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Terror gegen die Taliban

Der Islamische Staat zeigt in Afghanistan neue Stärke

SWP-Aktuell 2022/A 08, 01.02.2022, 8 Pages

doi:10.18449/2022A08

Research Areas

Seit dem US-Abzug im August 2021 und der Machtübernahme durch die Taliban hat der IS-Ableger »Provinz Khorasan« in Afghanistan Dutzende Anschläge auf »Sicherheitskräfte« der Taliban und Zivilisten ausgeführt, die Hunderte Todesopfer forderten. Besonders viele Attentate verübte der IS in seiner alten Hochburg Nangarhar im Osten des Landes und in der Hauptstadt Kabul. Doch auch in Kandahar, Kunduz und Kunar wurden die Jihadisten aktiv. Die Angriffe belegen, welche enorme Herausforderung der IS für die Taliban darstellt. Letzteren fehlt es an Geld, Personal und Strukturen, um ganz Afghanistan effektiv zu kontrollieren und den IS entscheidend zu schwächen. Diese Defizite bergen auch die Gefahr, dass der IS seine Anschlagstätigkeit über Afgha­nistan hinaus ausweitet. Die Nachbarstaaten Pakistan, Iran, Usbekistan und Tadschikistan sind besonders gefährdet, doch könnte auch Europa zum Ziel werden.

Die Terrorgruppe »Provinz Khorasan« (Wila­yat Khorasan) ist gegenwärtig der stärkste Ableger des Islamischen Staats (IS) weltweit. Trotz anhaltend hoher Verluste hat sich die Organisation am Hindukusch als außer­ordent­lich regenerationsfähig erwiesen. Da das US-Militär nach seinem Rückzug im August 2021 den IS in Afghanistan nur noch von weit entfernten Basen am Persi­schen Golf aus bekämpfen kann, zeigt die Gruppe nach einer Schwächephase zum wieder­holten Male neue Stärke.

Konkurrenz für die Taliban

Der IS-Ableger »Provinz Khorasan« entstand in der zweiten Jahreshälfte 2014. Die Zen­trale der Organisation rief im Juni 2014 im iraki­schen Mossul das Kalifat aus, woraufhin sich in vielen Teilen der islamischen Welt IS-Teilgruppierungen bildeten, die sich »Pro­vinzen« (arab. wilaya) nennen. Wäh­rend er zwischen 2014 und 2016 noch im Schatten der stärkeren IS-Filiale in Libyen stand, gewann der IS-Afghanistan ab 2016 an Bedeu­tung und wurde auch zu einem wichtigen Reiseziel ausländischer Kämpfer.

In Afghanistan war die strategische Lage für den IS lange besonders schwierig, weil er sich dort gegen zwei weit überlegene Gegner behaupten musste. Von Beginn an bekämpfte der IS die Taliban, da er – ganz wie die Mutterorganisation im Irak und Syrien – der Meinung ist, dass es nur einen islamischen Staat und einen rechtmäßigen Kalifen geben könne. Andere islamistische Gruppierungen hätten sich dem IS und sei­nem Anführer unterzuordnen und die Welt­anschauung des IS vorbehaltlos zu über­nehmen. Die Taliban machten jedoch keine Anstalten, sich dem Herrschaftsanspruch der neuen Konkurrenz zu unterwerfen und sind aus Sicht des IS auch ideologisch höchst problematisch, weil sie mehrheitlich keine Salafisten sind. Der IS wirft den Taliban außerdem ihre enge Zusammenarbeit mit dem pakistanischen Militär vor und bezeich­net die Bewegung häufig als Instrument des pakistanischen Militärgeheimdienstes Inter-Services Intelligence (ISI). Darüber hinaus kritisiert er die ab 2015 stark ausgeweitete Zusammenarbeit der Taliban mit den irani­schen Revolutionsgarden, die sich vor allem gegen den gemeinsamen Feind USA richtete. Insgesamt betrachtet der IS die Taliban als Apostaten (murtaddun), die es zu töten gelte.

Eine zusätzliche Schwierigkeit für den IS war bis August 2021 die Präsenz der US-Truppen am Hindukusch. Diese bekämpften die Organisation gemeinsam mit den afghanischen Regierungstruppen ebenfalls und fügten ihr wiederholt schwere Verluste zu. Für den IS-Afghanistan waren jedoch von Anfang an die Taliban der Hauptgegner. Größere Erfolge konnte der IS im Osten des Landes verbuchen, wo er im Süden der Pro­vinz Nangarhar mehrere Distrikte übernahm. Doch schon im Herbst 2015 begannen die Taliban eine erste größere Offensive, mit der sie den IS aus vielen Orten vertreiben konnten. Ab 2016 verstärkte auch das US-Militär seine Angriffe. Besonders einschneidend war der Tod des ersten IS-Afghanistan-Anführers Hafiz Saeed Khan infolge einer gezielten Attacke. Wiederholt war in den Erfolgsmeldungen der US-Regierung und ihrer afghanischen Verbündeten von hohen Todeszahlen beim IS die Rede. Ende 2016 schien die Gruppierung stark geschwächt.

