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Moskau bedroht die Balance im hohen Norden

Angesichts der russischen Kriegspolitik rücken Finnland und Schweden näher an die Nato

SWP-Aktuell 2022/A 19, 04.03.2022, 8 Pages

doi:10.18449/2022A19

Research Areas

Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine basiert nicht auf legitimen und nachvollziehbaren Sicherheitsinteressen, sondern ist eine Absage an die Sicherheitsordnung Europas. Dies hat Präsident Putin in seiner Fernsehansprache vom 21. Februar, die den Angriff einleitete, klargestellt. Finnland und Schweden hatten schon davor an die KSZE-Schlussakte von 1975 erinnert, auf die sich Russland als Nachfolgestaat der Sow­jetunion verpflichtet hat. Demnach ist die souveräne Gleichheit der Unterzeichnerstaaten zu achten – und damit auch ihr Recht auf die eigene, freie Bündniswahl. Die militärische Aggression Moskaus drängt Helsinki und Stockholm nicht nur in einem noch nie dagewesenen Ausmaß näher an die Nato, sondern macht zudem die Ein­hegung russischer Macht wieder dringlich, was auch die Stabilität im hohen Norden tangieren wird.

Der russische Überfall hat Konsequenzen über die Ukraine hinaus. Bereits in den vorangegangenen Eskalationsstufen waren Auswirkungen im Ostseeraum und im hohen Norden festzustellen, und langfristig werden damit auch Implikationen in der Arktis verbunden sein. Neben dem Balti­kum sind Finnland und Schweden als nor­dische EU-Mitgliedstaaten direkt von der verschlechterten Sicherheitslage in Europa und um die Ostsee betroffen. Noch sind beide Länder nicht Mitglied der Nato. In Helsinki ist die »Nato-Option« aber fester Bestandteil der Sicherheitspolitik, und nach einer aktuellen Umfrage spricht sich erst­mals eine Mehrheit der Finnen für einen Beitritt aus. Das schwedische Parlament hat schon im Dezember 2020 mit großer Mehr­heit für einen künftigen Beitritt des Landes zum Bündnis gestimmt.

Am 24. Dezember 2021 informierte die Presseabteilung des russischen Außenminis­teriums darüber, dass die Forderung von Präsident Wladimir Putin, auf eine künftige Erweiterung der Nato zu verzichten, auch Finnland und Schweden betreffe. Der russi­sche Außenminister Sergei Lawrow nahm zwar später die Forderung im Hinblick auf die beiden nordischen Länder zurück und versicherte, Moskau respektiere deren Sou­veränität. Im selben Atemzug betonte er jedoch, dass die Neutralität Finn­lands und Schwedens ein essentieller Teil der euro­päischen Sicherheitsordnung sei. Am 25. Februar warnte die Pressesprecherin des Kremls, Marija Sacharowa, in einem Tweet, dass ein Nato-Beitritt Finnlands »ernsthafte militärische und politische Folgen« hätte.

Spannungen im Ostseeraum

Militärische Machtdemonstrationen sind inzwischen »ein fest etabliertes Mittel russi­scher Zwangsdiplomatie« geworden. Daher überraschte nicht, dass Moskaus Forderungen – parallel zum Truppenaufmarsch an der ukrainischen Grenze – verstärkte russi­sche Aktivitäten auch in der Ostsee folgten. Im Januar waren drei russische Landungsschiffe der Nordflotte aus Murmansk in den Stützpunkt der Baltischen Flotte in der rus­sischen Exklave Kaliningrad eingelaufen. Schweden erhöhte daraufhin die Verteidigungsbereitschaft und ließ demonstrativ Panzer auf der Insel Gotland patrouillieren, die nur 330 Kilometer von Kaliningrad ent­fernt liegt und als primäres russisches An­griffsziel im Kriegsfall gilt. Mitte Januar ver­ließen die Landungsschiffe der Nordflotte zwar zusammen mit drei weiteren Lan­dungsschiffen den Stützpunkt der Baltischen Flotte in Richtung Schwarzes Meer. Gleich­zeitig wurden jedoch verdächtige Flüge von Drohnen über drei schwedischen Atomkraft­werken bekannt. Am 17. Januar 2022 nahm darüber hinaus ein russisches Frachtflug­zeug, das von Moskau nach Leipzig unter­wegs war, einen großen Umweg über halb Finnland. Dabei überflog es zwei wichtige finnische Militärstandorte, darunter das Hauptquartier der Luftwaffe und Teile des Militärgeheimdienstes in Tikkakoski sowie den Militärflughafen von Halli in Jämsä.

