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Nach dem Brexit: Energiemarkt für Vereinigtes Königreich offenhalten

Mit dem Brexit droht ein schwerer Schlag für die EU-Gasmarktintegration und damit für die Energiesicherheit der EU. Andreas Goldthau und Kirsten Westphal halten es daher für wichtig, den europäischen Energiemarkt für das Vereinigte Königreich offenzuhalten.

Kurz gesagt, 11.07.2016 Research Areas

Mit dem Brexit droht ein schwerer Schlag für die EU-Gasmarktintegration und damit für die Energiesicherheit der Europäischen Union. Andreas Goldthau und Kirsten Westphal halten es daher für wichtig, den europäischen Energiemarkt für das Vereinigte Königreich offenzuhalten.

Großbritanniens Entscheidung, die EU zu verlassen, hat weitreichende Auswirkungen auch auf das strategische Ziel der Versorgungssicherheit der Union beim Erdgas. Das Vereinigte Königreich ist zum einen mit knapp 40 Milliarden Kubikmeter Erdgasförderung der zweitgrößte Produzent in der EU – wobei allerdings knapp die Hälfte davon im EU-freundlichen Schottland gefördert wird. Die Insel ist nach Deutschland auch der wichtigste Erdgasmarkt in der EU. Zum anderen ist Großbritannien traditionell ein Verfechter des liberalen Modells auch im Energiemarkt, der auf dem Kontinent lange staatlich monopolisiert war.

Auf der Insel wurde bereits in den 1980ern begonnen, die Gasindustrie zu privatisieren, die Gasmärkte zu liberalisieren sowie Angebot und Nachfrage über die sogenannten Spotmärkte steuern zu lassen, an denen kurzfristig Erdgas gehandelt wird. Großbritannien machte damit vor, wie ein immer stärker von Importen abhängiges Land seine Bürger und Industrie mit verlässlicher und bezahlbarer Energie marktbasiert versorgen kann: Verflüssigtes Erdgas aus Katar und Übersee konkurrierte früh mit heimischem, norwegischem, und vom europäischen Kontinent importiertem Erdgas am virtuellen Gashandelsplatz, dem National Balancing Point (NBP).

Basierend auf dem liberalen Konzept hat die EU seit den späten 1990ern begonnen, europäische Binnenmarktintegration, grenzüberschreitenden Handel und den Wettbewerb zu fördern, um die Energiesicherheit in der EU zu verbessern. Dies ist ein besonderes Anliegen gerade bei Erdgas, denn bei diesem Energieträger teilen Brüssel und viele Mitgliedsländer die Sorge, dass die Importabhängigkeit von Russland zur politischen Erpressbarkeit führen könnte. Allerdings scheiden sich an der Frage, ob die Sicherung der Erdgasversorgung dem Markt überlassen oder vielmehr dem Staat überantwortet werden sollte, auch heute die Geister. Die Vorteile eines Wettbewerbsmarktes liegen dabei nicht nur aus britischer Sicht auf der Hand: Erstens erzeugt mehr Konkurrenz Preisdruck auf die Gaslieferanten, und zweitens kann ein integrierter Binnenmarkt mit grenzüberschreitender Infrastruktur Lieferkürzungen abfedern. Die ukrainisch-russische Gaskrise von 2009 hat die Notwendigkeit von mehr Marktintegration deutlich vor Augen geführt. Als Konsequenz haben die Europäer die zwischenstaatlichen Verbindungspipelines, die sogenannten Interkonnektoren, ausgebaut. So konnte die Ukraine nach der Krim-Annexion und der Destabilisierung der Ostukraine über den nordwesteuropäischen Markt mit Erdgas versorgt werden – eine Erfolgsgeschichte.

Das Marktmodell als Garant für europäische Energiesicherheit

Großbritanniens Abschied von der EU ist daher aus zwei Gründen ein Fanal. Zum einen könnte in Zukunft ein wichtiger Befürworter der weiteren Gasmarktintegration fehlen. Trotz häufiger Lippenbekenntnisse zur Energie-Union sind nicht wenige EU-Mitgliedstaaten skeptisch gegenüber dem liberalen Modell. Sie präferieren einen abgeschotteten nationalen Markt und halten an nationalen Versorgungsunternehmen fest in der Hoffnung, so die Versorgungssicherheit zu gewährleisten. Gerade in Osteuropa ist ein starker Trend festzustellen, den Energiesektor staatlich zu organisieren, nicht zuletzt wegen der Renten, die der Sektor abwirft. Staatszentrierte Modelle könnten in der Zukunft insofern noch mehr Auftrieb erhalten.

Zum anderen hat Großbritannien de facto auch eine wichtige Funktion für die angrenzenden Gasmärkte in Holland, Belgien und Deutschland. Die Insel ist über zwei Gasröhren, dem bidirektionalen Interkonnektor und der Balgzand-Bacton-Line (BBL), mit dem Kontinent verbunden. Im Zuge des Gashandels zwischen der britischen Insel und dem Festland hat sich der für Deutschland wichtige nordwesteuropäische Markt zum bestversorgtesten und wettbewerbsintensivsten auf dem Festland entwickelt. Der Londoner Handelsplatz NBP ist schnell zum Preisanhaltspunkt für die nordwesteuropäischen Handelsplätze geworden. Sollte Großbritannien den Austritt erklären, werden Jahre von Unsicherheit folgen, die Investoren und Händler im Energiesektor abschrecken. Großbritannien würde womöglich nicht mehr den EU-Energievorschriften unterliegen, Handelsabkommen müssten neu geschlossen werden, und der ungehinderte Zugang zum europäischen Gasmarkt wäre fraglich. Dies könnte zur Folge haben, dass der »Motor« der europäischen Gasmarktintegration ins Stocken gerät.

Die Energieunion ist eine der zehn Prioritäten der amtierenden Europäischen Kommission. Mit dem Brexit könnte sich die EU jedoch von den wichtigsten Zielen der Gasmarktintegration – der Entwicklung des Binnenmarktes und der Versorgungssicherheit beim Erdgas – entfernen. Deutschland verlöre seinen wichtigsten Partner, um das Marktmodell voranzutreiben. Eine alleinige Führungsrolle Berlins bei der Gasmarktentwicklung aber wäre in der Union wegen Deutschlands enger Partnerschaft mit Russland wohl umstritten. Ein britisch-deutsches Markttandem dagegen kann glaubwürdig agieren, da das Vereinigte Königreich als Treiber einer Diversifizierung und als russlandkritisch gilt. Ziel der bevorstehenden Verhandlungen mit London müsste es daher sein, den europäischen Energiemarkt für das Königreich offenzuhalten. Selbst wenn die Briten die EU verlassen, sollten die Gasmoleküle von der Insel die »normative Kraft« des Marktmodells weiter in die EU hineintragen. Die Zeit ist gekommen, die Energie-Union über die Grenzen der EU hinaus zu gestalten.

Kirsten Westphal forscht in der Forschungsgruppe Globale Fragen der SWP u.a. zu internationalen Öl- und Gasmärkten sowie zu Versorgungssicherheit. Andreas Goldthau forscht als Professor an der CEU School of Public Policy zu ähnlichen Themen.

Dieser Text ist auch bei EurActiv.de erschienen.