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Ein Afrika oder zwei?

blog Joint Futures 09, 12.10.2023

Sollte deutsche Afrikapolitik auch Nordafrikapolitik sein? Eine pragmatische Neuausrichtung der Beziehungen mit den Ländern auf beiden Seiten tradierter Trennlinien bedarf der Offenheit neue Räume des Dialogs zu öffnen. Wolfram Lacher und Isabelle Werenfels (SWP) zeichnen Unterschiedlichkeiten und Verbindendes nach.

 

Noch vor fünfzehn Jahren wurde in europäischen Ministerien Nordafrika und der Rest des Kontinents strikt getrennt betrachtet und behandelt. In jüngerer Zeit mehren sich dagegen die Rufe, westliche Regierungen sollten Afrika endlich als Gesamtkontinent begreifen. Die weit verbreitete Unterscheidung zwischen Nord- und Subsaharaafrika, die sich auch in separaten Abteilungen in Ministerien widerspiegelt, sei eine künstliche und ein Überbleibsel kolonialer Denkweisen. Das Schubladendenken erschwere den Umgang mit politischen Herausforderungen, die beide Seiten der Sahara verbinden – wie etwa Migration oder Jihadismus. Tatsächlich meinen wir im akademischen und politischen Sprachgebrauch mit „Afrika“ meist implizit die Teile des Kontinents, die südlich der Sahara liegen. Sollte die zukünftige deutsche Afrikapolitik also Nordafrika explizit miteinbeziehen?

Wachsende Verknüpfung

Tatsächlich haben die Krisen des letzten Jahrzehnts regionale Konfliktkomplexe entstehen lassen, die schon bestehende trans-saharische Verbindungen offengelegt und neue geknüpft haben. Dazu zählen der Zusammenhang zwischen dem Libyenkrieg 2011 und der Krise in Mali 2012; die ständige Zirkulation von Waffen und Kämpfern zwischen Libyen, Tschad und dem Sudan; der Nilwasserkonflikt zwischen Äthiopien und Ägypten; oder auch die Animositäten innerhalb der Afrikanischen Union (AU) zwischen Marokko und Algerien, die sich stark aus dem ungelösten Westsaharakonflikt und Rivalität um Einfluss in Subsahara speisen. Auch der neue militärische Interventionismus nicht-westlicher Staaten wie der Türkei, Russlands und der Vereinigten Arabischen Emirate verbindet afrikanische Konflikte nördlich und südlich der Sahara.

Migrationsbewegungen, die seit 2015 von europäischen Regierungen als immer dringlicheres Problem wahrgenommen werden, sind ein weiteres offensichtliches Bindeglied zwischen den Subregionen. Nordafrikanische Staaten sind selbst Herkunftsländer, für Migranten und Flüchtlinge aus dem Süden aber sowohl Transitländer auf dem Weg nach Europa, als auch wichtige – und problematische – Zielländer.

Hinzu kommt ein gewachsenes Interesse insbesondere der Maghreb-Staaten für den Rest des Kontinents. Marokko engagiert sich seit über einem Jahrzehnt stärker und weitgehend erfolgreich in Subsahara-Afrika: wirtschaftlich, diplomatisch, entwicklungs-, religions- und nicht zuletzt sicherheitspolitisch. Algerien knüpft seit einigen Jahren ebenfalls wieder an seine in der Vergangenheit einflussreiche und prestigereiche Rolle an, die in der Unterstützung von zahlreichen Unabhängigkeitsbewegungen auf dem Kontinent gründete.

Ein verbindendes Element ist überdies die geplante Afrikanische Kontinentale Freihandelszone – bis auf Libyen haben alle nordafrikanischen Staaten das Rahmenabkommen ratifiziert. Diese soll perspektivisch Zollschranken weitgehend abbauen, um Handel, Produktion und kontinentale Wertschöpfungsketten zu stärken. Darüber hinaus sind die nordafrikanischen Staaten über verschiedene subregionale Wirtschaftsorganisationen wie COMESA und CEN-SAD verbunden. Marokko hat Interesse am Beitritt zur Westafrikanischen Wirtschaftsunion ECOWAS signalisiert, Tunesien hat bereits Beobachterstatus. Denn im Gegensatz zu dieser Organisation existiert die Union du Maghreb Arabe (UMA) nur mehr auf dem Papier.