Solche Vorgänge finden in Deutschland wenig Aufmerksamkeit, weil die Ostsee­region in der Regel als wirtschaftlicher Raum wahrgenommen wird. In Nordeuropa steht die strategische Bedeutung der Region hin­gegen im Fokus der Sicherheits- und Ver­teidigungspolitik. Im neuen Verteidigungs­bericht Finnlands von September 2021 wird etwa festgestellt, dass sich Spannungen im internationalen Sicherheitsumfeld als gestie­gene militärische Aktivitäten in der Ostsee­region widerspiegeln.

Finnlands geopolitischer Spielraum

Mit etwa 5,5 Millionen Einwohnern auf einer Fläche fast so groß wie Deutschland gehört Finnland zu den am dünnsten be­siedelten Ländern Europas. Es teilt eine 1 343 Kilometer lange Grenze mit Russland und ist abhängig vom Außenhandel über See. Sein geopolitischer Spielraum wird von stabilen Beziehungen zu Moskau ebenso wie von der gesamteuropäischen Stabilität bestimmt. Finnland war deshalb maßgeblich an Übereinkommen zur europäischen Sicherheit und Zusammenarbeit beteiligt. Im August 1975 wurde die KSZE-Schluss­akte in Helsinki unterschrieben.

Aufgrund seiner geopolitischen Lage in direkter Nachbarschaft Russlands hat Finn­land im Gegensatz zu vielen westeuro­päischen EU- und Nato-Mitgliedstaaten die allgemeine Wehrpflicht nie abgeschafft und setzt auf eine starke Landesverteidigung. Die Streit­kräfte des Landes können im Kriegsfall eine Truppenstärke von 280 000 erreichen. Außerdem erhalten sie eine moderne Be­waffnung. Im Dezember 2021 beschloss die finnische Regierung, 64 Kampfflugzeuge des Typs F-35A Light­ning II vom US-Her­steller Lockheed Martin zu kau­fen. Die An­schaffung garantiert eine hohe Interoperabilität mit Nato-Staaten und wurde deshalb in russischen Medien als »unfreundliche Aktion gegenüber Russland« bewertet.

Außenpolitisch waren Finnlands Prioritäten bereits nach einem Strategiepapier des Außenministeriums von 2018, das für die Jahre bis 2022 gelten sollte, von der ver­schlechterten Sicherheitslage in Europa ge­kennzeichnet. Die seit 2014 erhöhte mili­tärische Präsenz Russlands in finnischen Nachbargebieten erfordere sowohl eine ent­schlossene Antwort als auch die Aufrechterhaltung eines regelmäßigen Dialogs. Im neuen Verteidigungsbericht der Regierung

von September 2021 verschiebt sich der traditionell auf den Ostseeraum gerichtete Fokus zugunsten einer erweiterten räum­lichen Perspektive, die die Arktis und den nördlichen Atlantik als einen sicherheits­politischen Raum erfasst.

