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Israels antiliberale Koalition

Die neue Regierung verfolgt grundlegende Änderungen der staatlichen Ordnung und im israelisch-palästinensischen Konflikt

SWP-Aktuell 2023/A 03, 19.01.2023, 8 Pages

doi:10.18449/2023A03

Research Areas

Die neue Regierung in Israel steht politisch so weit rechts wie keine andere vor ihr. Der Erfolg der rechtsradikalen Parteien und ihre Beteiligung an der Regierung sind Ergebnisse einer länger anhaltenden Transformation der politischen Landschaft Israels. Kennzeichnend für diese Entwicklung ist die Genese einer rechten Mehrheit, die mit einer Rechtsverschiebung des Mainstreams und der politischen Legitimierung des radikalsten Segments der israelischen Gesellschaft einhergeht. Der gemeinsame Nenner dieser Regierung ist ein antiliberaler Impetus, der auf eine Neuordnung des Staates hinausläuft. Die Regierung beabsichtigt, demokratische Mechanismen, ins­besondere das System von Checks and Balances, den Status des Obersten Gerichtshofs und den der Grundrechte, zu schwächen. Stattdessen sollen majoritäre Prinzipien gestärkt werden, die den Regierungsmehrheiten kaum mehr Schranken auferlegen. Dieser disruptive Ansatz bezieht sich auch auf den Konflikt mit den Palästinensern: Hier wird ein Sieg angestrebt. Die Integration des Westjordanlands in das Rechts­gebiet des Staates Israel soll unumkehrbar gemacht werden.

Mitglieder der neuen Koalition bezeichnen diese als »vollwertig rechte«, als »wahrhaft rechte« oder schlicht als »nationale Regie­rung«. Die Koalitionäre bestehen aus dem Likud (32 Sitze), den beiden Par­teien der oft »ultraorthodox« genannten Charedim, Schas (11) und Vereinigtes Thora-Judentum (VTJ, 7), sowie dem radikalen Parteienbünd­nis Religiöser Zionismus (14), das sich aus der namensgebenden Partei, Otzma Jehudit und der Kleinstpartei Noam zusammensetzt. Alle Parteien entstammen dem rech­ten, antiliberalen Lager. In Israel erfolgt die parteipolitische Einordnung in »links« und »rechts« entlang der Achsen gegensätzlicher Auffassungen zum Konflikt mit den Paläs­tinensern und zur Identität des Staates; die sozioökonomische Dimension ist nach­geordnet.

Ziel dieser Koalition ist es, diese zentralen Kontroversen, die die israelische Gesellschaft prägen, mindestens vorzuentscheiden. Dies gilt sowohl für den Konflikt mit den Paläs­tinensern als auch für das – aus ihrer Sicht zu liberale – Profil des Staates und seiner Institutionen. Der antiliberale Impetus rich­tet sich hier gegen die zentralen Merkmale der liberalen Demokratie (und nicht gegen Wirtschaftsliberalität), das heißt gegen die normative Verankerung von Menschen­rechten und die damit verknüpfte Kontrolle des Parlaments durch eine unabhängige Gerichtsbarkeit. Demgegenüber zielt die neue israelische Regierung auf die Etablie­rung einer majoritären Demokratie und betrachtet solche Beschränkungen als illegitime Beschneidung des demokratischen Prozesses.

Die neue Koalition ist kein Betriebsunfall. Bereits mit der ersten der fünf Wahlen seit 2019 zeichnete sich die Möglichkeit einer Rechtskoalition ab, die Israel grundlegend verändern könnte. Dies ist das Ergebnis einer politischen Transformation des Lan­des, die sich ab 2015 noch deutlich dyna­misiert hat: Im Parlament verfestigte sich eine rechte Mehrheit, der rechte Main­stream radikalisierte sich, und es fand eine Entgrenzung statt, die in der Legitimierung des extremen Randes des politischen Spek­trums mündete.