Nicht zuletzt hat die Konnektivität zwischen Subsahara-Afrika und Nordafrika zugenommen. Das gilt in erster Linie für den nahezu fertig gestellten Transsahara-Highway. Im Gespräch sind aber auch zwei Gaspipelines von Nigeria über Marokko und über Algerien nach Europa.

Beständige Gräben

Trotz solcher enger werdenden Verbindungen gibt es aber auch weiterhin wichtige Unterschiede und fortbestehende Gräben zwischen Nordafrika und dem Rest des Kontinents, die auch für die deutsche Politik relevant sind.

Wichtige Megatrends erfassen die beiden Subregionen auf sehr unterschiedliche Weise: hinsichtlich Urbanisierung, demographischer Transition und Internetdurchdringung sind nordafrikanische Staaten den meisten Ländern in Subsahara-Afrika – mit Ausnahme Südafrikas und Botswanas – weit voraus. Dies gilt auch für so genannte menschliche Entwicklung, wie sie im Human Development Index gemessen wird. Umgekehrt befinden sich jedoch die am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften des Kontinents südlich der Sahara – was bedeutet, dass sich auch die Gesellschaften dort dynamischer entwickeln dürften als diejenigen Nordafrikas. Hinsichtlich der staatlichen Verfasstheit existieren ebenfalls erhebliche Unterschiede: Mit der Ausnahme Libyens handelt es sich in Nordafrika um Staaten mit starken Sicherheitsapparaten, die das Gewaltmonopol über das gesamte Staatsgebiet ausüben. Überdies finden sich in Subsahara-Afrika nach wie vor eine gute Handvoll von Demokratien sowie eine Reihe hybrider politischer Systeme, während seit der Machtübernahme des tunesischen Präsidenten 2021 ganz Nordafrika autoritär oder – im libyschen Fall – von Milizen regiert wird.

Politische und gesellschaftliche Trends breiten sich innerhalb Nord- bzw. Subsaharaafrikas aus, versanden aber in der Sahara - in beiden Richtungen. Deutlich wurde das insbesondere im „Arabischen Frühling“ 2011, aber auch in den Militärputschen, die seit 2020 vor allem in Westafrika um sich greifen. Das zeigt nicht zuletzt, dass es in beiden Subregionen jeweils gemeinsame öffentliche Räume gibt – aber keine, die den gesamten Kontinent miteinander verbinden. Nordafrikanische Staaten sind durch ihre arabischsprachige Medienlandschaft miteinander und mit dem Nahen bzw. Mittleren Osten verbunden; südlich der Sahara ist politische Diffusion jeweils zwischen frankophon bzw. anglophon geprägten Ländern besonders stark.

Nordafrikanische Bevölkerungen, die mehrheitlich an der Mittelmeerküste leben, sehen sich Großteils nicht als „Afrikaner“, sondern eher dem arabischen, mediterranen oder muslimischen Kulturraum zugehörig. Ein Ausdruck davon ist der weiterhin starke Rassismus, der sich in den letzten Jahren auch immer wieder in Kampagnen gegen Arbeitsmigrant*innen niederschlug. Regierungen pflegen ein instrumentelles Verhältnis zu ihrer afrikanischen Identität: sie wird für politische Zwecke auf AU-Ebene betont, sonst aber – mit der Ausnahme Marokkos – heruntergespielt.

Regierungen in Subsahara-Afrika wiederum nehmen das zunehmend starke Auftreten der großen nordafrikanischen Staaten in Subsahara-Afrika als potentielle Gefahr wahr. Dies wurde deutlich am Widerstand gegen Marokkos Aufnahme in die ECOWAS Ende der 2010er Jahren, bei der neben dem Westsahara-Konflikt vor allem die Sorge vor ökonomischer Dominanz eine Rolle spielte. Auch bei Wahlen von AU-Kommissar*innen gibt es oft Bestrebungen, ein Übergewicht nordafrikanischer Vertreter*innen zu verhindern.