Die veränderten Rahmenbedingungen im Umfeld haben so zur stärkeren Zusam­menarbeit zwischen den nordischen Län­dern, insbesondere Finnland und Schweden, und im transatlantischen Verhältnis geführt. Schweden ist Finnlands wichtigster Partner, der dem Land im Konfliktfall stra­tegische Tiefe verschafft. Umgekehrt ist die Verteidigungskooperation mit Helsinki für Stockholm sehr wichtig, da Schweden aufgrund seiner militärischen Abrüstung seit Anfang der 2000er Jahre selbst nicht über ausreichende Kapazitäten verfügt. Die Präsenz und die Aktivitäten der Nato im Ostseeraum haben aus finnischer Sicht eine stabilisierende Wirkung. Dementsprechend sucht Helsinki die enge Zusammenarbeit mit der Nato, speziell bei der Luftverteidigung. Dem diente im Juni 2021 das multinationale Manöver »Arctic Challenge 2021«. Dazu hatten Finnen und Schweden sieben Nato-Staaten eingeladen, darunter Deutschland.

Aus finnischer Sicht verhalten sich EU, Nato und Nordische Kooperation komplementär zueinander, so dass ein Beitritt zur Allianz bislang nicht erforderlich schien. Wenn überhaupt, dann sollte er idealiter zusammen mit Schweden koordiniert erfol­gen. Ein Alleingang Schwedens könnte die Nato-Option für Helsinki verwässern, weil Finnland als einziger neutraler Staat in der »Pufferzone« oder »Interessensphäre« Russ­lands verbliebe. Die Nato-Option ist ein wichtiger und zugleich sensibler Teil der finnischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik – in der zugespitzten Lage mehr denn je. Deshalb reagierte Finnland alar­miert, als Kanzler Olaf Scholz bei seiner Pressekonferenz mit Putin in Moskau am 15. Februar davon sprach, dass eine Nato-Osterweiterung während seiner Amtszeit nicht stattfinden werde. Scholz erklärte da­bei nicht explizit, sich nur auf die Ukraine zu beziehen. Die Aussage wurde deshalb so interpretiert, dass Deutschland gegebenenfalls als Zugeständnis an Russland einen Nato-Beitritt Finnlands blockieren könnte. Wenngleich nicht so gemeint, hat Scholz’ Äußerung einen empfindlichen Nerv in Finnland getroffen.

Neutralitätspolitik als außen­politische Tradition Schwedens

Schweden folgt einer außenpolitischen Linie, die auf einer tief im politischen Selbstverständnis verwurzelten Neutralitäts­politik basiert. Seit 1814 war Schweden nicht mehr an kriegerischen Handlungen beteiligt. Allianzfreiheit und Friedensbemühungen stehen traditionell im Zentrum des eigenen Außenhandelns. Parallel ver­folgt Stockholm seit dem Ende des Kalten Krieges eine pragmatische Sicherheitspolitik, in der es so nahe wie möglich an die Nato rückt, ohne aber von Beitritt zu reden. Typisch für den schwedischen Ansatz ist, dass die genaue Truppenzusammenstellung bei einer Übung von Spezialeinheiten der schwedischen Armee mit US-Truppen im Herbst 2020 in den Schären des Landes streng geheim gehalten wurde.

Laut Verteidigungsminister Peter Hult­qvist muss sich Schweden der veränderten Lage anpassen, in der Russland gewillt sei, militärische Mittel zur Erreichung politischer Ziele einzusetzen und ein bewaffneter Angriff nicht ausgeschlossen werden könne. Im Zeitraum 2021–2025 sollen da­her die Rüstungsausgaben des Landes um 40 Prozent steigen, gegenüber dem Niveau von 2014 sogar um 85 Prozent. Die Perso­nalstärke der Armee soll bis 2025 von 60 000 auf 90 000 erhöht werden, die Mari­ne zwei weitere Schiffe und ein U-Boot er­halten. Ebenso ist vorgesehen, Armee und Luftwaffe mit neuen Waffensystemen aus­zustatten und die Verteidigung von Gotland zu verbessern, wo im Konfliktfall eine rus­sische Invasion erwartet wird. Die Insel könnte zur »neuen Krim« werden, von wo aus Russland die Zugänge zum südlichen Ostseeraum kontrollieren würde. Darüber hinaus will Stockholm ein System der Zivil­verteidigung reaktivieren, damit sich das Land in einem Krieg drei Monate lang hal­ten kann, bis Hilfe eintrifft. Auch wurde die Marinebasis in Muskö reaktiviert und der Übungsbetrieb dort wiederaufgenommen. Die geheim gehaltene Übung von 2020 dürfte mit Unterstützung des U.S. Special Operations Command Europe aus Stuttgart stattgefunden haben. Noch bemerkenswerter ist die schwedische Entscheidung vom 27. Februar, Waffen an die Ukraine zu liefern. Das Signal ist klar: Selbst Schweden rückt aufgrund des russischen Vorgehens von seiner Neutralitätspolitik ab.

