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Der europäischen Migrationspolitik fehlt der Realitätsbezug

In der Migrationspolitik agiert die EU im Krisenmodus und setzt vor allem auf Abschottung – zu Unrecht, wie David Kipp und Melanie Müller darlegen. Sie nennen vier Umstände, die in einer sachlichen Debatte über eine nachhaltige Migrationspolitik eine Rolle spielen sollten.

Kurz gesagt, 13.11.2018 Research Areas

In der Migrationspolitik agiert die EU im Krisenmodus und setzt vor allem auf Abschottung – zu Unrecht, wie David Kipp und Melanie Müller darlegen. Sie nennen vier Umstände, die in einer sachlichen Debatte über eine nachhaltige Migrationspolitik eine Rolle spielen sollten.

Das dritte Jahr in Folge dominieren die Themen Migration und Flucht die öffentliche Debatte in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Das Gefühl, die Kontrolle über Zu- und Einwanderung verloren zu haben, wiegt schwer und hat zu teils verzerrten Wahrnehmungen der Dimension der Migration nach Europa geführt. Vor diesem Hintergrund setzte die europäische Politik bislang vor allem auf die Eindämmung irregulärer Migration. Dieser Fokus verhindert, dass drängende migrations- und integrationspolitische Herausforderungen sowie die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems angegangen werden. Für eine sachliche Auseinandersetzung mit den Herausforderungen und die Entwicklung von Strategien müssen vier Gegebenheiten berücksichtigt werden.

 

Krisenmodus ohne Krise

Erstens wird die Zahl der irregulären Ankünfte in der Europäischen Union dieses Jahr voraussichtlich unter 150.000 bleiben und sich damit auf einem Niveau wie in den Jahren vor der sogenannten »Flüchtlingskrise« bewegen. Dennoch agiert die EU weiterhin im Krisenmodus, anstatt sich mit der Frage der nachhaltigen Steuerung von Migration zu befassen.

 

Migration wird es immer geben

Zweitens ist Migration eine Realität, die nie komplett verhindert werden wird. Zwar haben die migrationspolitischen Arrangements mit der Türkei und Libyen dazu beigetragen, die Ankunftszahlen in Italien und Griechenland erheblich zu senken. Das Beispiel Spanien aber zeigt, dass entsprechende Arrangements kaum dauerhaft erfolgreich sein können: Das Land verzeichnete trotz seiner langjährig gewachsenen Kooperation mit Marokko in diesem Jahr einen Anstieg der Ankünfte um das Doppelte im Vergleich zum Vorjahr.

 

Abschottung der EU mit humanitären Nebenwirkungen

Ein dritter Fakt ist, dass eine primär auf Eindämmung orientierte Politik erhebliche Nebenwirkungen hat. So führt der von der EU geförderte Ausbau von Grenzkontrollen und die Kriminalisierung von bislang als legal verstandener Migration wie in Niger zur Verlagerung der Migration auf viel gefährlichere Routen. Teilweise übernehmen Schmugglernetzwerke aus anderen Ländern den Transport. Außerdem stieg das Risiko, beim Versuch der Überfahrt im Mittelmeer zu ertrinken. Von 1000 versuchten Überfahrten endeten im Jahr 2014 vier tödlich, im Jahr 2018 hat sich diese Zahl auf 24 erhöht. Die größte Gefahr besteht auf der zentralen Mittelmeerroute, wo die Kapazitäten zur Seenotrettung auf Druck der italienischen Regierung reduziert wurden.

Bislang lagert die EU ihre Verantwortung an die libysche Küstenwache aus, die immer mehr Migranten im Mittelmeer aufgreift und zurück ins Land bringt. Die Zahl der Personen, die unter unmenschlichen Bedingungen in überfüllten Haftzentren ausharren müssen, ist dadurch enorm gestiegen. Die humanitäre Notlage dieser Menschen verschärft sich somit aufgrund der EU-Politik. Seenotrettung muss als gemeinsame europäische Aufgabe verstanden werden und sollte entsprechende Bedeutung in einem erweiterten Mandat der Europäischen Grenz- und Küstenwache Frontex erhalten. Die dafür erforderliche Zustimmung der betroffenen Länder an der EU-Außengrenze ist aber nur denkbar, wenn sich die Mitgliedstaaten auf ein gemeinsames Asylverfahren und einen Verteilmechanismus für Schutzberechtige einigen.

