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Russlands diffuse Nuklearrhetorik im Krieg gegen die Ukraine

Ein strategischer Balanceakt zwischen Abschreckung und Erpressung

SWP-Aktuell 2022/A 63, 19.10.2022, 4 Pages

doi:10.18449/2022A63

Research Areas

Russland verfolgt mit seinen nuklearen Drohgebärden im Krieg gegen die Ukraine eine dreigleisige Strategie. Erstens versucht es eine westliche Intervention abzuschrecken, zweitens Unterstützung für die Ukraine zu verhindern und drittens schrittweise Kyjiw zu erpressen, worauf der Westen bislang mit eigenen Abschreckungssignalen reagiert hat. Moskaus scheinbar vorsichtiges Vorgehen legt nahe, dass ein Kernwaffen­einsatz aufgrund von Kosten-Nutzen-Kalkülen unwahrscheinlich bleibt. Dennoch lässt sich ein solches Szenario nicht ausschließen, insbesondere dann nicht, wenn sich aus dem Krieg eine ernsthafte Bedrohung für Putins Regime ergeben sollte.

Sieben Monate nach Beginn der großangelegten russischen Invasion der Ukraine hat es für viele den Anschein, als drohe der Kreml sehr häufig und rücksichtslos mit dem Einsatz von Atomwaffen. Angesichts Moskaus rabiater Kriegführung und diffuser nuklearer Signale ist diese Wahrnehmung verständlich – und dennoch falsch. Eine eingehende SWP-Analyse der Chronologie nuklearbezogener Interaktionen im Ver­lauf des Krieges lässt darauf schließen, dass Russ­lands Drohungen mit Blick auf drei Ziele fein austariert sind: eine ausländische Militärintervention abzuschrecken, inter­nationale Unterstützung für die Ukraine zu unterbinden und Kyjiw zu erpressen.

Russlands Abschreckungserfolg

Seit Februar hat der Kreml wiederholt erklärt, dass ein Zusammenstoß zwischen Nato- und russischen Streitkräften in einen Atomkrieg münden könne. Tatsächlich zielte Russlands Nuklearrhetorik vor allem darauf ab, westliche demokratische Regie­rungen und deren Wählerschaft davon abzuhalten, einen direkten militärischen Eingriff in der Ukraine in Erwägung zu ziehen. Nukleare Drohungen sollten folg­lich eine rote Linie markieren, die der Westen dann auch weder überschritt noch in Frage stellte. Am Tag der Invasion, dem 24. Februar, legte Präsident Wladimir Putin den Grundstein für diese Strategie: Wer sich von außen einmische, müsse mit »nie dagewesenen Konsequenzen« rechnen. In den folgenden Monaten wurde diese Position von russischen Vertretern wieder­holt bekräftigt, darunter jeweils zweimal von Putin und von Außenminister Sergej Lawrow.

Dieses begrenzte Ziel hat Russland augenscheinlich erreicht. Die Eliten im Westen lehnten mehrheitlich ein direktes militärisches Eingreifen in der Ukraine ab, wenn auch nicht abschließend feststellbar ist, ob dies aufgrund von Moskaus nuklearer Rhetorik oder seinem Atomarsenal geschah oder unabhängig davon. Westliche Politikerinnen und Politiker schlossen im Sinne von Russlands roter Linie eine direkte militärische Konfrontation kategorisch aus. Wenige Stunden nach Putins Drohung erklärte US-Präsident Joe Biden, US-Streit­kräfte würden »nicht in den Konflikt mit Russland in der Ukraine eingreifen«; und im ersten Monat des Krieges bestätigten west­liche Repräsentanten diese Position beinahe jeden zweiten Tag. Wie Moskau begründete der Westen seine Haltung wie­derholt mit den Eskalationsrisiken einer direkten Konfrontation. Die zugrunde­liegende Risikobewertung könnte sich laut westlichen Beamten nur infolge eines rus­sischen Nukleareinsatzes ändern: Erst in einem Szenario, in dem Moskau seine Ab­schreckungsdrohung wahrgemacht hätte, wäre eine westliche Intervention möglich. Nicht einmal ein russischer Chemiewaffen­einsatz würde einen direkten Eingriff aus­lösen, so US-Vertreter.