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Der politische Rechtsrutsch

Es gibt eine Reihe von Gründen für diesen Verlauf. Ein Faktor ist, erstens, die demo­graphische Entwicklung. In Israel gilt: Je jünger, desto politisch rechter. Das hängt mit den hohen Geburtenraten in den reli­giös-zionistischen und ultraorthodoxen Milieus zusammen. Insgesamt verorten sich heute mehr als 60 Prozent der jüdischen Israelis politisch rechts. Dies korrespondiert mit der Zusammensetzung des Parlaments: Denn das Scheitern des Friedensprozesses macht, zweitens, linke Positionen unglaubwürdiger und rechte plausibler. Seit Mitte der 2000er Jahren lässt sich ein kontinuierlicher Abwärtstrend der linken und eine wachsende Dominanz der rechten Parteien beobachten. Nachhaltig verstärkt wurde diese Tendenz, drittens, dadurch, dass die Parteien der Charedim ihre Schlüssel­position als Königsmacher zwischen den politischen Blöcken aufgaben und sich nun ebenfalls im rechten Lager positionieren. Ab 2015 hatte das rechte Lager zusammen mit der Mitte-rechts-Partei Kulanu die Majo­rität in der Knesset, seit 2019 gibt es rein rechte Mehrheiten im Parlament.

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Diese Mehrheit war, viertens, dauernd begleitet von internen Kämpfen um die Hegemonie, die zu einer Radikalisierung führten: Plötzlich erschien die Verwirk­lichung rechter politischer Vorstellungen, die bis dato nur abstrakt diskutiert worden waren, in greifbare Nähe zu rücken. Es be­gann ein Prozess, in dem diese Vorstellun­gen in konkrete politische Pläne und Ge­setzesvorschläge übersetzt wurden. Gleich­zeitig wurde der Likud gezwungen, Farbe zu bekennen. Weiter rechts stehende Par­teien drängten (und drängen) den Likud, diese Visionen auch umzusetzen. Das galt auch für dessen Führer Benjamin Netanjahu: Der heutige Vorsitzende des Religiösen Zionismus, Betzalel Smotrich, etwa hielt ihm 2016 vor, er sei gar nicht rechts und bevorzuge Koali­tionen, die linke oder Zen­trumsparteien inkludieren. In den Umfragen ließ sich dies an der Abwanderung von Likud-Wählern zu weiter rechts stehenden Parteien ablesen. Auch als sich 2015 be­reits eine Rechtskoalition etablierte, setzten sich diese Dynamik und der Kampf um ideologische Vorherrschaft fort. Netanjahu reagierte darauf mit einem inhaltlichen Rechtsruck (den seine Partei schon voll­zogen hatte) und ermöglichte etwa das Nationalstaatsgesetz oder ein Gesetz, das selbst nach israelischem Recht illegale Outposts legali­sierte. Dass, fünftens, die USA unter Präsi­dent Donald Trump viele der rechten Posi­tio­nen unterstützten, tat ein Übriges, um den Trend weiter zu verstärken.

Als Katalysator dieses Prozesses erwies sich letztlich die gegen Netanjahu erhobene Anklage wegen Korruption. Im Kontext des Strafverfahrens wandten sich ab der Wahl 2019 zunächst die Partei Israel Beitenu, dann die Likud-Abspaltung Neue Hoffnung unter Gideon Saar und schließlich das Bünd­nis Yamina von Netanjahu ab. Um den Ver­lust dieser Stimmen auszugleichen, mobili­sierte der Premier Kräfte am extremen Rand des rechten politischen Spektrums, die be­reit waren, ihn vor der Korruptionsanklage zu schützen. Im Vorfeld der Wahl 2021 orchestrierte Netanjahu daher den neuen rechtsradikalen Parteienzusammenschluss des Religiösen Zionismus. Die Idee dahinter war, dass in Anbetracht der 3,25-Prozent­hürde keine Wählerstimme für diese Par­teien verloren gehen sollte. Kurz vorher begann Netanjahu bereits, sich als Anführer einer harten ideologischen Rechten zu prä­sentieren und Pläne für eine Annexion des Westjordanlands oder von Teilen davon zu befürworten.

All diese Manöver resultierten in einer Entgrenzung nach rechts: Für das Netan­jahu-Lager gibt es seitdem keine Partei im rechten Spektrum mehr, die sich durch zu radikale Positionen für eine Zusammen­arbeit disqualifizieren würde. Dies offen­bart sich vor allem am Beispiel von Otzma Jehudit, der Nachfolgepartei der wegen Rassismus verbotenen Kach. Wenn deren Gründer Meir Kahane in den 1980er Jahren in der Knesset ans Rednerpult trat, verließ das Plenum den Saal. Anders heute: Seiner Nachfolgepartei Otzma Jehudit wurde von Netanjahu nicht nur der Weg ins Parlament geebnet, sondern auch ins Kabinett.

