Mit dem endgültigen Abzug der französischen Militäroperation Barkhane aus Mali am 15. August 2022 und deren teilweiser Verlegung in das Nachbarland Niger regt sich auch dort zunehmend Protest in der Bevölkerung. Die Ankündigung von Präsident Mohamed Bazoum, die Dieselpreise anzuheben sorgt dabei für zusätzlichen Zündstoff. Megatrends Afrika sprach mit Moussa Tchangari, Generalsekretär der nigrischen Nichtregierungsorganisation Alternative Espaces Citoyens (AEC), über die Hintergründe des zivilgesellschaftlichen Unmuts, neue Formen des Protests und mögliche Auswege aus der aktuellen sicherheitspolitischen Krise.
LT: Herr Tchangari, in Folge des Ukrainekrieges und steigender globaler Marktpreise hat Präsident Mohamed Bazoum angekündigt, auch in Niger ab 1. August 2022 die Dieselpreise zu erhöhen. Das hat zu großer Unzufriedenheit in der Bevölkerung geführt. Im Diskurs zivilgesellschaftlicher Organisationen hat sich diese Unzufriedenheit jedoch prompt mit einer scharfen Kritik an der Verstärkung der Präsenz der französischen Militärmission Barkhane in Niger vermischt. Wie hängen diese beiden Themen in der Wahrnehmung der Zivilbevölkerung zusammen?
MT: Beide Themen sind nicht nur aktuell, sondern werfen auch grundlegende Fragen über die Zukunft unseres Landes auf, die es verdienen, gestellt zu werden. Wie können wir angesichts steigender Inflation die Kaufkraft der Bevölkerung schützen? Und was bedeutet die Präsenz unterschiedlicher ausländischer Armeen für die Souveränität unseres Landes? Nachdem die Regierung beschlossen hat, ab 1. August die Dieselpreise zu erhöhen, hat Präsident Bazoum zivilgesellschaftliche Akteure zu sich gerufen. Er hat ihnen die Beweggründe für die Preiserhöhung erläutert, aber auch erklärt, dass die Entscheidung nicht rückgängig gemacht wird.
Dies hat eine Welle des Protests ausgelöst und dazu geführt, dass sich 15 zivilgesellschaftliche Organisationen in einer Plattform zusammengeschlossen haben. Sie trägt den Namen M62, in Anlehnung an 62 Jahre Unabhängigkeit Nigers von der französischen Kolonialmacht. In einer ersten Deklaration wurde von M62 die Rücknahme der Dieselpreiserhöhung gefordert, aber auch der Abzug von Barkhane.
Ich denke, dass die Frage des Dieselpreises von den beteiligten Organisationen in Wirklichkeit als Katalysator genutzt wird, um die französische Militärpräsenz zu problematisieren. Diese wird zwar von unserer Regierung gewünscht, aber in der öffentlichen Meinung schon länger mit Skepsis betrachtet. Beide Themen zusammengenommen haben das Potential, die Bevölkerug zu mobilisieren. Sie machen es dann aber auch schwieriger, konkrete Lösungen zu finden. Zumal wir in beiden Fällen die Position der Regierung kennen. Eine geplante Demonstration wurde verboten. Daran sehen wir auch, wie die Regierung die Anliegen der Bevölkerung interpretiert und auf Kritik reagiert.
LT: Ihre Organisation AEC ist nicht Teil der neu gegründeten Plattform. Warum?
MT: Wir unterstützen eine aktive Zivilgesellschaft, die sich mit diesen beiden Themen auseinandersetzt. Aber wir haben nicht das gleiche Problemverständnis wie einige der beteiligten Organisationen. Für uns stellen sich in diesem Zusammenhang noch viele weitere, grundlegende Fragen, wie beispielsweise nach Demokratie und guter Regierungsführung, nach Bürgerrechten oder auch dem Kampf gegen die Hungersnot. Das sind Fragen, über die wir gemeinsam mit unserer Regierung diskutieren sollten – gesetzt den Fall, sie ist dazu bereit.
Hinzu kommt die Frage der Methode. Wir haben schon 2017 unter dem Namen „Cadre de Concertation et d’Actions Citoyennes“ ein Netzwerk zivilgesellschaftlicher Organisationen gegründet und in diesem Rahmen seit 2018 viele gemeinsame Aktionen durchgeführt. Viele Organisationen, die jetzt bei M62 mitmachen, waren auch dabei. Wieso sollten wir eines Morgens aufstehen und eine neue Stuktur gründen ohne vorher Bilanz zu ziehen von dem, was wir bis jetzt erreicht haben?
LT: In Burkina Faso hat sich Ende Juli 2022 ein Bündnis von politischen Parteien und zivilgesellschaftlichen Organisationen unter dem Namen M30 Naaba Wobgo gegründet und Proteste gegen die französische Afrikapolitik organisiert. Hat das auch den nigrischen Akteuren Aufwind gegeben, eine Ad Hoc-Koalition unter ähnlichem Namen zu gründen?
MT: Ja, das hat mit Sicherheit eine zentrale Rolle gespielt. Aber sollte man so agieren? Die Menschen wollen Veränderung. Aber wenn man sich diese Art von Ad Hoc-Bewegungen genauer anschaut, dann sieht man, dass ihr größtes Problem zunächst ist, zu verstehen, was eigentlich das Problem ist. Und darauf aufbauend dann Lösungsansätze zu entwickeln.