Ungeachtet dessen wiederholte Russland seine Warnung, wann immer westliche Politikerinnen und Politiker die Möglichkeit einer direkten Intervention auch nur an­deuteten. So erklärte die damalige britische Außenministerin Liz Truss am 27. Februar, der Westen müsse Russland in der Ukraine stoppen, um andere Länder vor einer Bedro­hung zu schützen, die wiederum zu einem »Konflikt mit der Nato« führen könne. Rus­sische Vertreter reagierten schnell – ob nur auf die britischen Äußerungen oder auch auf andere westliche Signale, bleibt unklar. Putin rügte »aggressive« westliche Statements und versetzte Russlands stra­tegische Streitkräfte in »hohe Gefechts­bereitschaft«. Anschließend wurden in mehr als einem halben Dutzend russischer Erklärungen Truss’ Äußerungen explizit verurteilt oder Moskaus Nukleardrohungen mit angeblich aggressiver westlicher Rhe­torik legitimiert.

Mindestens zwei weitere Runden dieser Abschreckungsinteraktion folgten. Im März drängte der ukrainische Präsident Wolody­myr Selenskyj auf die Einrichtung einer Flugverbotszone in der Ukraine, was wohl einen direkten Einsatz von Nato-Truppen gegen russische Flugzeuge erfordert hätte. Putin warnte umgehend vor »gewaltigen« und »katastrophalen« globalen Folgen. Einige Wochen später forderte Polen eine Nato-Friedensmission in der Ukraine. Kurz darauf beschuldigte Putin den Westen, Russland »auslöschen« und seine terri­toriale Integrität zerstören zu wollen. Vier weitere russische Statements, unter ande­rem von Lawrow, warnten vor einer direk­ten Nato-Russland-Konfrontation, die eine nukleare Eskalation herbeiführen könnte.

Trotz abweichender Risikobewertungen unter den Nato-Staaten kehrte der Westen schnell zu Russlands roter Linie zurück. Polens Vorschlag einer Friedensmission bei­spielsweise fand zunächst dänische Zustim­mung, stieß aber auf deutsche Ablehnung. Dabei blieben alle Verbündeten vorsichtig und sahen von konkreten Schritten ab, so­lange keine gemeinsame Position gefunden war. Schließlich lehnten die Nato-Staaten beide Vorschläge ab, wobei sie explizit auf Eskalationsrisiken verwiesen und betonten, dass sie nicht Kriegspartei seien.

Verunsicherungsversuche

Während eine direkte Konfrontation aus russischer wie westlicher Sicht verhindert werden sollte, versuchte Moskau, auch westliche Unterstützung für Kyjiw zu unter­binden. So deutete der Kreml an, dass Mili­tärhilfen für die Ukraine oder Sanktionen gegen Russland das Risiko einer nuklearen Eskalation vergrößern könnten. Doch diese Strategie hatte nur wenig Erfolg – west­liche Unterstützungsmaßnahmen wurden nicht verhindert, aber wahrscheinlich verlangsamt und womöglich in gewissem Maße begrenzt.

Putins erste Erklärung vom 24. Februar interpretierten viele als Drohung an diejeni­gen, die Kyjiw halfen oder Moskau sanktio­nierten. In der Tat begründete Putin die An­hebung der Alarmstufe für die russischen Atomstreitkräfte unter anderem mit »illegi­timen Sanktionen«. Es folgten mehr als ein Dutzend russischer Warnungen vor den Gefahren von Waffenlieferungen, Sanktionen oder einer »Einmischung« in die »Spe­zialoperation«. Solche Versuche, Unterstützung zu verhindern, waren jedoch zurück­haltend, die nukleare Dimension blieb in den Statements weitgehend implizit.