Die vielleicht größte Stärke des IS in Afghanistan besteht darin, dass er schwere Verluste wiederholt durch Neurekrutierungen ausgleichen konnte. Dies zeigte sich im Verlauf des Jahres 2017, als es dem IS erneut gelang, seinen Einfluss auszudehnen. Auch vermehrte US-Luftschläge und gemeinsame Operationen mit verbündeten afghanischen Sicherheitskräften konnten daran nichts ändern. Vielmehr setzte der IS sein offen­sives Vorgehen fort. Besonders spektakulär war seine Expansion in die von vielen ethni­schen Usbeken besiedelten Provinzen Jauz­jan, Sar-e Pul und Faryab im Nordwesten Afghanistans ab Anfang 2017, wo er einen neuen Stützpunkt bildete. Darüber hinaus verstärkte der IS 2017 seine Angriffe in den urbanen Zentren des Landes, die sich meist gegen die schiitischen Hazara richteten. Allein bei einer Anschlagsserie in Kabul kamen Hunderte Zivilisten zu Tode.

Erst in den Jahren 2018, 2019 und 2020 führte der Druck der Gegner zu mehreren Rückschlägen für den IS. In Jauzjan starteten die Taliban einen Angriff, der im Juli 2018 mit der Zerschlagung des IS im Nordwesten Afghanistans endete. Mitte Oktober des­selben Jahres folgte eine groß angelegte Offensive der Taliban gegen die IS-Hoch­burgen in Nangarhar, bei der sich die Jiha­disten aber halten konnten. 2019 häuften sich die Niederlagen, weil parallel zu den Taliban auch afghanische Regierungstruppen mit US-Unterstützung in Nangarhar gegen den IS vorgingen und ihm schwere Verluste zufügten. Im November 2019 gingen die letzten Rückzugsgebiete in der Provinz verloren, und die wenigen Kämp­fer, die sich dem Zugriff der Gegner ent­ziehen konnten, flohen ins weiter nördlich gelegene Kunar. Als die Taliban im März 2020 schließlich auch dort die Einnahme der letzten Rückzugsorte verkündeten, schien der IS-Afghanistan geschlagen. Wie­derholte Anschläge in Kabul belegten je­doch, dass die Organisation weiter im Untergrund operierte und damit eine an­haltende Gefahr für Afghanistan blieb.

Hohe Regenerationsfähigkeit

Die Beharrungskraft des IS-Afghanistan re­sultiert aus seiner inneren Struktur. Wie bei den meisten IS-Ablegern handelt es sich bei der »Provinz Khorasan« um ein Bündnis verschiedener Gruppen, die teils aus dem Land selbst stammen und teils aus dem Aus­land kommen. In Afghanistan besteht der IS mehrheitlich aus Pakistanern, Afghanen und Zentralasiaten. Der große jihadistische Rekrutierungspool zumindest in Pakistan und Afghanistan dürfte ihm die Anwerbung immer neuer Kämpfer erleichtert haben. Der IS rekrutierte vor allem die­jenigen, die mit ihren bisherigen Organisationen oder deren Verbündeten unzufrieden waren.

Unter den Führungskadern des IS-Afgha­nistan dominierten von Beginn an Pakis­taner, die zuvor den Pakistanischen Taliban (Tehrik-e Taliban Pakistan, TTP) angehört hatten. Die TTP ist eine eigenständige jiha­distische Gruppierung, die sich (im Gegen­satz zu den mit Islamabad verbündeten afghanischen Taliban) dem Kampf gegen den pakistanischen Staat verschrieben hat. Sie gründete sich im Jahr 2007 als Bündnis aus mehreren militanten Gruppen aus den pasch­tunischen Stammesgebieten nahe der afghanischen Grenze. Nachdem ihr An­füh­rer Hakimullah Mehsud im November 2013 getötet worden war, brachen innere Kon­flikte aus. Der prominente Kommandeur Hafiz Saeed Khan wurde bei der Suche nach einem Nachfolger übergangen und schloss sich prompt dem IS an. Es waren vor allem pakistanische Paschtunen aus den Stammes­gebieten in Orakzai, Khyber und Bajaur, die sich zu der neuen Organisation bekannten. Da diese drei Gebiete direkt östlich und süd­östlich an die afghanischen Provinzen Nan­garhar und Kunar angrenzen, entwickelten sich diese zu den Hoch­burgen des IS.