»Freiheit der Wahl« unter Druck

In seiner Neujahrsansprache 2022 erinnerte der finnische Präsident Niinistö an Finn­lands »Freiheit der Wahl« mit Blick auf eine mögliche Nato-Mitgliedschaft. Dieser Hin­weis war deutlich an die Adresse Russlands gerichtet. Ein finni­sches »Modell«, die so­genannte Finnlandisierung – gewisser­maßen freiwillig seine Souveränität ein­zuschränken –, gebe es nicht, so Niinistö, auch nicht mit Blick auf die Ukraine.

In der Bevölkerung des Landes hat Russ­lands Krieg gegen die Ukraine einen histo­rischen Wandel herbeigeführt, was die Unterstützung einer finnischen Nato-Mit­gliedschaft angeht. Nach einer Umfrage vom 28. Februar gibt es nun erstmals eine Mehrheit für den Beitritt zum Bündnis. 53 Prozent sprachen sich dafür aus, nur noch 28 Prozent waren da­gegen, 19 Prozent zeigten sich unsicher.

Der Stimmungsumschwung hat ebenso die politischen Parteien erfasst. Von den fünf Regierungsparteien waren bisher die Finnische Zentrumspartei und das Links­bündnis gegen einen Beitritt, während die Schwedische Volkspartei (die Partei der schwedischsprachigen Minderheit) eine Mit­gliedschaft bis 2025 anstrebte. Die Grünen waren intern gespalten, wobei sich der Fraktionsvorsitzende der Partei im finni­schen Parlament, Atte Harjanne, schon vor Russlands Invasion in der Ukraine für eine Mitgliedschaft aussprach. Die Sozialdemokratische Partei vertrat traditionell eine ähnliche Linie wie Präsident Niinistö. Dem­nach blieb die Nato-Option ein wichtiger Pfeiler der finnischen Sicherheitspolitik, während einstweilen kein Bedarf gesehen wurde, die Allianzfreiheit zu verlassen.

Der Krieg in der Ukraine hat das sicherheitspolitische Kalkül in Finnland jedoch fundamental verändert. Seit dem russischen Überfall haben immer mehr Politike­rinnen und Politiker in allen Parteien einen Meinungswechsel bekundet und sich für den sofortigen Nato-Beitritt Finnlands aus­gesprochen. Eine nationale Bürgerinitiative für ein richtungsweisendes Referendum zu dieser Frage sammelte innerhalb von fünf Tagen die notwendigen 50 000 Stimmen, die eine parlamentarische Befassung erfor­derlich machen.

In Schweden gab es erstmals im Dezember 2020 eine parlamentarische Mehrheit dafür, eine Nato-Beitrittsoption vorzubereiten. Ein Jahr später sorgte die von Russland geforderte Absage an jede Nato-Erweiterung nahe seiner Grenze auch in Schweden für Aufruhr. »In Schweden entscheiden wir selbst, mit wem wir kooperieren«, erklärte die seit November 2021 amtierende Pre­mierministerin Magdalena Andersson und kündigte eine »Vertiefung der Partnerschaft zwischen Schweden und der Nato« an. In der schwe­dischen Bevölkerung haben sich laut einer Umfrage von Januar 2022 die Anteile von Unterstützung und Ablehnung einer Nato-Mitgliedschaft nahezu angeglichen: 35 Pro­zent sind dafür, 33 Prozent dagegen, 31 Prozent unentschieden. Mos­kaus harte Forderung nach mehr Rücksicht­nahme auf eigene Sicherheitsinter­essen hat bei seinen Nach­barn in Helsinki und Stock­holm damit das genaue Gegenteil des Be­absichtigten er­reicht. Russlands Druck hat den paradoxen Effekt, Finnland und Schwe­den näher an die Nato heranzurücken.