So übernahmen russische Repräsentanten in ihren Erklärungen die Sprache der russischen Nukleardoktrin: Militärhilfe komme einem »Akt der Aggression« gleich oder schaffe »existenzielle« Bedrohungen, hieß es zum Beispiel, womit auf die Mög­lichkeit einer nuklearen Reaktion angespielt wurde. Auch wurde gewarnt, west­liche Unterstützung für die Ukraine könne zu einem gefährlichen »direkten Zusammenstoß« führen oder sei als Akt eines Stell­vertreterkonflikts zu werten – eben jenes Sze­nario, das beide Seiten als riskant ansahen. Auf diese eher impliziten Drohun­gen folg­ten eine Reihe expliziter Dementis, Richtig­stellungen und Klagen darüber, dass Russ­lands »rein defensive« Politik miss­verstanden wurde. In knapp zwanzig russi­schen Statements wurden jegliche Nuklear­drohungen bestritten oder erläutert, dass Russland nur bei einem direkten Angriff auf sein Territorium Atomwaffen einsetzen könnte.

Die Nato-Staaten waren unterdessen bemüht, Russlands nukleare Erpressungsversuche als erfolglos darzustellen, mög­licherweise um die Schaffung eines gefähr­lichen Präzedenzfalls zu verhindern. In den ersten sechs Kriegsmonaten kündigte der Westen mehr als sechzig Mal an, seine Maßnahmen zur Unterstützung Kyjiws fort­zusetzen oder noch auszuweiten. Solche Ankündigungen erfolgten mindestens im Zweiwochentakt, oft auch mehrmals pro Woche; nach Moskaus Atomdrohungen häuften sie sich in besonderem Maße – zum Beispiel Ende Februar oder Ende April. Dennoch zeugt das Verhalten des Westens von Vorsicht, wobei unklar ist, ob dies auf Russlands Warnungen oder die bloße Exis­tenz des russischen Nukleararsenals zu­rück­zuführen ist. Die Nato-Staaten bemüh­ten sich darum, ihre Unterstützung für Kyjiw sorgfältig auszutarieren, und waren offen­kundig darauf bedacht, jedwede Entwick­lung in Richtung einer direkten Nato-Russ­land-Konfrontation wegen der damit ver­bundenen nuklearen Risiken zu vermeiden. So beschränkten Regierungen von Nato-Staaten den Zugang zu Informationen, lie­ßen Ankündigungen bestimmter Lieferun­gen im Vagen und bestätigten Lieferungen erst, nachdem sie in der Ukraine eingetrof­fen waren. Bei Entscheidungen über die Quantität und Qualität weiterer zu liefern­der Waffen warteten sie oft Moskaus Reak­tion auf vorherige Unterstützungsmaßnah­men ab. Auch widersprachen westliche Staaten wiederholt und öffentlich Russlands Ansinnen, Unterstützungsmaßnahmen mit einer direkten Intervention gleichzusetzen. Besondere Vorsicht legten sie an den Tag, wenn mögliche Lieferungen schwerer Waf­fen öffentlich diskutiert wurden, wie im Fall von Kampfflugzeugen oder bestimmten Kampfpanzertypen. Schließlich suchten sie zu vermeiden, mit ukrainischen Angriffen auf wichtige russische Ziele in Verbindung gebracht zu werden.

Russlands gescheiterte Erpressungsversuche

Die Möglichkeit eines russischen Atom­waffeneinsatzes gegen die Ukraine beunru­higt Kyjiw und den gesamten Westen. Zwar bestritt Moskau in den ersten Monaten des Konflikts derartige Absichten – in mindes­tens einem Dutzend Erklärungen wurde die rein defensive Ausrichtung der russischen Atomwaffendoktrin unterstrichen und be­hauptet, der lokale Konflikt in der Ukraine habe keine nukleare Dimension, oder es wurde ausdrücklich versichert, solche Waf­fen würden nicht gegen die Ukraine ein­gesetzt. Jedoch beunruhigten mindestens eine Handvoll russische Andeutungen – dabei ging es um fiktive ukrainische Atom- oder Biowaffenprogramme oder angeblich in der Ukraine verbliebene sowjetische Nuklearwaffentechnik. Im Westen wurde dies als Indiz gesehen, dass Moskau versu­chen könnte, einen Atomschlag im Rahmen seiner offiziellen Doktrin zu legitimieren.