Die Afghanen, die sich ab 2014 dem IS anschlossen, waren bis dahin meist (afgha­nische) Taliban, die aus ideologischen oder persönlichen Gründen mit dieser Organisation gebrochen hatten. Oft handelte es sich um Kom­mandeure, die unter den Taliban Randfiguren blieben, weil sie sich am Sala­fismus orientierten und die Talibanbewegung unter anderem wegen deren nicht­religiösen Stammestraditionen kritisierten. Besonders prominent wurde Abdul Rahim Muslim Dost, ein prominenter Anführer und salafistischer Intellektueller, der 2001 bis 2005 in Guantanamo inhaftiert war. Dost stammt aus der Provinz Kunar, wo die afghanischen Salafisten ähnlich wie in Nan­garhar und Nuristan schon seit den 1980er Jahren stark vertreten waren. Im Laufe des Jahres 2014 warb Dost in dieser Region für den IS und bereitete damit den Boden für den Auf­marsch der Organisation im Folge­jahr. Parallel versuchte der ehemalige Tali­ban-Kommandeur Abdul Rauf Khadim, eine IS-Basis im Distrikt Kajaki in der Provinz Helmand aufzubauen. Khadim hatte 2001 bereits größere Verbände angeführt und war zwischen 2002 und 2007 in Guantanamo inhaftiert. Da er im Kernland der Taliban operierte, reagierten diese schnell und zer­schlugen seine Truppe noch im Früh­jahr 2015. Khadim kam im Februar bei einem amerikanischen Luftangriff zu Tode. Der IS fand danach vorerst keine Möglichkeit mehr, sich im Kernland der Taliban festzusetzen.

Die dritte Teilgruppe im IS besteht aus zentralasiatischen Jihadisten, mehrheitlich Usbeken und Tadschiken. Bei ihnen han­del­te es sich anfangs mehrheitlich um Kämp­fer der Islamischen Bewegung Usbekistans (IBU), die aufgrund einer Offensive der pakistanischen Armee 2014 ihre Rückzugsgebiete in den Stammesgebieten verlassen und nach Afghanistan fliehen mussten, wo sie ihr Hauptquartier in der Provinz Zabol auf­schlugen. Dort näherte sich die IBU unter ihrem Emir Usman Ghazi dem IS an und schwor ihm im August 2015 Gefolgschaft, wohl auch deshalb, weil dieser den Zentralasiaten die rasche Aufnahme des Kampfes in ihren Heimatstaaten in Aus­sicht gestellt haben soll. Wie in Helmand gingen die Taliban rasch gegen die Konkur­renz vor, zerschlugen die IBU und töteten Ghazi im November 2015.

Dennoch blieben die Zentralasiaten eine wichtige Kraft innerhalb des IS. Ab Anfang 2017 waren sie maßgeblich an der Einnah­me von Gebieten in Jauzjan im Nordwesten nahe der usbekischen Grenze beteiligt. Nach der Niederlage des IS in Jauzjan 2018 hiel­ten sich weiter Hunderte Zentralasiaten bei der Organisation in Ost- und in Nordafghanistan auf. Ihr Anführer in den Folgejahren scheint der Tadschike Sayvaly Shafiev (alias Muawiya) gewesen zu sein, der im Verdacht steht, den Auftrag für einen Anschlag mit einem LKW in der Stockholmer Innenstadt im April 2017 gegeben zu haben.

Die Resilienz dieses Bündnisses aus Pakis­tanern, Afghanen und Zentralasiaten lässt sich auch an den Kämpferzahlen fest­machen. Die meisten Schätzungen für 2015 lagen bei bis zu 4.000 Mann, wobei das US-Militär meist eine geringere Stärke von bis zu 3.000 veranschlagte. Ende 2016 lag die vermutete Zahl nur noch zwischen 1.000 und 2.000 Kämpfern. 2017 gingen die US-Truppen von etwa 700 Mann aus. Trotz der Niederlagen von 2018 (Jauzjan), 2019 (Nan­garhar) und 2020 (Kunar) hatte der IS aber keine Rekrutierungsprobleme, so dass die Zahlen Anfang 2021 wieder zwischen 1.000 und 2.200 Mann lagen. Schätzungen zu­folge entkamen bei Gefängnisausbrüchen im Jahr 2021 etwa 2.000 bis 3.000 IS-Insas­sen. Die Zahl der Kämpfer könnte sich da­mit deutlich erhöht haben.