Als mögliches Zugeständnis an Russland kursierte vor Kriegsbeginn als Verhandlungsoption westlicher Staats- und Regie­rungschefs, die Ukraine für eine wie auch immer festgelegte Zeit nicht der Nato bei­treten zu lassen. Aus der Sicht Finnlands, dessen historische Erfahrung mit der Sow­jetunion den Begriff »Finnlandisierung« entstehen ließ, ist diese Idee sehr kritisch zu bewerten. Da die Ukraine aufgrund ihrer fehlenden territorialen Integrität bis zum Kriegsbeginn ohnehin keine realistische Chance auf Beitritt hatte, war die Über­legung eines Aufnahmemoratoriums wenig zielführend. Denn der Ausschluss der Ukraine aus einer Nato-Mitgliedschafts­per­spektive, selbst wenn nur bedingt in Form eines zeitlich begrenzten Moratoriums, könnte auch einen Ausschluss Finnlands bedeuten. Obwohl die beiden Fälle nicht völlig vergleichbar sind, allein schon wegen der EU-Mitgliedschaft Finnlands, wäre als Worst-Case-Szenario denkbar, dass Russ­land in Zukunft ähnliche Forderungen und Eskalationsmittel gegen­über Helsinki ein­setzt. Wären die Mitgliedstaaten der Allianz dann bereit, auch Finn­land die »Nato-Tür« zu verschließen? Schließlich könnte die Einigung über eine neue Sicherheitsarchitektur für Europa – als selbstauferlegte Voraussetzung für die Aufnahme weiterer Nato-Mitglieder – noch viele Jahre auf sich warten lassen.

Auswirkungen auf die Sicherheit der Ostseeregion

Finnland ist aufgrund der Reservestärke seiner Streitkräfte und deren moderner Ausrüstung ein attraktiver verteidigungs­politischer Partner für die Nato im hohen Norden. Seit 2014 ist die strategische Bedeu­tung der Ostseeregion gestiegen, was gleich­zeitig die Rolle Finnlands aufgewertet hat. Im Fall eines Angriffs durch Russland wür­de Finnland eine wichtige Aufgabe für die Verteidigung des Ostseeraums zukommen. So wurde in Estland der finnische Beschluss, F-35-Kampfflugzeuge zu erwerben, als sehr vorteilhaft für die Verteidigungskapazität der gesamten Region bewertet.

Die intensivierte Verteidigungszusammenarbeit des Nato-Mitglieds Norwegen mit Finnland und Schweden trägt ebenfalls da­zu bei, die regionale Sicherheit im gesam­ten Großraum Ostsee-Arktis-Nordatlantik zu stärken. Obwohl Schweden mit Blick auf die Schlagkraft der Streitkräfte weit hinter Finnland zurückfällt, ist die enge sicherheits- und verteidigungspolitische Kooperation der zwei Länder für beide Seiten kom­plementär. Sollten sie der Nato beitreten, würde dies eine nahezu sofortige operationelle Bereitschaft im Rahmen des Bündnisses ermöglichen. So wäre der Beitritt der beiden nordischen Staaten durchaus vor­teilhaft für die kollektive Sicherheit der Nato-Nordflanke.