Israels neue Rechte

Der Likud ist nicht mehr zu vergleichen mit der nationalliberalen Partei, die er noch in den 2000er Jahren war. Auch frühere Partei­größen wie Dan Meridor, Benny Begin oder Reuven Rivlin haben sich vom heutigen Likud distanziert und werden umgekehrt aus den aktuellen Reihen kritisiert. Zwar vertrat der Likud schon nach seiner Gründung das Ziel eines »Groß-Israel«, das mindestens das Westjordanland beinhalten sollte. Nach den Oslo-Abkommen wurde der Diskurs über den finalen Status aber lange Zeit von dem über Konfliktmanagement überlagert. Dies änderte sich in den 2010er Jahren: Inzwi­schen geht es nicht mehr um Konflikt­management, sondern darum, die Palästinen­ser zur Aufgabe zu bewegen und wenigs­tens Teile des Westjordanlands in den israe­lischen Staat zu integrieren. Die Forde­rung nach Annexionen wurde im Lauf des Jahr­zehnts zum Mainstream in der Partei. Als Letzter machte sie sich Netanjahu zu eigen. Begleitet war dieser Prozess von konkreten Plänen und Gesetzesvorlagen. Demnach soll die palästinensische Bevölkerung künftig entweder außerhalb des Staates Israel in semiautonomen Enklaven unter israelischer Kontrolle leben oder innerhalb des Staates keine politischen Rechte bekom­men.

Einschneidender für den Likud ist aber die weitgehende Aufgabe seiner Identität als nationalliberale Kraft und die Trans­formation in eine majoritären Prinzipien an­hängende und oftmals populistische Partei. Dieser Wandel zeigt sich vielfach in den ver­balen Angriffen auf Medien, poli­tische Geg­ner, die arabische Minderheit, aber vor allem auch auf das Justizsystem und den Obersten Gerichtshof. Während der Likud 1992 mit dem Grundgesetz (Israel hat 12 Grundgesetze, aber keine Verfassung) »Menschenwürde und Freiheit« einen der konstitutionellen Eckpfeiler Israels als libe­rale Demokratie etablierte, ist es heute eines der wichtigsten Ziele der Partei, diese Gesetz­gebung zu neutralisieren. Justiz­minister Yariv Levin, der ideologische Taktgeber des Likud, betont etwa, dass das Judentum im jüdischen Staat Vorrang haben müsse. Der Oberste Gerichtshof beschädige die Demo­kratie schwer. Netanjahu spricht im Kon­text der gegen ihn gerichteten An­klage auch vom »tiefen Staat«, bestehend aus Medien und Justizorganen, der staatsstreichartig gegen demokratisch gewählte rechte Regie­rungen vorgehe. Seit der Eröffnung des Straf­prozesses ist Netanjahu von den Verteidi­gern des Gerichtshofs ins Lager der schärfs­ten Kriti­ker dieser Instanz gewechselt.

Entgrenzung nach rechts

Am rechten Rand ist das jüdisch-orthodoxe Bündnis »Religiöser Zionismus« zur Wahl angetreten. Dies umfasst einerseits die Kleinstpartei Noam, die vor allem durch ihre Anti-LGBTQI-Positionen bekannt ist. Ferner gehören ihm die inhaltlich sehr ähn­lichen Parteien Zionismus und Otzma Jehu­dit an, wobei Otzma Jehudit immer etwas radikaler auftritt. Beide Parteien plädieren für eine Annexion des Westjordanlands, vertreten die Interessen der Siedler und fordern einen Transfer der Palästinenser aus dem Westjordanland und aus Israel, zum Beispiel nach Europa. Der Vorsitzende des Religiösen Zionismus Smotrich hat diese Pläne in einem Dokument festgehalten, Itamar Ben-Gvir, der Kopf von Otzma Jehu­dit, in verschiedenen Interviews ver­treten. Otzma Jehudit will zudem ein Emigrations­ministerium einrichten. In ihrem Parteiprogramm fordert die Partei auch einen »totalen Krieg« gegen Israels Feinde. Zu denen zählten, wie der frühere Parteivorsitzende Michael Ben-Ari konstatierte, 99 Pro­zent der Araber. Smotrich rief 2021 den arabischen Abgeordneten zu, dass ihre Prä­senz in der Knesset ein historischer Fehler des ersten Ministerpräsidenten Israels, David Ben Gurion, sei. Dieser habe »seinen Job nicht vollendet, sie hinauszuwerfen«.