Begünstigt wurde die Rekrutierung immer neuer Kämpfer durch solide Finanzen. In den ersten Jahren soll die IS-Zentrale im Irak und in Syrien große Geldsummen ge­schickt haben. Ab 2017 verlor diese anfangs wahrscheinlich wichtigste Finanzierungsquelle aber an Relevanz. Ab spätestens 2020 dürfte die Bedeutung von Spenden privater Geldgeber aus der Golfregion gewachsen sein. Finanzielle Engpässe scheinen nicht aufgetreten zu sein. Der IS-Afghanistan zahlte seinen Kämpfern Handgelder, einen »Sold« von mehreren Hundert US-Dollar und zusätzlich Familienzulagen – insgesamt ein für afghanische Verhältnisse zugkräf­tiges Angebot.

Attraktive Ideologie, ehrgeizige Strategie

Der IS-Ableger in Afghanistan orientiert sich weltanschaulich eng an der Mutterorganisation im Irak und in Syrien. Dies zeigt sich schon an der Öffentlichkeitsarbeit der Filiale, die bis 2018 vor allem über die IS-Medien­stellen im Nahen Osten abgewickelt wurde. Im März 2018 wurde ein Video mit dem Ti­tel »Gottes Erde ist weit« (Ard Allah wasi’a) ver­öffentlicht, das vor allem Material aus Afghanistan zeigte. Die IS-Zentrale empfahl darin denjenigen Anhängern, die nicht in den Nahen Osten reisen konnten, sich der Filiale am Hindukusch anzuschließen. Meh­reren Berichten zufolge plante der IS sogar, ein Ersatz-Hauptquartier in den afgha­nischen Bergen einzurichten, in das sich die IS-Spitze nach einer Niederlage im Nahen Osten zurückziehen könnte.

Ebenso wie der IS im Irak und in Syrien vertritt der Ableger in Afghanistan eine be­sonders kompromisslose Lesart des Salafis­mus, die nur wenige sunnitische Muslime als wahre Gläubige anerkennt, den Kampf gegen nichtsunnitische Muslime wie die Schiiten heiligt und dem raschen Aufbau staatlicher Strukturen Vorrang zumisst. Mit dem Ruf nach einem islamischen Staat auf Grundlage einer salafistischen Interpreta­tion des islamischen Rechts (Scharia) gelang es dem IS ab 2014, viele junge Islamisten weltweit zu mobilisieren. Ähnliches gilt für den IS-Afghanistan, obwohl dessen Rekru­tierungspools bisher mehrheitlich aus Süd- und Zentralasiaten bestehen. Dies dürfte auch daran liegen, dass die Reise nach Afghanistan aus dem Nahen Osten oder der westlichen Welt bislang schwierig und oft gefährlich war.

Das Nahziel des IS-Ablegers am Hindukusch war es seit 2014, ein sicheres Rück­zugsgebiet einzunehmen, um dort staats­ähnliche Strukturen aufzubauen, und dieses langsam zu erweitern. Im Fokus dieser Strategie standen Nangarhar, Kunar und Nuristan, weil diese Provinzen nahe der pakistanischen Grenze liegen, über die aus­ländische Kämpfer und auch der Nach­schub an Waffen, Munition und Versorgungsgütern ins Land gebracht werden kön­nen. Außerdem boten sich diese Territorien an, weil salafistisches Gedankengut dort be­sonders tief verwurzelt ist. Zwar wurde der IS in den Jahren 2019 und 2020 auch in den genannten Hochburgen geschlagen, doch konnte er sich dort im Untergrund halten und ab 2021 zahlreiche Anschläge verüben. Die Versuche, auch in Helmand und Zabol (2015) sowie Jauzjan (2017–2018) die Ge­bietskontrolle zu verteidigen, scheiterten. Doch schon allein der Versuch, so weit auf feindlichem Boden Terraingewinne zu ver­zeichnen, entsprach der Vorgehensweise des IS im Nahen Osten und zeigte den gro­ßen Ehrgeiz des afghanischen Ablegers.

Die Ambitionen des IS und seine ideo­logische Radikalität machen es ihm fast un­möglich, Allianzen einzugehen. Dies ist der vielleicht entscheidende Unterschied zu al‑Qaida, die seit 1996 mit den Taliban ver­bündet ist und deshalb bis heute überleben konnte. Für den afghanischen IS-Ableger da­gegen sind die Taliban der Hauptfeind, den es mit allen Mitteln zu bekämpfen gilt. Lange wollte der IS in erster Linie die Taliban als beherrschende Kraft im Aufstand gegen die afghanische Regierung und ihre US-ameri­ka­nischen Verbündeten ablösen. Seit dem Abzug der internationalen Truppen und der Übernahme der Macht durch die Taliban setzt der IS seinen Kampf gegen die herr­schende islamistische Bewegung nun unter sehr viel besseren Bedingungen fort.