De facto haben Finnland und Schweden ihre Verteidigungspolitik bereits so weit­ge­hend an die Nato angepasst, dass der Status der beiden Länder nicht mehr einer Neutra­lität im engeren Sinne entspricht. Unter normalen Umständen wäre ihr Beitritt zur Allianz also fast nur eine Formalisierungssache. Wie Russland darauf reagieren wür­de, ist aber in der aktuell weiter eskalierenden Situation schwer absehbar. Putin hat schon oft betont, dass Russland eine Mit­gliedschaft Schwedens oder Finnlands im westlichen Bündnis nicht ohne weiteres hinnehmen würde. So hat er 2017 einen Nato-Beitritt Schwedens als Bedrohung für Russland bezeichnet und bereits 2016 angekündigt, als Antwort auf einen Beitritt Finnlands russische Truppen an die gemein­same Grenze zu verlegen. Angesichts der Entscheidung Russlands, gegen die Ukraine einen Angriffskrieg zu führen, ist es nicht von der Hand zu weisen, dass Putin diesen Kurs tatsächlich verfolgen könnte.

Langfristige Folgen für den hohen Norden und die Arktis

Die russische Kriegführung hat eine Zeiten­wende in der europäischen Sicherheits­ordnung eingeleitet. Länder wie Finnland, Schweden und Deutschland, die sich mit Rüstungsexporten in Konfliktgebiete tradi­tionell zurückhalten, haben binnen einer Woche be­schlos­sen, Waffen an die Ukraine zu liefern. Die EU hat erstmals in ihrer Geschichte ge­meinschaftlich den Beschluss gefasst, ein angegriffenes Land mit Waffen zu versorgen, und will die Ukraine militä­risch mit Lieferungen im Wert von 500 Mil­lionen Euro unterstützen. Selbst die neu­trale Schweiz hat sich den weitreichenden EU-Sanktionen gegen Russland ange­schlos­sen.

Die Auswirkungen dieser Um­brüche sind in ihrer Gesamtheit noch nicht abseh­bar, doch schon jetzt steht fest, dass Mos­kaus Krieg wie Sprengstoff für die Balance im hohen Norden wirkt. Dort haben euro­päi­sche Staa­ten bislang Aus­gleich und Koope­ration mit Russland ge­sucht, wäh­rend auch Russland selbst zugunsten seiner Sicherheits- und Wirtschaftsinteressen um Stabi­lität bemüht war. Finnland hat 1989 in Rovaniemi die Arctic Environmental Protec­tion Strategy (AEPS) initiiert sowie 1991 die Rovaniemi-Deklaration unterzeichnet, die zur Grün­dung des Arktischen Rates führte. Umweltschutz und friedliche Nutzung der natür­lichen Ressourcen in der Arktis boten damals einen gemeinsamen Nenner, um alle arktischen Staaten an den Verhandlungstisch zu bekommen.

Auch Norwegen wahrte als Nato-Staat stets eine Balance zwischen Abschreckung durch Mitgliedschaft in der Allianz und Rückversicherung für Russland. Einerseits fanden Übungen mit Nato-Verbündeten statt, andererseits beschränkte sich Oslo und ließ keine dauerhafte Präsenz von Nato-Einheiten im eigenen Land zu. Solche Akte selbstauferlegter Beschränkungen verlieren jedoch ihre Legitimation, wenn Russland immer aggressiver auftritt und die Souveränität seiner Nachbarstaaten militä­risch angreift. Damit verabschiedet sich Moskau von den Prinzipien des Völkerrechts und der KSZE-Schlussakte – dazu gehören der Verzicht auf Androhung oder Anwendung von Gewalt, die sich gegen die territoriale Integrität oder politische Un­abhängigkeit eines Staates richtet. Infolgedessen hat Norwegen bereits die Koopera­tion mit den USA erheblich ausgeweitet.