Gewicht der direkten Nachbarschaft

Aus deutscher und europäischer Perspektive schließlich spielt vor allem die direkte geographische Nachbarschaft Nordafrika und Südeuropas eine Rolle für Wahrnehmungen und Politiken. Die Stabilität der südlichen Nachbarstaaten ist ein unmittelbareres europäisches Interesse als diejenige von Staaten im südlichen Afrika. In der europäischen Migrationspolitik spielen die südlichen Mittelmeeranrainer eine wesentlich wichtigere Rolle bei der Externalisierung als die meisten anderen Transit- und Herkunftsländer. Überdies zeigen sich rund ums Mittelmeer zunehmend ähnliche Herausforderungen mit Blick auf den Klimawandel, wie etwa steigende Wassertemperaturen, Wassermangel und Waldbrände. Diese verlangen nach gemeinsamen Maßnahmen der Mittelmeeranrainer.

Die nordafrikanischen Staaten sind, ebenfalls aufgrund der geographischen Nachbarschaft, seit Jahrzehnten schon in ein Geflecht von bi- und multilateralen außenpolitischen Frameworks der EU eingebunden. Dazu gehören die bilateralen Wirtschafts- und Handelsabkommen im Rahmen der Euro-Mediterranen Partnerschaft, die Aktionspläne der Europäischen Nachbarschaftspolitik sowie multilaterale Regulations- und Infrastrukturprojekte, die die Union für das Mittelmeer in Bereichen wie Klimaschutz und Konnektivität vorantreibt. Diese Instrumente lassen sich mehrheitlich nicht auf den gesamten Kontinent ausweiten. Insbesondere die Handelsabkommen mit nordafrikanischen Staaten unterscheiden sich in ihrer Tiefe und Ausgestaltung teilweise stark von jenen mit Ländern in Subsahara-Afrika, nicht zuletzt, weil immer mehr europäische Firmen Produktionsstätten nach Marokko und Tunesien verlagern. Das deutsche Handelsvolumen mit den sechs nordafrikanischen Staaten ist fast doppelt so groß wie jenes mit dem Rest des Kontinents, Südafrika ausgenommen. Mit anderen Worten: europäische politische und wirtschaftliche Interessen sind in Nordafrika und Subsahara-Afrika anders gelagert.

Die deutsche Afrikapolitik wird den gesellschaftlichen Unterschieden und politischen Gräben zwischen dem Norden und dem Rest des Kontinents also auch weiterhin Rechnung tragen müssen. Es ist nicht anachronistisch, den Zusammenhängen nordafrikanischer Staaten und Gesellschaften mit dem Mittelmeerraum und dem Mittleren Osten ein mindestens ebenso großes analytisches Gewicht einzuräumen als jenen mit dem subsaharischen Afrika. Die traditionellen bürokratischen Trennlinien lediglich gegen neue Schubladen auszutauschen, die solche Zusammenhänge ignorieren, wäre wenig zielführend. Vielmehr geht es darum, lösungsorientiert und pragmatisch auf die wachsenden unterschiedlichen Zusammenhänge zwischen Nord- und Subsahara-Afrika zu reagieren. Dies gilt insbesondere in der Sicherheitspolitik und bei der Konfliktbearbeitung in der nördlichen Hälfte des Kontinents – perspektivisch aber auch bei Aspekten wie Lieferketten und Handelsströmen. Gerade in diesen Themenfeldern wäre es sinnvoll, Expertise zu beiden Seiten der Sahara problemorientiert und in flexiblen Formaten zusammenzubringen. Das könnte etwa bedeuten, zum Umgang mit akuten Konflikten wie im Sudan einen temporären Arbeitsstab einzurichten, in den Referent*innen zu Ländern wie den Vereinigten Arabischen Emiraten, Ägypten, Libyen und Tschad einbezogen werden. Oder, dass die deutschen Botschafter und Botschafterinnen in Nordafrika auch mal zum alljährlichen Austausch ihrer Kolleg*innen in Subsahara-Afrika eingeladen werden.

 

Die Verantwortung für die in den Beiträgen und Interviews vorgetragenen Inhalte, Meinungen und Quellen liegt bei den jeweiligen Autor*innen.

Dr. Wolfram Lacher ist Wissenschaftler in der SWP-Forschungsgruppe Afrika und Mittlerer Osten und ein Projektleiter von Megatrends Afrika. Dr. Isabelle Werenfels ist Senior Fellow in der SWP-Forschungsgruppe Afrika und Mittlerer Osten.