Um sich von den Taliban abzugrenzen, setzte der IS schon seit Mitte 2016 auf anti­schiitische Anschläge, die meist Zivi­listen in Moscheen und Bildungseinrichtungen trafen. Zwar wurden die schiitischen Haza­ra – die zwischen 10 und 20 Prozent der afghanischen Bevölkerung stellen – Opfer brutaler Verfolgungen durch die Taliban, als diese von 1996 bis 2001 Afghanistan be­herrschten. Doch haben die neuen Herren in Kabul nach ihrer Machtübernahme 2021 zugesagt, die Hazara zu schützen. Ein Grund für diese Mäßigung könnte sein, dass die ebenfalls schiitischen iranischen Revolutionsgarden die Taliban spätestens seit 2007 verdeckt und seit 2015 verstärkt und offe­ner unterstützen. So zeigt sich ein wichtiger Unter­schied zwischen den Taliban und dem IS: Während der IS viele Schiitenfeinde in Afghanistan, Pakistan und der arabischen Welt für sich einnimmt, sehen sich die Tali­ban im sunnitisch-isla­mistischen Lager (wo es kaum Sympathie für die Schiiten gibt) unter Druck.

Jenseits von Afghanistan nimmt der IS besonders Pakistan und Zentralasien ins Visier. In Pakistan will die Organisation die Pakis­tanischen Taliban als wichtigste auf­ständische Gruppierung ablösen und die heutigen Grenzen zwischen dem Nachbarland und Afghanistan überwinden. Ähn­liches gilt für Zentralasien, wo der IS sein Interesse vor allem auf Usbekistan und Tadschikistan richtet. Dass es bisher nur einige Anschläge in Pakistan und keine in Zentralasien gegeben hat, dürfte vor allem der Situation in Afghanistan geschuldet sein, wo der IS seit Jahren gegen übermächtige Gegner kämpft und deshalb Prioritäten setzen musste.

Nach dem Sieg der Taliban

Der Abzug der US-Truppen im August 2021 und die Machtübernahme der Taliban ver­änderten die Gesamtlage in Afghanistan und damit auch die Position des IS. Der Wan­del deutete sich schon während der Verhandlungen zwischen der US-Regierung von Präsident Donald Trump und den Tali­ban im katarischen Doha an, die im Jahr 2018 mit ersten Gesprächen begannen und im Februar 2020 in ein Abkommen münde­ten. Darin stellten die USA eine schrittweise Reduzierung ihrer Truppen und einen voll­ständigen Abzug aus Afghanistan bis zum 1. Mai 2021 in Aussicht. Für die Taliban war es ein weitreichender Schritt, mit den Besat­zern über eine Lösung des Konflikts zu ver­handeln. Einige Kom­mandeure und Kämp­fer kritisierten den Pragmatismus der Tali­ban-Führung, so dass der IS hoffen konnte, dass sich stärker ideologisch motivierte Ein­zelpersonen oder sogar Teilgruppierungen der Taliban dem IS anschließen würden.

Bisher scheint es jedoch keine größeren Abspaltungen von den Taliban gegeben zu haben. Diese erhöhten ungefähr zeitgleich mit den Gesprächen in Doha auch den mili­tärischen Druck auf den IS, was zu dessen Niederlagen in Nangarhar im Novem­ber 2019 und Kunar im März 2020 führte. Mög­licherweise war es ein Ziel der Taliban, den IS rechtzeitig zu zerschlagen, um ihn daran zu hindern, ihre Verhandlungsbereitschaft für Neurekrutierungen zu nutzen. Doch der IS konnte sich trotz der Niederlagen im Untergrund halten. In den folgenden Mona­ten verübte er in Kabul und in mehreren Provinzen (vor allem in Nangarhar und Um­gebung) zahlreiche Anschläge. Im Laufe des Jahres 2021 wurde immer deutlicher, dass der nachlassende Druck der US-Truppen dem IS neue Handlungsoptionen eröffnete. Die Zahl seiner Anschläge nahm zunächst langsam und ab August rasch zu. Besonders aufsehenerregend war das Attentat am Flug­hafen von Kabul am 26. August 2021. In­mitten der Wirren kurz nach der Eroberung der Haupt­stadt durch die Taliban tötete ein Selbstmordattentäter mindestens 183 Men­schen, darunter 13 US-Soldaten.