Die veränderte sicherheitspolitische Betrachtung der arktischen Region wird in den jüngsten Strategiedokumenten Finn­lands und Schwedens berücksichtigt. So hat der finnische Militärgeheimdienst 2021 erstmals einen Bericht veröffentlicht, in dem er mit Blick auf Russland nüchtern konstatiert, dass Staaten in der Arktis auch mit militärischen Mitteln ihre Interessen durchzusetzen suchten. Zudem wird im neuesten Verteidigungsbericht des Landes festgehalten, dass die Signifikanz der Groß­mächterivalität im hohen Norden gestiegen sei, wo Seewege aufgrund des hier deutlich schneller voranschreitenden Klimawandels besser zugänglich werden und so neue Mög­lichkeiten entstehen, Ressourcen auszubeuten. Die Arktis ist aufgrund der wachsenden Großmächtekonkurrenz und der dort plat­zierten Militärkapazitäten Russlands be­sonders anfällig für Spillover-Effekte aus anderen Regionen. Dass Moskau hier auf­rüstet, schafft ein hohes Eskalationspotential. Auch in Finnlands neuer Arktisstrategie von Juni 2021 wird betont, wie stark die arktische Sicherheitslage mit (negativen) Entwicklungen in anderen Weltregionen verwoben ist. Sicherheitspolitische Entwick­lungen in der Arktis beeinflussen demnach die gesamte nationale Sicherheit Finnlands und sind eng mit dem Ostseeraum und dem restlichen Europa verknüpft.

In Schwedens neuer Arktisstrategie von Oktober 2020 hat die Sicherheitspolitik ebenfalls einen erhöhten Stellenwert. In der vorausgegangenen Strategie von 2011 hieß es noch, die sicherheitspolitischen Heraus­forderungen der Region hätten keinen mili­tärischen Charakter. Im neuen Strate­gie­papier wird dagegen nicht nur die Notwendigkeit von Frieden und Stabilität betont, sondern auch eine »neue militärische Dyna­mik in der Arktis« konstatiert. Außenministerin Ann Linde hob in einem Kommentar die wachsende strategische und ökonomische Bedeutung der Arktis hervor. Schweden müsse sich dem dort stattfindenden Wandel anpassen. Im Dokument selbst wird erklärt, dass die Arktis lange als ein Gebiet niedriger Spannungen gegolten habe, mit günstigen Bedingungen für internationale Kooperation. Doch brächten der Klima­wandel und die veränderte geopolitische Lage neue Herausforderungen mit sich.

(Wieder-)Einhegung russischer Macht

Sicherheitspolitisch ist allen nordischen Staaten die Anlehnung an die Nato gemein­sam. Ergänzend dazu ver­einbarten nord­europäische Verteidigungsminister im November 2018 in Oslo, sich stärker in der Nordischen Verteidigungs­kooperation (NORDEFCO) zu engagieren und die Inter­operabilität zu verbessern.

Bei den sicherheitspolitischen Interessen der nordischen Staaten lässt sich im letzten Jahrzehnt eine Angleichungstendenz beob­achten, was zum großen Teil Russland geschuldet ist. Seit der Krim-Annexion 2014 finden die nordischen Regierungen auf die­sem Feld immer öfter einen gemeinsamen Nenner – trotz ihrer unterschiedlichen euroatlantischen Bezüge, die eine sicherheitspolitische Zusammenarbeit in der Ver­gangenheit zu einem gewissen Grad er­schwert haben. So sind Dänemark, Finn­land und Schweden Mitglieder der EU, Norwegen und Dänemark wiederum Nato-Staaten. Dänemark allerdings nimmt auf­grund seiner Opt-outs in der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU nicht an der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit (PESCO) teil, während sich Norwegen aufgrund seiner Opt-ins am selben Politikbereich beteiligt. Finnland und Schweden haben bereits eine hohe Interoperabilität mit Nato-Strukturen, ob­wohl beide Länder noch keine Mitglieder im Bündnis sind.