Um den Kreml davon abzuhalten, nukleare Optionen in Erwägung zu ziehen, und um die Entschlossenheit der Ukraine zu stär­ken, zogen US- und Nato-Repräsentan­ten ihrerseits immer deutlicher rote Linien. Öffentlich taten US-Beamte zwar die Mög­lichkeit eines Nukleareinsatzes zunächst als unwahrscheinlich ab. Hinter verschlossenen Türen warnten sie Russland aber bereits Ende Februar davor, solche Optio­nen in Betracht zu ziehen. Ende April schie­nen sich die Bedenken zu mehren, als Geheimdienste vor massiven Auswirkungen eines – wenn auch weiterhin unwahrscheinlichen – Nukleareinsatzes warnten. So erklärte Biden damals öffentlich, Wa­shington sei auf alles vorbereitet, was Russ­land tun könnte. Eine zweite Warnung folgte Ende Mai: »Jeder« Einsatz von Nu­klear­waffen sei »völlig inakzeptabel« und hätte »schwerwiegende Konsequenzen«, so Biden. Ende Juni sprachen die USA gemein­sam mit ihren G7-Partnern eine ähnliche Warnung aus.

Im September erhielten westliche Befürchtungen neuen Auftrieb. Angesichts militärischer Rückschläge beschloss Moskau, die teileroberten ukrainischen Provinzen offiziell zu annektieren. Dabei deutete es die Möglichkeit an, zum Schutz von Russ­lands »territorialer Integrität« Atomwaffen einzusetzen. Washington reagierte mit spe­zifischen Warnungen an den Kreml hinter verschlossenen Türen, aber auch öffentlich. Der Einsatz von Atomwaffen würde »das Gesicht des Krieges verändern« und »kon­sequente« US-Reaktionen nach sich ziehen, so Biden. Andere europäische Entscheidungsträger und Entscheidungsträgerinnen, Nato- und US-Beamte beschworen ebenfalls »katastrophale Fol­gen« für Russland.

Nukleare Risiken bleiben begrenzt

Westliche Vertreter haben wiederholt fest­gestellt, dass Russland bisher keine prak­tischen Vorbereitungen für einen Nuklearwaffeneinsatz getroffen habe. Moskaus in­terne Überlegungen dazu sind jedoch nicht bekannt. Aus seinem Drohverhalten lassen sich gleichwohl drei Implikationen für mög­liche Entwicklungen ableiten.

Erstens legen sowohl westliche als auch russische Erklärungen und Handlungen nahe, dass die Gefahr eines Nuklearwaffeneinsatzes in der Tat größer würde, sollte die Nato direkt in den Konflikt eingreifen. Derzeit deutet allerdings nichts darauf hin, dass das Bündnis diesen Weg einschlägt.

Unterhalb der Schwelle zu einer direkten Intervention scheint der Westen wiederum mehr Spielraum zu haben, als oft vermutet wird. Moskaus Äußerungen und sein Ver­halten lassen nicht darauf schließen, dass der Kreml auf militärische Hilfe für die Ukraine oder Sanktionen gegen Russland atomar reagieren würde – erst recht nicht gegen Nato-Staaten. Stattdessen scheint Russland Schritte tunlichst zu vermeiden, die eine direkte Konfrontation hervorrufen könnten. Angesichts der beträchtlichen Auswirkungen, die westliche Ukraine-Mili­tärhilfe schon jetzt auf russische Kriegs­anstrengungen hat, erscheint es sehr un­wahrscheinlich, dass bestimmte Waffen­lieferungen diese grundsätzliche russische Haltung ändern würde.

Drittens deutet die berechnende und vor­sichtige Strategie der russischen Führung darauf hin, dass sie um die Kosten eines Atomwaffeneinsatzes gegen die Ukraine weiß und darum vorerst nicht glaubwürdig mit dieser Option drohen kann. Sollte sich Kyjiws Gegenoffensive längerfristig als erfolgreich erweisen, gilt es sorgfältig zu durchdenken, auf welche Weise sich eine militärische Niederlage Russlands in der Ukraine zu einer ernsthaften Bedrohung für das amtierende Regime im Kreml ent­wickeln und infolgedessen akutere Risiken einer nuklearen Eskalation hervorrufen könnte.

Dr. Liviu Horovitz ist Wissenschaftler, Anna Clara Arndt ist Forschungsassistentin in der Forschungsgruppe Sicherheits­politik. Das Aktuell entstand im Rahmen des Projekts »Strategic Threat Analysis and Nuclear (Dis-)Order« (STAND).

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2022

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