Nach dieser Demonstration terroristischer Schlagkraft nahmen die IS-Attentate in meh­reren Landesteilen zu. Wiederholt grif­fen die Jihadisten schiitische Moscheen an. Neben Kabul traf es Gotteshäuser in Kunduz und Kandahar, was auf eine Ausweitung des Operationsgebiets schließen ließ. Das Attentat in Kunduz am 8. Oktober, bei dem mehr als 50 Menschen getötet wurden, ist ein Hinweis, dass der IS auch in dieser Gegend nahe der usbekischen und tadschi­kischen Grenze stark ist. Der Anschlag auf eine schiitische Moschee in der Taliban-Hochburg Kandahar am 15. Oktober, bei dem mehr als 60 Menschen starben, ver­deut­lichte, dass der IS auch im Kernland der Taliban handlungsfähig ist. Hinzu kamen zahlreiche Angriffe auf Taliban-»Sicher­heits­kräfte« in der Provinz Nangarhar und in Kunar, wo der IS offensichtlich erstarkt. Die UN-Sondergesandte Deborah Lyons warnte im November 2021, der IS sei in fast allen afghanischen Provinzen präsent und habe die Zahl seiner Anschläge von rund 60 im Jahr 2020 auf mehr als 330 im Jahr 2021 gesteigert. Allein bei Attacken im Dezem­ber 2021 und Januar 2022 tötete und verletzte der IS nach eigenen Angaben mehr als ein Dutzend Taliban in den Provinzen Logar, Nangarhar und Kunar.

Die Haqqani-Organisation

Seit dem Anschlag am Flughafen Kabul wird in Wissenschaft, Medien und Politik vermehrt debattiert, welche Rolle die Haq­qani-Organisation für die neue Kampfkraft des IS spielt. Die Taliban bestehen aus meh­reren Teilgruppierungen, von denen die Haqqani-Organisation die autonomste und mächtigste ist. Ihr Gründer war der pasch­tu­nische Kriegsfürst Jalaluddin Haqqani (1939–2018), der schon in den 1980er Jah­ren gegen die sowjetische Besatzung kämp­fte und seither der starke Mann im pakista­nischen Stammesgebiet Nord-Wazi­ristan und in den afghanischen Provinzen Paktia, Paktika und Khost war – im Einvernehmen mit dem pakistanischen Militär, dessen Klient die Haqqanis bis heute sind. 1996 verbündete sich Jalaluddin mit den Taliban und gewährte anschließend Usama Bin Laden und al-Qaida Zuflucht. In den folgen­den zweieinhalb Jahrzehnten bestand das Bündnis mit den arabischen Jihadisten fort, mit dem Ergebnis, dass sich deren Gedankengut auch unter den Haqqanis verbrei­tete. Als Jalaluddins Sohn Sirajuddin spätes­tens im Jahr 2012 die Führung übernahm, galt seine Truppe (im Gegensatz zu den Mainstream-Taliban) bereits als stark jihadis­tisch geprägt. Außerdem war sie besonders schlagkräftig. Die großen Anschläge in Kabul gingen auf ihr Konto. Gleichzeitig stieg Sira­juddin in der formalen Hierarchie der Tali­ban auf; im Jahr 2015 wurde er zu einem der zwei Stellvertreter des Taliban-Führers Mullah Akhtar Mohammed Mansur (amtier­te offiziell 2015–2016) ernannt und an­schließend zum ersten Stellvertreter von des­sen Nachfolger Haibatullah Akhundzada.

Unter den Kommandeuren und Kämpfern der Haqqani-Organisation fand der IS schon früh großen Zuspruch. Im November 2016 schlossen sich rund 150 Haqqani-Mit­glieder in Kabul dem IS-Afghanistan an, und auch später gab es Abspaltungen. Zu­dem gibt es Hinweise, dass es sich bei dem im Juni 2020 ernannten IS-Afghanistan-An­führer Shahab al-Muhajir um einen frühe­ren Befehlshaber der Haqqani-Organisation handelt. Diese Verbindungen zur Haqqani-Organisation könnten ein Grund dafür ge­wesen sein, dass es dem IS anschließend gelang, so viele Anschläge in der Hauptstadt zu verüben. Dennoch wecken die Aktivi­täten des IS in Kabul vor August 2021 den noch weitergehenden Verdacht, dass es irgendeine Art von Kooperation mit der Haqqani-Organisation gegeben haben könnte. Sirajuddin und seine Leute kontrol­lierten viele Zufahrtswege in die Hauptstadt und waren dort bis August 2021 die stärkste aufständische Gruppe. Dies lässt vermuten, dass Sirajuddin und seine Männer nicht frei von einer gewissen Ambivalenz sind. In der neuen Taliban-Regierung vom September 2021 wurde Sirajuddin zum Innenminister ernannt. Er ist damit auch für die innere Sicherheit Afghanistans verantwortlich. Der verheerende Anschlag am Flughafen von Kabul im August 2021 verdeutlichte indes, wie schlecht es um die Sicherheitslage in der Hauptstadt stand. Sollte die Haqqani-Organisation den IS nicht mit voller Ent­schlos­senheit bekämpfen, wäre dies ein enormer Vorteil für die Terrorgruppe.