Als Reaktion auf den schon damals er­folgten Anstieg militärischer Aktivitäten auf russischer Seite unterzeichneten die Verteidigungsminister von Finnland, Nor­wegen und Schweden im September 2020 eine Absichtserklärung. Demnach wollen die drei Länder künftig gemeinsam Opera­tionen in Krisen- und Konfliktsituationen durchführen (wobei Norwegen plant, im Krisen- und Kriegsfall das Kommando der Nato zu übertragen), dazu eine strategische Planungsgruppe aufbauen und nationale Operationspläne koordinieren. Zur Inter­operabilität mit US-Streitkräften trägt bei, dass Dänemark, Finnland und Norwegen F‑35-Kampfflugzeuge einführen.

Über die regionale Kooperation hinaus bleibt Großbritannien trotz seines EU-Aus­tritts für die nordischen Staaten der wich­tigste europäische Partner in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Obwohl Deutschland in vielen Bereichen als gleich­gesinnter Partner gilt, wird es in den nordi­schen Staaten bisher nicht als ein zentraler sicherheitspolitischer Akteur wahrgenommen. Nach der Ankündigung von Kanzler Scholz, 100 Milliarden Euro Sondervermögen für die Bundeswehr bereitzustellen, könnte sich dies allerdings ändern. Für die Bundesrepublik als Ostsee-Anrainer ist es geboten, den Norden stärker strategisch (und rüstungspolitisch) zu berücksichtigen und den arktisch-nordatlantischen Raum – ähnlich wie Finnland, aber auch Russland – als eine sicherheitspolitisch zusammenhängende Sphäre zu verstehen. Die Ver­tei­digungszusammenarbeit im Norden ent­wickelt sich aktuell sehr dynamisch, und eine engere Anbindung Deutschlands wäre aufgrund seiner geographischen Lage an der Ostsee von Vorteil. Die Bundeswehr hat bereits erste Schritte in diese Richtung unternommen. So führte die deutsche Marine Mitte Februar 2022 gemeinsame Übungen mit der finnischen und der est­ni­schen Marine durch, um Bündnissolida­rität an der Nato-Nordflanke zu zeigen.

Moskaus Kriegskurs verleiht der Verteidigungskooperation im Norden neuen Schub und wird absehbar dazu führen, dass NORDEFCO ausgebaut und die Zusammenarbeit mit den USA intensiviert wird. Der Kreml führt das Szenario, das er seit Jahr­zehnten als Menetekel beschwört, mit sei­nem Krieg in der Ukraine überhaupt erst herbei: Es ist wieder notwendig geworden, die russische Macht einzuhegen. Ob die von Putin behauptete Bedrohung der russischen Sicherheit der Realität entspricht, ist inso­fern irrelevant, als er ohnehin seit 2007 seinem Narrativ entsprechend handelt und reale Konsequenzen für ganz Europa schafft. Das stellt den Westen vor ein Dilemma: Es ist nicht möglich, exzessive russische Sicherheitsbedürfnisse zu erfül­len, ohne die eigenen Werte, Prinzipien und Interessen zu kompromittieren.

Russland hat eigentlich ein starkes Eigen­interesse an der Stabilität im arktisch-nord­atlantischen Raum, weil seine Sicherheit und sein Wirtschaftsmodell von dieser Re­gion abhängen. So ist Moskaus Aggres­sion nicht nur deshalb kontraproduktiv, weil sie den Westen enger zusammenrücken lässt und in der Ukraine den Willen stärkt, die Souveränität des eigenen Staates zu ver­tei­digen. Sie ist es auch im Hinblick auf Frie­den und Stabilität im hohen Norden, auf die Russland angewiesen bleibt. Wirtschaftliche Überlegungen scheinen jedoch in Moskaus Kalkül keine übergeordnete Rolle mehr zu spielen; im Zweifelsfall rangiert nationale Sicherheit – bzw. Regimesicherheit – vor ökonomischen Fragen. Deshalb ist nicht auszuschließen, dass eine ähnliche Eskalation im hohen Norden folgen könn­te, solange im Kreml das Regime Putin herrscht.

Dr. Michael Paul ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik.
Minna Ålander ist Forschungsassistentin der Forschungsgruppe EU / Europa.

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2022

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