Eine solche Einigung ist derzeit nicht in Sicht. Die Mitgliedstaaten haben sich auf Maßnahmen außerhalb der EU geeinigt, so etwa auf den EU-Treuhandfonds für Afrika (EUTF), der im Jahr 2015 bei einem Treffen europäischer und afrikanischer Regierungschefs in Valletta eingerichtet wurde und zum wichtigsten Instrument der auswärtigen EU-Migrationspolitik avancierte. Der Fonds finanziert den Aufbau von Grenzschutzkapazitäten in Libyen und Niger, aber auch entwicklungspolitische Projekte. Letztere sollen etwa die durch den Wegfall der informellen Migrationsökonomie in Niger verursachten finanziellen Einbrüche kompensieren. Wichtige EU-Mitgliedstaaten fordern nun, dass der Fonds sich künftig primär auf Migrations- und Grenzmanagement und die sicherheitspolitische Zusammenarbeit mit einigen Regionen konzentriert. Das schränkt die Mittel für langfristige entwicklungspolitische Projekte ein, die etwa eine lokale Integration von Flüchtlingen und Binnenvertriebenen am Horn von Afrika unterstützen und damit die Wahrscheinlichkeit einer Weiterwanderung, der sogenannten Sekundärwanderung, vermindern können.

 

Wanderungsbewegungen überwiegend innerhalb Afrikas

Der Fokus auf Eindämmung von Migration wird genährt von Stimmen, die Angst vor einer afrikanischen »Invasion« Europas schüren. Diese Befürchtung ist empirisch nicht belegbar: Die Mehrheit der Wanderungsbewegungen, so die vierte Gegebenheit, die in der Debatte um die EU-Migrationspolitik eine Rolle spielen sollte, findet innerhalb Afrikas statt. Nach Einschätzung des französischen Demographen François Héran wird das auch in Zukunft so sein. Er begründet das damit, dass der größte Bevölkerungszuwachs in den Ländern Afrikas südlich der Sahara zu erwarten ist. Gleichzeitig würden die Staatsangehörigen dieser Region im Vergleich zu anderen Regionen aber vergleichsweise selten emigrieren, so dass ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung der OECD-Länder laut der Prognose bis 2050 nur von 0,4 auf 2,4 Prozent ansteigen würde.

Vor dem Hintergrund dieser Gegebenheiten – sowie mit Blick auf die demographischen Herausforderungen in Europa– sollte die EU nicht darauf abzielen, Migrationsbewegungen generell zu verhindern. Es geht eher darum, ungeregelte Wanderungen in geregelte Formen zu überführen. Dies kann die beschriebenen Risiken für Migranten vermindern. Zudem eröffnen ihnen reguläre Wanderungskanäle Chancen, die zum Vorteil von Aufnahmeländern und für die nachhaltige Entwicklung von Herkunftsländern genutzt werden können.

Das ist das Anliegen des Globalen Pakts für Migration, der eine völkerrechtlich nicht bindende Absichtserklärung darstellt. Diese geht aber verschiedenen EU-Mitgliedstaaten zu weit. Sie kündigten an, dem Pakt nicht beizutreten. Eine solche Weigerung wird sie nicht weiterbringen. Denn die politische Gestaltung globaler Wanderungsbewegungen kann nur durch die Kooperation von Herkunfts- und Aufnahmestaaten gelingen.

 

David Kipp forscht an der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) im Rahmen des vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung geförderten Projekts »Fluchtbewegungen und Entwicklungszusammenarbeit – Herausforderungen und Handlungsmöglichkeiten für deutsche und europäische Politik«, Dr. Melanie Müller forscht, ebenfalls an der SWP, u.a. zu Migration im südlichen und westlichen Afrika.

Dieser Text ist auch bei EurActiv.de und Handelsblatt.com erschienen.