In diesen Parteien finden sich auch Per­sonen, die eine direkte Nähe zu Gewalt­akteuren haben. Ben-Gvir selbst wurde wegen Anstachelung zum Rassismus und Mitgliedschaft in einer Terrorgruppe ver­urteilt. Beide Parteien fordern zudem, dass man die Rechte des Obersten Gerichtshofs stark beschneiden müsse. Das Prinzip eines jüdischen Staates und die religiösen Gebote stünden über den Werten des Friedens und der westlichen Demokratie. Ferner vertre­ten sie den Standpunkt, dass Israel auch nach einer Annexion des Westjordanlands eine Demokratie sei, selbst wenn die dortige palästinensische Bevölkerung keine staats­bürgerlichen Rechte erhielte. Fernziel dieser Parteien ist ein Staat auf Grundlage der Halacha, des religiösen Gesetzeskodex.

Die Parteien der Charedim

Die beiden ultraorthodoxen Parteien Schas und VTJ sind zurückhaltender, was die be­setzten Gebiete betrifft, da sie, anders als viele religiöse Zionisten, keine messianische Hoffnung mit der Besiedlung verbinden. Vielmehr betreiben sie Klientelpolitik. Sie kümmern sich vor allem um die Finanzierung der Thoraschüler und deren Schutz vor dem Einfluss von Staat und Gesellschaft – etwa dahingehend, dass ihre Schulen kaum säkulare Fächer unterrichten müs­sen, nur etwa 50 Prozent der Männer einer Arbeit nachgehen und stattdessen die Thora stu­die­ren und kaum im Militär dienen.

Dennoch sind auch die Ultraorthodoxen in den letzten Jahren nach rechts gerückt. Einer der Gründe dafür ist, dass Netanjahu ihnen in allen oben erwähnten Themen entgegenkommt, während die Opposition ihre Sonderstellung aufheben möchte. Die stärkere Integration der jahrzehntelang isolierten Gemeinschaft führt außerdem dazu, dass die Ultraorthodoxen zunehmend auch Ansprüche anmelden, was die innere Gestaltung des Staates Israel und insbesondere dessen Beziehung zur jüdischen Reli­gion angeht. Ihre extrem konservative Welt­sicht beeinflusst die israelische Gesellschaft mehr und mehr, etwa durch das Schaffen öffentlicher Räume, in denen Geschlechtertrennung gilt. Lautstark wenden sie sich zu­dem gegen den »liberalen Terror« des Obers­ten Gerichtshofs, der viele ihrer Vor­rechte unter Verweis auf Gleichberechtigungs­grundsätze aufgehoben hat. Daher sind sie Vorreiter bei der Forderung, den Gerichts­hof zu entmachten.

Auch wenn der Umgang mit den besetzten Gebieten für die Charedim von nach­geordneter Bedeutung ist, kann man auch dies­bezüglich einen Rechtsruck attestieren. Das hängt damit zusammen, dass die am schnellsten wachsenden Siedlungen von Ultraorthodoxen bewohnt werden. Daher stehen diese einem Rückzug aus den Gebie­ten kritisch gegenüber. Schwerer wiegt noch, dass die ultraorthodoxe Wählerschaft, insbesondere die Jugend, weiter nach rechts rückt. Das heißt, die Parteien sind gezwungen, programmatisch nachzusteuern, um ihre Unterstützer nicht zu verlieren – ge­rade bei der letzten Wahl haben sie Wähler an den Religiösen Zionismus verloren. Bei den Charedim führt – entgegen herkömmlicher wissenschaftlicher Annahmen – die zunehmende Demokratisierung durch poli­tische Teilhabe daher eher zu einer Radika­lisierung denn zu einer Mäßigung.

