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Kolumbiens Weg zum »totalen Frieden«

Präsident Gustavo Petro kann nicht auf die FARC-Blaupause zurückgreifen

SWP-Aktuell 2022/A 55, 08.09.2022, 7 Pages

doi:10.18449/2022A55

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Mit der gemeinsamen Ankündigung, erneut Friedensgespräche aufnehmen zu wollen, haben der neue Präsident Kolumbiens und die zweitgrößte Guerilla-Gruppe des Landes, die ELN, ein klares politisches Signal gesetzt. Die Befriedung der ELN (Ejército de Liberación Nacional) soll unter der Ägide einer »linken« Regierung gelingen und von einem umfassenden und ambitionierten Reformprojekt flankiert werden. Damit wird – nach dem Friedensschluss mit den FARC-Rebellen im Jahre 2016 – ein erneuter Anlauf genommen, um den Bürgerkrieg zu beenden. Allerdings kann das Abkommen mit der FARC nur begrenzt als Blaupause dienen. Das liegt nicht nur an dem unterschiedlichen historischen Ursprung beider Guerilla-Gruppen, sondern auch an der inneren, stark dezentral angelegten Struktur der ELN. Noch sind Fragen des Waffenstillstands und der Freilassung von Gefangenen als Vorbedingungen ungeklärt. Es stehen langwierige Verhandlungen bevor, bei denen die kolumbianische Zivilgesellschaft einbezogen werden muss, da zentrale Zukunftsfragen des Landes zu klären sind.

Nur vier Tage nach seinem Amtsantritt hat Kolumbiens neuer Präsident Gustavo Petro seiner Ankündigung, den »totalen und integralen Frieden« anzustreben, konkrete Taten folgen lassen: Er erließ am 20. August 2022 ein Dekret, mit dem er die Haftbefehle und Auslieferungsgesuche gegen die in Kuba weilenden ELN-Friedensunterhändler aussetzte und die bereits 2016 unterzeichneten Protokolle revalidierte, damit »ein Dialog mit der ELN wieder aufgenommen werden kann«. Außerdem lud er auch die sogenannten neoparamilitärischen Grup­pen zu Verhandlungen mit der Regierung ein und lieferte auch einen Anreiz für einen solchen Schritt, indem er eine Aus­lieferung an die USA im Falle ernsthafter Gespräche ausschloss. Mit dieser Initiative trägt der Präsident dem fragmentierten Charakter des Konfliktgeschehens im Land Rechnung, wo Guerillagruppen wie die ELN, wiederbewaffnete Guerilleros der FARC und paramilitärische und kriminelle Gewaltakteure auf nationalem Territorium und im Grenzgebiet zu den Nachbarstaaten agieren, sich gegenseitig bekämpfen und in Auseinandersetzungen mit staatlichen Sicherheitskräften verwickelt sind.

Gleichzeitig hat Petro mit der Erneuerung der Führungsspitze bei den Sicherheitsorganen einen einschneidenden Generationswechsel vorgenommen: Mit der Ernennung der neuen Oberbefehlshaber mussten gleichzeitig 52 Generäle bei den Streitkräften und der Polizei abtreten, da nach kolumbianischem Recht mit der Be­rufung eines neuen Oberkommandierenden der Sicherheitskräfte alle uniformierten Offiziere seines oder eines höheren Ranges zurücktreten müssen. Mit diesem Schritt und der Überführung der Polizei aus dem Verteidigungsministerium in das neue Ministerium für Frieden, Koexistenz und Sicherheit ist eine nicht nur symbolische Abkehr von jenen Führungskräften im Sicherheitsapparat begonnen worden, die an Menschenrechtsverletzungen und über­zogenen Gewalteinsätzen gegenüber der Zivilbevölkerung beteiligt waren oder dessen beschuldigt werden. Damit wird eine neue Sicherheitsstrategie Kolumbiens etabliert, die sich auch in einer neuen Drogenpolitik (Verzicht auf den Glyphosat-Einsatz), in Konzepten zur alternativen Entwicklung und in Bemühungen widerspiegelt, die ter­ritoriale Präsenz des Staates durchzusetzen.

Mit diesen Entscheidungen hat die Regie­rung Petro wichtige Voraussetzungen ge­schaffen, die den Verhandlungen mit der ELN den Weg ebnen können, aber gleichwohl keine hinreichenden Bedingungen für einen Erfolg sind. Die Zweifel gründen sich auf eine Vielzahl an gescheiterten Dialogen, die von den Friedenssondie­run­gen während der Regierung von Präsident Alfonso López Michelsen (1974–1978) über die Gesprächs­versuche in Deutschland in Mainz und im Kloster Himmelpforten (1998) bis zu den Verhandlungen unter der Regierung Iván Duque (2018–2022) reichen. Immer wieder kam es zum Abbruch der Gespräche auf­grund von militärischen Aktionen der ELN – zuletzt in Gestalt eines Bomben­anschlags auf eine Polizeischule in Bogotá am 17. Januar 2019, bei dem 23 Kadetten ums Leben kamen.