Neue Bündnisse, neue Gefahren

Der Fall Sirajuddin Haqqani verweist auf ein noch größeres Problem. Die Machtübernahme der Taliban könnte zu einer Neuordnung der islamistischen Szene am Hindukusch führen. Unter den Taliban gibt es nach Jahrzehnten des Krieges und einer langen Zusammenarbeit mit jihadistischen Arabern, Pakistanis und Zentralasiaten eine starke jihadistische Strömung, die in der Haqqani-Organisation besonders viele An­hänger hat, aber auch in anderen Tali­ban-Einheiten einflussreich ist. Ihr Ziel ist es, den Kampf nach der Machtübernahme in Kabul über Afghanistan hinaus auf die Nach­barstaaten und die gesamte Welt aus­zuweiten. Die Zahl der afghanischen, pakis­tanischen und zentralasiatischen Kämpfer, die sich dem Jihadismus verpflichtet fühlen, bewegt sich wahrscheinlich im niedrigen fünfstelligen Bereich.

Die Taliban sehen sich deshalb mit einem Dilemma konfrontiert. Folgen sie den Auf­rufen aus dem Ausland und setzen auf eine gemäßigte Politik im Innern, könnten sich entschieden jihadistisch gesinnte Aufständi­sche von der Bewegung abwenden und die Stabilität des neuen Regimes gefährden. Fol­gen sie dagegen einer stärker ideologischen Linie, dürfte es unmöglich sein, Hilfen aus dem Ausland einzuwerben, die wegen der katastrophalen Wirtschafts- und Versorgungs­lage in Afghanistan dringend benötigt werden. Die starke Stellung der Haqqani-Organisation in der neuen Regierung kann als ein Indiz dafür gesehen werden, dass die Taliban die jihadistischen Kräfte einbinden wollen. Außerdem gibt es keinen Hinweis darauf, dass die Taliban – wie im Abkommen mit den USA vom Februar 2020 zu­gesagt – ihre Verbindungen zu al-Qaida kap­pen. Viele erste Maßnahmen sprechen dafür, dass die Taliban-Führung auf einen Mittel­weg setzt, um Unterstützung aus dem Aus­land zu generieren, ohne die Jihadisten in den eigenen Reihen an den IS zu verlieren.

Gleichzeitig ist die zunehmende Aktivität des IS-Afghanistan ein deutliches Zeichen dafür, dass die Jihadisten zu einer wachsen­den Gefahr für die Taliban, die Nachbarstaaten und auch international werden könn­ten. Es gibt Berichte, dass seit August 2021 zahlreiche ausländische Kämpfer aus dem Nahen Osten, Zentralasien und Pakis­tan nach Afghanistan gereist sind. Wenn sich das Land tatsächlich zu einem Anzie­hungspunkt für Jihadisten aus anderen Regionen entwickeln sollte, wäre der IS wahrscheinlich der wichtigere Anlaufpunkt als al‑Qaida. Denn die zutiefst ideologisch geprägte Vorgehensweise des IS hat ihm seit 2014 Zehntausende neue Rekruten be­schert, während al‑Qaida Probleme hat, junge Islamisten für sich zu gewinnen. Wie sehr der IS vom Zustrom ausländischer Jiha­disten profitieren kann, hängt entscheidend davon ab, wie stark der neue Staat der Tali­ban ist und ob dieser in der Lage sein wird, den IS militärisch einzudämmen.

Setzt sich das gegenwärtige Erstarken des IS fort, dürfte er nicht nur eine Gefahr für Afghanistan bleiben, sondern seine Akti­vi­täten auch auf die unmittelbaren Nach­bar­staaten ausweiten. Pakistan, Usbekistan und Tadschikistan sind die wichtigsten Kandi­daten, da außerordentlich viele IS-Kämpfer in Afghanistan aus diesen drei Staaten stam­men und der IS Stützpunkte nahe den Gren­zen dieser Länder unterhält. Iran ist eben­falls ein mögliches Ziel der IS-Expansion. Letzterer bietet sich besonders an, weil die Taliban bisher gute Beziehungen zu Tehe­ran unterhalten und der IS sich durch An­griffe auf iranische Ziele von der Rebellen­bewegung abheben kann. Außerdem dürfte er für eine solche Strategie auf die finan­zielle Unterstützung durch schiitenfeind­liche Geldgeber aus Pakistan und den arabi­schen Golfstaaten hoffen.

