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Arktische Kollateralschäden des russischen Angriffskrieges

Kurz gesagt, 16.02.2023 Research Areas

Die nationalistische Machtpolitik Russlands hat der einst friedlichen und konstruktiven Zusammenarbeit in der Arktis ein Ende gesetzt. Stattdessen droht am Polarkreis ein Abbild geopolitischer Konflikte zu entstehen, meint Michael Paul.

Lange galt die Arktis als Ausnahme von der Regel einer Welt voller Konflikte – ein Hort des Friedens und der Zusammenarbeit im Eismeer. Aber die romantische Vorstellung vom arktischen Exzeptionalismus hat schon lange vor dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine ihr Ende gefunden. Russlands abermalige Verletzung der Souveränität und territorialen Integrität eines europäischen Staates war 2022 nur der Höhepunkt einer Militarisierung der russischen Außenpolitik, die Präsident Wladimir Putin schon 2007 eingeleitet hat. Russlands Krieg hat die internationalen Beziehungen auch in der Arktis schwer beschädigt und die Balance im hohen Norden zerstört. Statt Zusammenarbeit im Arktischen Rat und regel­basierter Politik internationaler Vereinbarungen herrscht in Moskau rücksichtslose nationalistische Macht­politik. Eine Rückkehr zur Kooperation erscheint derzeit weniger realistisch als weitere Anlässe zur Konfrontation.

So diskutierte Putin Ende Januar die russischen Gebietsansprüche in der Arktis mit Mitgliedern seines Sicherheitsrates, darunter Verteidigungsminister Sergei Schoigu. Diese Ansprüche überlappen sich maßgeblich mit denen von Dänemark und Kanada, wobei alle drei den Nordpol für sich reklamieren. Welches Signal Putin geben wollte, indem er dies öffentlich machte, ist unklar. Zwar fungiert die zunehmende Erderwärmung als maßgebliche Ursache für grundlegende Veränderungen in der Arktis. Droht aber am Polarkreis nun auch ein weiterer geopolitischer Brennpunkt zu entstehen?

Die Arktis als Klima-Brennpunkt

Klimatisch sind manche Gegenden in der Arktis schon heute Brennpunkte im wahrsten Sinne des Wortes: Russland registrierte im Februar 2020 den wärmsten Winter seit Beginn der regulären meteorologischen Aufzeichnungen vor 140 Jahren. Im folgenden Jahr 2021 begannen die borealen Feuer­brände in Kanada und Sibirien schon im April und fanden im Juni am weitesten nördlich statt, nämlich am 72. Breitengrad. Im August hatten die Rauch­wolken den Nordpol erreicht und am Ende brannten über 170.000 Quadratkilometer – was etwa der Hälfte der Fläche Deutschlands entspricht. Eine Studie begründete 2022 die Feststellung, dass sich die Arktis seit den 1970er Jahren nicht zweimal, sondern viermal so stark wie im globalen Durchschnitt erwärmt hat. Es gibt somit weitere Hinweise dafür, dass die Einschätzungen der Klimaforschung im Hinblick auf die Geschwindigkeit der Erderhitzung tendenziell sogar zu vorsichtig sind. Klimapolitisch rücken Arktis und Antarktis noch stärker in den Fokus.

Die Folgen der Erwärmung sind drama­tisch für Mensch und Umwelt: Indigene Völker wie Inuit verlieren ihre Heimat, Eisbären verhungern und Permafrostböden tauen. Während die kommerzielle Schifffahrt für ihre Fracht und die Versorgung von Produktionsstätten offene Fahrrinnen durch die Seiten­arme des Arktischen Ozeans benötigt, braucht die einheimische, meist indigene Bevölkerung geschlossenes Meereis, um Bewegungs­freiheit für Jagd und Fischerei zu bewahren. Das schmelzende Meereis zerstört ihre natürlichen Transportwege und erschwert die bescheidene lokale Geschäftstätigkeit. Ein Zielkonflikt, bei dem in der kanadischen Arktis meist die Inuit verlieren.

Die Arktis als sicherheitspolitischer Brennpunkt

Der Arktische Rat symbolisiert die einstmals friedliche und konstruktive Zusammenarbeit in der Region. Die Grund­prinzipien der Souveränität und der territorialen Integrität bilden seit langem die Grundlage für seine Arbeit. Der Krieg hat diese gemeinsame Arbeitsgrundlage zerstört, seitdem befinden sich der Rat und seine Arbeitsgruppen in einer Zwangspause. Sprichwörtlich auf Eis liegen nun Projekte wie die internationale Eisbären­forschung und langjährige Messreihen zum Klimawandel. Forschende verlieren den Zugang zu wichtigen Standorten in der russischen Arktis und teilweise über Jahrzehnte gepflegte Kontakte werden beendet. Dem­entsprechend befürchten über 7000 Angehörige der russischen Wissenschaft und Medien, die sich an einer Unterschriftenaktion gegen den Krieg in der Ukraine beteiligt haben, dass Russland auf viele Jahre hinaus isoliert und geächtet sein wird.

Zwar bedeutet die Pause keinen Rückzug der sieben verbleibenden Arktisstaaten aus dem Rat, aber in der dynamischen Lage des andauernden russischen Kriegseinsatzes kann auch nicht bestimmt werden, wie lange die Pause dauern und unter welchen Bedingungen sie beendet werden kann. Norwegen übernimmt 2023 den Vorsitz im Arktischen Rat und will mit seinen Aktivitäten keine Hinder­nisse für eine spätere Rückkehr zur Normalität schaffen. Aber nach dem Krieg werden erst Grundlagen für eine neue Normalität zu schaffen sein und es ist völlig offen, ob und wann der Rat jemals seine reguläre Arbeit wiederaufnehmen kann. Der Krieg verbietet eine Rückkehr zu »Business as usual«.

Eine von vielen unbeabsichtigten Kollateralschäden des Krieges ist die internationale Arktisforschung. Da Russland etwa die Hälfte der Arktis bildet, kann die Arktisforschung im gesamten Polarkreis erst nach dem Krieg wieder aufgenommen werden. Russland wird also im Nordpolarmeer allein sein, wenn in diesem Jahr eine neue Plattform frühere russische Stationen auf driften­den Eisschollen ersetzen wird. Die neue navigier­bare Plattform soll in einer zweijährigen Expedition mit einem Forschungsteam von über 30 Personen autonom durch das Eismeer driften. Dabei erhobene Daten sollen vermutlich auch den territorialen Anspruch auf Meeres­gebiete unterstützen und mit dem Namen Nordpol wird die Station als normative Kraft des Faktischen wirken – schließlich ist Präsenz in der Arktis entscheidend. Kriegsbedingt wird sie ein nationales Projekt sein und das Eismeer droht statt eines Orts der Zusammenarbeit das Abbild einer Welt voller nationalistischer Konflikte zu werden.