LT: Über die neue militärische Interventionstrategie Frankreichs in Niger ist derzeit offiziell nur wenig bekannt. Welche Rolle spielt Desinformation in der Mobilisierung der nigrischen Zivilgesellschaft?
MT: Die Mobilisierung der Bevölkerung liegt nicht primär an der Verbreitung von Desinformation, sondern an der Tatsache, dass fast 10 Jahre französische Militärpräsenz in der Region keine zufriedenstellenden Ergebnisse erbracht haben. Die Menschen fragen sich: Warum sollten wir so weitermachen wie bisher, wenn es doch nicht funktioniert? Sie argumentieren, dass die Franzosen die Mittel hätten, etwas zu verändern, aber dies nicht tun. Sie bezweifeln daher, dass Frankreichs Ziel wirklich der Kampf gegen den Terrorismus ist, und es verbreiten sich viele Grüchte. Dabei sollten wir uns in Wirklichkeit fragen, ob Militärinterventionen im Kampf gegen die bewaffneten Gruppen in unserem Land effektiv sein können.
Im Gegensatz zu anderen denke ich nicht, dass wir bessere Ergebnisse erzielen, wenn wir einfach die Spieler austauschen. Wir sehen in anderen Fällen, zum Beispiel in Afghanistan, aber auch in unserer eigenen Geschichte, dass sich ein Krieg nicht allein mit Panzern, Drohnen und Flugzeugen gewinnen lässt. Es reicht nicht aus zu sagen, dass Barkhane nicht effizient war. Wir sehen heute, dass ein rein militärischer Ansatz versagt hat. Wir sehen, dass wir eine Alternative brauchen. Diese Alternative besteht zwangsläufig in der Suche nach politischen Lösungen.
LT: Befürworten Sie also den Ansatz von Präsident Mohamed Bazoum, in einen Dialog mit jihadistischen Gruppen zu treten?
MT: Ich kann nicht bestätigen, dass Präsident Bazoum derzeit wirklich einen echten Dialog führt, aber ich denke auf jeden Fall, man sollte das in Erwägung ziehen. Wenn Präsident Bazoum ernsthaft in diese Richtung gehen will, dann ist das eine bessere Idee, als sich weiterhin der Illusion hinzugeben, die Probleme ließen sich rein militärisch regeln. Man sollte natürlich auch das Militär stärken, damit sich das Kräfteverhältnis nicht weiterhin zugunsten der jihadistischen Gruppen verschiebt. Das ist eine Sache. Aber eine grundsätzliche Lösung kann sich nur im Dialog finden lassen.
LT: Welche Erwartungen haben Sie, als Vertreter der nigrischen Zivilgesellschaft, an die internationale Gemeinschaft – insbesondere an europäische Akteure – bezüglich der Überwindnung der aktuellen Sicherheitskrise?
MT: Ich denke, dass die europäischen Länder akzeptieren sollten, dass die sicherheitspolitische Krise im Sahel zunächst einmal ein Problem der Länder im Sahel ist. Wir müssen hier eine Lösung dafür finden, indem wir unsere Vorstellungen und Widersprüche miteinander verhandeln.
Wir sehen aber derzeit, dass uns im Namen des Kampfes gegen den Terrorismus Lösungsansätze vorgeschrieben werden. Als die malische Führung beispielsweise mit jihadistischen Gruppen in einen Dialog treten wollte, wurde sie von Frankreich blockiert. Europa sollte die Meinungen und die Anliegen der Bevölkerung im Sahel ernst nehmen, die nicht immer von unseren eigenen Regierungen repräsentiert werden, anstatt zu sagen, dass die Bevölkerung nicht gut informiert oder gar manipuliert ist. Diese Haltung ist es letztlich auch, die dazu beiträgt, dass europäische Militärhilfe hier abgelehnt wird.
Das Gespräch wurde geführt von Lisa Tschörner (SWP) am 16.08.2022 in Niamey, Niger.
Nach nahezu zehn Jahren hat Frankreich seine Soldaten nun aus Mali abgezogen. Der Rückzug symbolisiert nicht nur ein Scheitern der französischen Interventionspolitik, argumentieren Benedikt Erforth (IDOS) und Denis Tull (SWP) in diesem Megatrends Afrika Spotlight, sondern spiegelt auch die außenpolitische Schwäche Europas wider.
Seit der russischen Invasion der Ukraine erreichen uns täglich Berichte und Bilder von einer humanitären Katastrophe in der Schwarzmeerregion. Gleichzeitig droht eine weitere in vielen afrikanischen Staaten durch den Wegfall von Getreide- und Nahrungsmittelimporten. Wir sprechen mit Agrarökonomin Bettina Rudloff (SWP) darüber, warum die Ernährungssicherheit in Afrika oft an Importe geknüpft ist und welche Handlungsoptionen afrikanische und internationale Akteure jetzt haben. Sie sagt, es fehle der strategische Umgang mit bestehenden Lösungsansätzen und Hilfsmitteln wie Regionalkooperationen und Monitoringsysteme. Auch die Kooperation mit sogenannten nicht-traditionellen humanitären Geberstaaten wie China ist eine Option.