Stoßrichtungen der Koalition

Der wichtigste gemeinsame Nenner dieser Regierung ist die Schwächung liberal ge­prägter Institutionen und die Stärkung natio­naler bzw. religiöser Kollektivvorstellungen. Was das in seiner extremeren Form bedeuten kann, ließ sich während der Koali­tionsverhandlungen beobachten: Es gab Forderungen nach unbegrenzter Haft für Asylsuchende, nach einem Recht für Ärzte, die Behandlung bestimmter Gruppen (etwa aus der LGBTQI-Gemeinde) zu ver­wei­gern, oder nach der Beseitigung der Bestim­mung, dass Rassismus einer der Gründe ist, für die man für die Wahl zum Parlament disqualifiziert werden kann. Die israelische Regie­rung geht damit einen Weg, den auch andere Bewegungen oder Regierungen be­schreiten, die sich majoritären Prinzipien verschrieben haben, etwa in Polen, Ungarn, den USA, Brasilien oder Indien.

Dabei hat der antiliberale Impetus in Israel noch spezifische Weiterungen, weil er sich nicht nur per se gegen liberale Werte oder gegen das, was klassisch als Gefahr für ethno­nationale Kollektive begriffen wird (zum Beispiel Immigration), richtet. In Israel kommt der Konflikt mit den Palästi­nensern hinzu, der für den Staat nicht nur eine territoriale, sondern auch eine identi­tätsbestimmende Dimension hat. Die Kritik an der Universalität der Menschen- und Min­derheitenrechte verbindet sich im Dis­kurs über die Palästinenser mitunter mit einer offen zur Schau getragenen Missachtung des Völkerrechts.

Die Transformation der Judikative

Betrachtet man die Vorhaben der neuen Koalition, gibt es kaum ein Feld, in dem die Regierung nicht Änderungen der norma­tiven Grundlagen und Funktionsweisen der Institutionen anstrebt. Der Wille zur Um­gestaltung betrifft die Organisation der Besatzung des Westjordanlands, das Erzie­hungswesen, die Stellung der Frauen, der LGBTQI-Community und der arabischen Minderheit, den Justizapparat, das Polizei­wesen, das Verhältnis von Staat und Reli­gion, das Staatsbürgerrecht etc.: Diese Regie­rung ist von einem antiliberalen, kultur­revolutionären Momentum getrieben.

Dabei treten in der Regel zwei Stoßrichtungen zutage: Erstens sollen die funktionalen Imperative und Checks and Balances, nach denen die Institutionen operieren, zu­gunsten eines politischen Mehrheitsprinzips ausgehebelt werden; und zweitens sol­len auf den genannten Feldern langfristig ethnonationale Prinzipien handlungslei­tend sein. Unmittelbar sichtbar wird dieser Ansatz zum Beispiel, wenn Ben-Gvir exklu­sive Kompetenzen erhält, um Verhaltens­richt­linien für die Polizei vorzugeben, wenn innermilitärische Befugnisse direkt dem neuen Ministerium unter Smotrich zugewiesen werden oder sicherlich am auf­fälligsten bei der geplanten Beschneidung der Rechte des Justizapparats und des Obers­ten Gerichtshofs.

Letzteres ist deswegen von so großer Bedeutung, weil der Gerichtshof die einzige Einrichtung ist, die gegenüber dem Parla­ment eine effektive Kontrollfunktion aus­übt. Dies gilt insbesondere für seine aus dem Grundgesetz »Menschenwürde und Freiheit« extrapolierte Normenkontrollfunktion. Das israelische Regierungssystem kennt keine Gegengewichte oder Machtbegrenzung in Form einer zweiten Kammer, keine präsi­den­tiellen Prärogative, keine umfassende Verfassung und auch keine föderale Struk­tur. Der Gerichtshof hat die Normen­kontrolle seit 1995 genutzt, um 22 Gesetze und weitere Regierungsentscheidungen zurückzuweisen, zum großen Ärger der Rechten, die diese Praxis als fundamental undemokratisch kritisieren. Zum Ver­gleich: Das deutsche Bundesverfassungs­gericht hat im gleichen Zeitraum mehr als 200 Gesetze mindestens teilweise aufgehoben oder Ände­rungen daran verlangt.