Gefahr für Europa

Darüber hinaus bedeutet ein Erstarken des IS in Afghanistan auch eine größere Gefahr für Europa. Schon 2017 und 2018 mehrten sich Hinweise auf europäische Rekruten, die sich auf den Weg an den Hindukusch machten, um sich dort dem IS anzuschließen. Einige Franzosen hielten sich damals beim IS in der Provinz Jauzjan auf. Dass Europa darüber hinaus ein wichtiges An­schlagsziel für die Organisation ist, hat sie mit dem Attentat in der Stockholmer Innen­stadt im April 2017 gezeigt, bei dem fünf Menschen starben und viele mehr verletzt wurden. Ein tadschikischer Anführer des IS‑Afghanistan stand mit dem ethnisch-tadschi­kischen Attentäter (usbekischer Nationalität) in engem Kontakt. Deutschen Straf­verfolgungsbehörden zufolge kommunizierte auch eine tadschikische IS-Zelle in Nord­rhein-Westfalen 2018 und 2019 mit zentralasiatischen IS-Kadern in Afghanistan, die sie aufforderten, in Deutschland Anschläge zu verüben.

Bei diesen Vorhaben kommt dem IS zu­gute, dass seine Mutterorganisation im Irak und in Syrien seit 2015 mit Anschlägen, die sie aus der Ferne steuert, eine terroristische Innovation entwickelt hat. Dabei besteht zwischen Täter und Anschlagsplaner nur ein virtueller Kontakt, der über Messaging-Dienste wie vor allem Telegram zustande kommt und aufrechterhalten wird. Der Planer berät den prospektiven Terroristen in religiös-ideologischen Fragen ebenso wie bei der Auswahl eines Anschlagsziels und der Tatmittel. Im Gegenzug nimmt der Attentäter vor der Tat ein Video auf, in dem er sich zu ihr bekennt und dem IS-Führer Treue schwört. Dieses Video schickt er an den IS, der es nach dem Terrorakt veröffentlicht und diesen für sich reklamiert.

Für den IS haben solche, von ihm kontrol­lierte und geleitete Anschläge den Vor­teil, dass sie wirksamer sind als herkömm­liche Einzel­täterangriffe, die zwar schwierig zu verhin­dern sind, aber selten viele Opfer fordern. Im Vergleich wiederum zu großen, organi­sierten Attacken wie zum Beispiel denen von Paris im November 2015 stechen sie heraus, weil der logistische, personelle und finanzielle Aufwand viel geringer ist und die Terroristen nicht über Ländergrenzen hinweg reisen müssen, was das Risiko birgt, entdeckt zu werden. Viele IS-Atten­tate seit 2016 waren deshalb solche von außen gelenkte Aktionen, darunter etwa der vom Berliner Breitscheidplatz am 19. Dezember 2016. Seit 2017 hat die An­schlagstätigkeit des IS trotzdem stark nach­gelassen, teilweise aufgrund einer verbes­serten Telekommunikationsüberwachung durch die US-Sicherheitsbehörden, die zahl­reiche Planungen vorab aufdeckten.

Ein weiterer Grund dürfte die Schwäche der IS-Zentrale sein, die seit 2016 alle von ihr gehaltenen Territorien im Nahen Osten ver­loren hat. Die Niederlagen haben die Fähig­keit der Jihadisten beeinträchtigt, potentielle Attentäter für Anschläge zu mobilisieren, etwa dadurch, dass wichtige Planer getötet wurden. Um erfolgreich An­schläge fernzusteuern, braucht der IS ein Rückzugsgebiet, von dem aus seine Spezia­listen neue Lücken in der Telekommunikationsüberwachung finden und ein Netz­werk internationaler Kontakte aufbauen und pflegen können. Vielleicht ebenso wich­tig ist es für ihn, nach Jahren der Nieder­lagen in einem Kriegsgebiet Macht und Stärke zu demonstrieren, um erneut junge Rekruten für sich zu begeistern. Nirgend­wo sind die Voraussetzungen dafür besser als in Afghanistan. Gelingt es dem IS, am Hindukusch weiter zu erstarken und den bewaffneten Kampf in die Nachbarländer zu tragen, dürfte er rasch auch wieder zu einer größeren Gefahr für Europa werden.

Dr. Guido Steinberg ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Afrika und Mittlerer Osten. Aljoscha Albrecht ist Forschungsassistent in der Forschungsgruppe Afrika und Mittlerer Osten.

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