Der Krieg in der Ukraine stellt Deutschlands Energiepolitik auf den Kopf. Ihre Prioritäten müssen austariert, die Energietransformation stärker aus geopolitischer und geoökonomischer Sicht betrachtet werden, meint Jacopo Maria Pepe.
Angesichts der russischen Aggression auf die Ukraine hat die Bundesregierung angekündigt, die Abhängigkeit von russischem Gas möglichst schnell zu reduzieren. Sie will die Energieversorgung unter anderem durch eine Diversifizierung der Gas- und Kohlelieferanten, den Bau von zwei Terminals für Flüssigerdgas (LNG) sowie einer Kohle- und Gasreserve sichern. Schon 2035 soll Deutschland zu 100 Prozent erneuerbare Energien nutzen. In der Tat steht die Bundesregierung vor enormen Dilemmas und schwerwiegenden langfristigen Richtungsentscheidungen, die mit ihren geopolitischen und geoökonomischen Implikationen weit über diese Maßnahmen hinausgehen.
Der Ukraine-Krieg stellt die Energietransformation vor signifikanten Dilemmas. Einerseits muss sie an Tempo und Tiefe gewinnen, auch um die Abhängigkeit von russischen Lieferungen drastisch zu reduzieren. Anderseits zeigt sich der Trade-off zwischen hohen klimapolitischen Ansprüchen und Versorgungssicherheit noch vehementer als vor dem Krieg in der Ukraine.
Die Abhängigkeit von russischen Gaslieferungen zu reduzieren ist angebotsseitig nur durch die beträchtliche Ausweitung von Flüssigerdgas-Importen möglich. Es bleibt allerdings offen, ob ausreichende LNG-Kapazitäten dauerhaft für Deutschland und Europa verfügbar sein werden. Einerseits haben die USA als wichtigster Exporteur Probleme beim Infrastrukturausbau. Andererseits ist der LNG Anteil am globalen Gasverbrauch vergleichsweise gering und der Markt umkämpft. Darüber hinaus ist die Umweltbilanz der gesamten LNG-Wertschöpfungs- und Lieferkette insbesondere für Flüssigerdgas aus den USA schlecht und steht somit in Widerspruch mit den Klimazielen der Bundesregierung.
Ein beschleunigter Ausstieg aus russischem Gas müsste idealerweise nicht nur durch einen noch schnelleren Ausbau von erneuerbaren Energien erreicht werden, insbesondere der Windkraft, da diese der größte Anteil am Bruttostromverbrauch ausmacht. Es bedarf auch einer noch schnelleren Reduktion des Endenergieverbrauchs, der Elektrifizierung von Wärme und einer deutlichen Beschleunigung beim Ausbau der nationalen und internationalen Strominfrastruktur.
Der Weiterbetrieb von Kohlekraftwerken wäre denkbar, würde den ambitionierten Klimazielen aber zuwiderlaufen. Der Ausstieg aus dem Kernkraftausstieg würde hingegen dabei helfen, die Klimaziele zu erreichen und gleichzeitig den Gasbedarf zu verringern, ist aber ohne eine politische Grundsatzdiskussion und sozialen Konsens nicht durchsetzbar.
Unter diesen Bedingungen müsste die Bundesregierung dem Markthochlauf von Wasserstoff absolute Priorität einräumen, da dieser sowohl als Energiespeicher als auch als Energieträger einsetzbar ist. Hohe Energiepreise erschweren aber die teure Umstellung der Produktionsprozesse in der energieintensiven Stahl- und Chemieindustrie: Ohne eine schnelle Skalierung der grünen Wasserstoffproduktion – auch durch massive staatliche Beihilfe – kann die zu erwartende positive Kostenentwicklung von Elektrolyseuren, also jenen Geräten die Wasserstoff erzeugen, geschmälert werden. Gegebenenfalls müsste die Bundesregierung auch einen technologieoffeneren Ansatz verfolgen, der nicht nur auf grünen Wasserstoff setzt. Im Falle von aus Erdgas erzeugtem Wasserstoff wäre allerdings die Frage nach der Diversifizierung der Lieferquellen genauso akut wie beim Erdgasimport. Der für die Wasserstoffproduktion enorme und kaum durch heimische Produktion zu deckende Bedarf an Wasserstoffmolekülen oder grünen Elektronen erfordert in jedem Fall die Sicherung von Importen, den Ausbau von einer diversifizierten Importinfrastruktur und neue internationale Energiepartnerschaften. Die außenpolitische Dimension von Wasserstoff muss daher noch stärker betont werden. Das sehr wahrscheinliche Wegfallen von Russland und der Ukraine als zwei mögliche Wasserstoffpartner in der unmittelbaren Nachbarschaft wird die Auswahl in der östlichen Nachbarschaft einschränken. Die Bedeutung von südlichen Partnern in Nordafrika und im Mittleren Osten wird zunehmen. Hier wird die Frage nach der Wahl der Technologiepfade, der Wasserstoffart und seiner Derivate sowie des Transportes und der Logistik noch akuter.
Der Ukrainekrieg zwingt Deutschland, die Prioritäten im energiepolitischen Dreieck Nachhaltigkeit, Wettbewerbsfähigkeit und Versorgungssicherheit mittel- bis langfristig neu auszutarieren. Mit Blick auf Versorgungsicherheit und Wettbewerbsfähigkeit muss die Bundesregierung bereits jetzt folgende drei langfristige Implikationen ihrer Entscheidungen mitberücksichtigen:
Geopolitisch gewinnt die Energietransformation zwangsläufig an Bedeutung, nicht nur mit Bezug auf Russland: Technopolitischer und regulatorischer Wettbewerb mit den USA und China, Sicherung von kritischen Rohstoffen und Lieferketten, neue Abhängigkeiten, Schaffung von Resilienz und Sicherung des industriellen Standortes müssen stärker mitgedacht werden. Die Energietransformation kann nicht mehr nur aus klimapolitischer Perspektive betrachtet werden.
Geoökonomisch bedeutet eine Entkoppelung von Russland eine mittel- bis langfristige Zunahme der deutschen Abhängigkeit von Häfen und maritimen Energiehandel sowie vom volatilen globalen Gasmarkt. Gegenwärtig stellt die Zunahme von Protektionismus und Merkantilismus sowie der Wettbewerb mit China einen Stresstest für die deutsche Wirtschaft dar. Das vorzeitige oder gar abrupte Ende von stabilen und relativ günstigen erd- beziehungsweise leitungsgebundenen Energielieferungen wird zu einem zusätzlichen Unsicherheitsfaktor. Auch die relativ günstige Umrüstung bestehender Pipelineinfrastruktur für den Wasserstofftransport aus Osteuropa und Russland wird politisch wie ökonomisch auf absehbarer Zeit schwer realisierbar sein.
Schließlich wird geostrategisch eine perspektivische Entkoppelung Deutschlands vom kontinentalen Energiehandel mit Russland zweierlei Folgen haben. Zum einen wird aufgrund der russischen infrastrukturellen und regulatorischen Dominanz in Eurasien die Diversifizierung der Energiepartnerschaften in dem Raum erschwert. Zum anderen ist auf längerer Sicht eine weitere Kontinentalisierung russischer Energieexporte Richtung Asien und China absehbar, wenngleich kurzfristig schwer realisierbar. Somit könnte die russisch-chinesische Beziehung abermals gestärkt werden.
Ein Stopp russischer Gaslieferungen würde die EU vor Probleme stellen. Gas aus dem östlichen Mittelmeer ist aber keine Alternative. Eine Fokussierung der Region auf erneuerbare Energien könnte der EU helfen, meint Moritz Rau.
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