Justizminister Levin hat nun einen um­fassenden Plan vorgestellt, wie der Gerichtshof geschwächt werden soll. So soll die Wahl der Richter in Zukunft durch eine politische Mehrheit zustande kommen. Das juristische Prinzip der Angemessenheit soll nicht in Bezug auf Regierungsentscheidun­gen angewendet werden können. Am wich­tigsten ist aber wohl die »Überstimmungsklausel«. Damit soll das Parlament Normen­kontrollverfahren, das heißt Urteile des Gerichtshofs auf Grundlage der israelischen Grundgesetze, mit einfacher Mehrheit über­stimmen können – lediglich wenn alle 15 Richter die Aufhebung eines Gesetzes unterstützen, soll dies nicht gelten. Im End­effekt würde diese Reform die in Israel ohne­hin limitierten Prinzipien der liberalen Demokratie aushebeln. Denn ohne Normen­kontrolle hat die parlamentarische Mehr­heit kaum mehr Beschränkungen. Letztlich können auch die gesetzlichen Grundlagen, auf denen der Gerichtshof operiert, geändert werden. Zugleich schafft die Justizreform die Voraussetzungen für weitere Reformen, die bis dato am Gerichtshof scheiterten oder gar nicht erst angestoßen wurden.

Einige Politiker haben bereits angekündigt, dass sie Gesetze, die vom Gerichtshof schon einmal zurückgewiesen wurden, in dieser Legislaturperiode unverändert neu verabschieden wollen: Dazu gehört die Lega­lisierung vormals illegaler Außenposten im Westjordanland, die Ein­führung der un­begrenzten Sicherheitsverwahrung oder die Befreiung der Charedim vom Militärdienst. Auch exekutive Entscheidungen, die der Gerichtshof ebenfalls annulliert hatte, könnten wieder in Kraft treten, etwa die regelmäßige Disqualifizierung verschiedener arabischer Parteien vor Knesset-Wahlen oder die öffentliche Finan­zierung geschlechtergetrennter Veranstaltungen. Und nicht zuletzt dürfte auch der Verlauf der Anklage gegen Netanjahu von der (verblie­benen) Stärke des Justizapparats abhängen.

Die besetzten Gebiete

Innerhalb der Rechten gibt es einen Kon­sens darüber, dass nur das jüdische Volk einen historischen Anspruch auf das Westjordanland hat, dass sich Israel nicht mehr daraus zurückziehen wird und dass es einen paläs­ti­nensischen Staat zwischen Jordan und Mittelmeer nicht geben kann. Im Koalitions­rahmenvertrag heißt es bereits im ersten Satz: »Das jüdische Volk hat ein exklusives und unveräußerliches Recht auf alle Teile des Landes Israel […] – Galiläa, Negev, den Golan und Judäa und Samaria.« Daher ist diese Regierung auch weit davon entfernt, nach einem Kompromiss mit den Palästinen­sern zu suchen. Vielmehr geht es darum, den Konflikt so weit wie möglich unilateral zu entscheiden und die Kontrolle über weite Teile des palästinensischen Gebiets, insbesondere die C-Gebiete, zu verstetigen.

Alle Mitglieder dieser Regierung unterstützen auch mindestens Teilannexionen (siehe dazu zahlreiche Interviews im Jour­nal »Ribonut«), sind aber unterschiedlicher Meinung, ob dies gerade strategisch klug sei – der Likud scheint dies eher zu ver­neinen. Im Koalitionsvertrag mit dem Reli­giösen Zionismus (§118) steht jedoch, dass der Premier eine Politik für die Übertragung der »Souveränität« (sprich Annexion) des Westjordanlands konzipieren soll. Wie diese genau aussehen soll, ist noch unklar. Likud-Politiker Levin formuliert, an welcher Strategie sich die Koalition hier orientieren sollte, wenn nicht offiziell annektiert wird: Die Regierung müsse versuchen, »ein Maxi­mum an Territo­rium zu halten und die Souveränität über ein Maximum an Terri­torium auszuüben, während die arabische Bevölkerung in diesem Gebiet auf ein Mini­mum beschränkt wird.« Damit beschreibt Levin einen Prozess, den man als De-facto-Annexion bezeichnen kann, nämlich die rechtliche Integration von Siedlungen und Siedlern in das israelische Rechtssystem, obwohl im Westjordanland Besatzungsrecht herrscht und somit der Oberbefehlshaber der zuständigen Militäreinheit dort auch völkerrechtlich der Souverän ist. Der israelische Think-Tank INSS schließt aus den Koalitionsvereinbarungen, dass Israel sich in einem Prozess der beschleunigten Annexion befinde. In der Tat hat der Likud bereits angekündigt, dass die neue Regie­rung eine Reform zur »staatsbürgerlichen Gleichstellung der Siedler« durchführen werde, ohne aber den legalen Status der Territorien zu verändern. Auch haben Teile der Koalition betont, den Status quo auf dem Tempelberg verändern zu wollen – eine Maßnahme, der besonderes Eskala­tions­potential innewohnt.

