsamen Erbes der Menschheit gegenüber dem Verweis auf die »Freiheit der Hohen See«. Andere besonders strittige Fragen betrafen die Nutzung der genetischen Meeresressourcen, insbesondere den sogenannten gerechten Vorteilsausgleich. Der erfolgreiche Abschluss der Verhandlungen hing maßgeblich davon ab, die richtige Balance zwischen den Interessen der Industrie-, Entwicklungs- und Schwellenländer zu finden. Entscheidend war auch die Kompromissfindung mit China in den politisch brisanten Fragen im Zusammenhang mit der Einrichtung von Meeresschutzgebieten im Südchinesischen Meer. Der Ausgleich dieser und anderer gegensätzlicher Interessen wird auch in Zukunft unerlässlich sein, um Fortschritte in der Governance der Hohen See zu erzielen.
Formal ist es möglich, BBNJ-Beschlüsse mit einer Dreiviertelmehrheit zu fassen, um zum Beispiel ein neues Meeresschutzgebiet einzurichten. Dies würde jedoch einen erheblichen politischen Einsatz und die Bildung strategischer Allianzen erfordern. In diesem Sinne sollten Deutschland und die EU die Übergangszeit nutzen, um Strategien zu entwickeln, wie bestehende Partnerschaften, etwa mit afrikanischen Staaten, vertieft und neue internationale Koalitionen im Forum an der Schnittstelle von Klima-, Meeres- und Biodiversitätspolitik aufgebaut werden können.
Um im neuen Forum möglichst effektiv zu sein, muss die EU effiziente Prozesse zur internen Positionsfindung und Koordination etablieren, auch zwischen der Europäischen Kommission, die die Verhandlungsführung innehat, und den Delegationen der Mitgliedstaaten. Zudem wird es für die Implementierungsphase wichtig sein, die relevante Fachexpertise in der Delegation, die bisher stark von Völkerrechtlern geprägt ist, zu stärken. Im »Team Deutschland« könnte ein Übergang der Federführung vom Auswärtigen Amt an das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz einen entscheidenden Beitrag leisten.
Nicht zuletzt stellt sich die Frage, welche Agenda Deutschland und die EU innerhalb des Forums priorisieren wollen. Die Identifizierung von Synergien an der Schnittstelle von Klima-, Meeres- und Biodiversitätspolitik ist ein Schlüsselthema, insbesondere angesichts des wachsenden wissenschaftlichen und kommerziellen Interesses an der gezielten Nutzung des Ozeans als Kohlenstoffsenke, um Klimaziele zu erreichen. Der Schutz der marinen Biodiversität ist ein Klimathema und umgekehrt, und das BBNJ-Abkommen bietet der Weltgemeinschaft eine einzigartige neue Möglichkeit, diesen Nexus zu gestalten.
doi:10.18449/2023A30
Europa muss das Verhältnis zwischen Schutz und Nutzung klären
doi:10.18449/2023A20