Generell ist zu befürchten, dass die Ge­walt im Westjordanland weiter zunehmen wird. Schon unter der Bennett-Lapid-Regie­rung 2021/22 haben die gewalttätigen Aus­einandersetzungen zwischen dem israelischen Militär, Palästinensern und Siedlern einen Höchststand seit Ende der Zweiten Intifada erreicht. Bei Teilen der neuen Re­gie­rung scheint zumindest fraglich, ob sie Interesse an einer Beruhigung der Situation haben oder eine Eskalation anstreben, um ein weitergehendes Vorgehen gegen die Palästi­nenser rechtfertigen zu können. Vor allem die Tatsache, dass Ben-Gvir und Smotrich in ihren neu zugeschnittenen Ministerien weitreichende administrative, aber auch polizeiliche Befugnisse haben, trägt zu dieser Befürchtung bei: Denn damit sind zwei Schlüsselpositionen, die die Rah­menbedingungen des Lebens der Palästinen­ser im Westjordanland maßgeblich mit­bestimmen, nun in den Händen von Perso­nen, die die palästinensische Bevölkerung umsiedeln wollen.

Ausblick

Netanjahu hat in verschiedenen Interviews geäußert, dass man sich keine Sorgen um die Radikalen in seinem Kabinett machen müsse, weil er die Entscheidungsgewalt in der Regierung habe. Allerdings deuten die Entwicklungen der letzten Wochen nicht darauf, dass er seinen mäßigenden Einfluss derzeit ausüben kann oder will. Vielmehr scheint diese Regierung gewillt, den Staat Israel deutlich illiberaler zu gestalten und entscheidende Weichen zu stellen, um das Westjordanland permanent unter israelischer Kontrolle zu behalten.

Für die deutsche Außenpolitik ist diese israelische Regierung eine Herausforderung. Vor dem Hintergrund seiner historischen Verantwortung einerseits und seiner Ver­pflichtung auf universelle Prinzipien wie Völker- und Menschenrechte andererseits hat sich Deutschland bis dato für eine Zwei- Staaten-Lösung eingesetzt. Die Hoffnung, dass israelische Völkerrechtsverstöße durch eine Lösung des Konflikts perspektivisch aufhören könnten, ist angesichts der aktu­ellen Regierung – die ja Ausdruck eines längerfristigen Trends ist – allerdings völ­lig unrealistisch; im Gegenteil, diese Regie­rung hat die Absicht, eine Zwei-Staaten-Lösung zu verunmöglichen.

Wenn Deutschland einen sinnvollen und konstruktiven Part im Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern übernehmen will, muss es sich dieser Situation anpassen. Dazu gehört, präventiv im Konzert mit den USA und der EU, gegebenenfalls auch mit einigen arabischen Staaten, darauf hinzu­wirken, dass eine Gewalteskalation vermie­den wird. Dies gilt auch für konkrete Sied­lungsbauvorhaben und die Verdrängung der Palästinenser aus dem von Israel voll­ständig kontrollierten Teil des Westjordanlands (C-Gebiete) und Jerusalem. Generell sollte es der deutschen Politik darum gehen auszuloten, wie eine verhandelte Konflikt­regelung erhalten werden kann und welche Maßnahmen dafür in Frage kommen.

Doch das Profil der neuen israelischen Regierung wirft noch grundlegendere Fra­gen auf: Was könnte eine deutsche Position zum Konflikt sein, wenn klar werden sollte, dass eine Zwei-Staaten-Lösung nicht mehr möglich ist? Auch über die Frage, inwiefern eine Besatzung – die per Definition tempo­rär sein muss – noch völkerrechtlich legi­tim sein kann, wenn klar ist, dass die Besat­zer das Territorium nicht verlassen wollen, muss diskutiert werden. Letztlich bedarf es eines Prozesses der Selbstbefragung, wie vor diesem Hintergrund eine deutsche Israel­politik aussehen kann, bei der weder die Verantwortung aus dem historischen Erbe noch grundlegende Werte deutscher Außen­politik aufgegeben werden.

Dr. Peter Lintl ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Afrika und Mittlerer Osten.

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