Die ELN – ein schwieriger Verhandlungspartner

Weithin werden nach der Ankündigung, die Verhandlungen mit der ELN wieder­aufzunehmen, Parallelen gezogen zu dem Friedensprozess mit den FARC-Rebellen im Jahr 2016; indes sind die Voraussetzungen für die Gespräche aufgrund der Unter­schiede zwischen beiden Gruppen nur in sehr begrenztem Umfang vergleichbar. So ist die ELN im Gegensatz zu der stark verti­kal und zentralisiert strukturierten FARC sehr dezentral aufgestellt und die einzelnen Einheiten besitzen eine große Handlungsautonomie. Dementsprechend wird die FARC beschrieben als eine »Guerilla, die auch Politik machte«, wäh­rend die ELN als »eine bewaffnete politische Gruppe« etiket­tiert worden ist, die sich durch eine quasi-föderale Gliederung auszeichne. Auch wenn beide Gruppierungen im Jahre 1964 entstanden und sich einem Marxismus hin­gaben, der von der kubanischen Revolution inspiriert war, ist die ELN doch einem eher urbanen, studentisch und gewerkschaftlich geprägten Milieu verbunden, während die FARC im ländlichen Umfeld verwurzelt ist. Zwar agierten beide Gruppierungen zu­wei­len gemeinsam, aller­dings hat sich im Laufe der Zeit doch eine große Rivalität heraus­gebildet, die sich mitunter in heftigen Kämpfen um die Kontrolle bestimmter Ter­ritorien niedergeschlagen hat. Die revolu­tio­nären Ideen der ELN speisen sich jenseits des Marxismus aus christ­lichen Elementen der Theologie der Befreiung. Eine Ikone der Bewegung ist der Priester Camilo Torres, der sich gemeinsam mit einer Studentengruppe 1965 der ELN-Guerilla anschloss und 1966 ermordet wurde. Dieser starke ideologische Anspruch der ELN führt dazu, dass sie bei Verhandlungen sehr viel dogmatischer auf­tritt als die FARC. Die Attentate der ELN richteten sich vor allem gegen die Ölindus­trie und den Bergbau bzw. gegen die ent­sprechenden Infrastruktureinrichtungen wie Pipelines. Sie verursachten hohe wirt­schaftliche Verluste und Umweltschäden. Zur Finanzierung betrieb die Guerilla neben Drogenhandel und anderen illegalen Öko­no­mien auch die Erpressung von trans­natio­nalen Unternehmen und die Entführung von Unternehmensvertretern und Politi­kern, um Lösegeldzahlungen zu er­zwin­gen. Dabei suchte die ELN immer wieder die Nähe sozialer Bewegungen und engagierte sich in der politischen Arbeit auf lokaler Ebene, um von dort aus Einfluss auch im regionalen Maßstab zu gewinnen. Indes blieb die ELN mit ihren zuweilen nur noch rund 1500 aktiven Kämpfern immer deutlich kleiner als die FARC (8000 Kämp­fer). Sie konnte aber nach dem Friedensschluss das durch die Demobilisierung der FARC entstandene Machtvakuum nutzen, ihre territoriale Präsenz erweitern und auch ihre Personalstärke auf 2500 Aktive aus­bauen. Gleichzeitig öffnete sich die Guerilla in stärkerem Maße Inhalten der indigenen und afrokolumbianischen Lebensrealität und machte sie zum Teil ihres Forderungskatalogs. Wegen dieser Vielgestaltigkeit der Interessen stellen viele Beobachter den Friedenswillen in Frage, den die in Kuba ansässige Verhandlungskommission der ELN immer wieder bekundet. Denn es ist unklar, inwieweit angesichts dezentraler Befehlsstrukturen mit einer Stimme ge­sprochen wird. Angesichts der komplexen internen Organisation ist fraglich, ob mög­liche Verpflichtungen aus einem Verhandlungsergebnis die einzelnen militärischen Einheiten tatsächlich binden würden. Die Autonomie der verschiedenen regionalen Gruppen (Frentes) und deren eigenständige militärische Aktionen haben laufende Frie­densgespräche immer wieder zum Abbruch gebracht. Damit wird auch beim jetzigen Anlauf zum »totalen Frieden« wieder zu rechnen sein. Das Zentralkommando (Comando Central) hat nur in begrenztem Umfang Zugriff auf das Han­deln der circa 7 oder 8 Frentes, die in 16 der 32 Departments Kolumbiens und in den Großstädten des Landes aktiv sind (siehe Karte, S. 4). Die im Nachbarland Venezuela operierenden Einheiten sind dabei nicht berücksichtigt. Das Fehlen einer vertikalen Kommandostruktur könnte sich deshalb erneut als ernstes Hindernis im Verhandlungsprozess erweisen.

Diesem Tatbestand muss daher auch in den Gesprächen Rechnung getragen werden: Der Friedensvertrag von 2016, der den FARC die Aussicht auf Landverteilung und politische Partizipation einbrachte, wird für die ELN kein Vorbild sein. Für sie stehen andere Fragen im Vordergrund: der Zugriff auf die natürlichen Ressourcen des Landes, die Etablierung lokaler Formen der Partizi­pation und die konkrete Ausgestaltung der territorialen Integration Kolumbiens. Die ELN wendet sich vor allem gegen den admi­nistrativen Zentralismus. Dabei betrachtet sie sich als Vermittlerin zwischen Staat und Zivilgesellschaft, die den sozialen Organisationen eine Stimme gegenüber dem Staat gibt und deren Interessen Rückhalt ver­schafft. Schon in vorausgehenden Verhandlungsrunden unter den Vorgängerregierungen hat die ELN immer wieder darauf Wert gelegt, dass neben den Gesprächen der Delegationen auch der Dialog mit der Zivil­gesellschaft in Grassroot-Foren vorangetrieben wurde, um der Heterogenität regio­naler Identitäten zu entsprechen und den Eindruck einer Verhandlungsführung ohne Beteiligung breiter gesellschaftlicher Kreise zu vermeiden. Nach ihrer Dezimierung in den 1970er Jahren ist eine tiefe soziale Ein­bettung in den von ihr kontrollierten Ge­bieten Teil ihrer militärischen Überlebensstrategie. Dieser Faktor wird auch den Weg zu einer Friedensregelung beeinflussen, da die ELN einerseits die Erwartungen der Nachbarschaftskomitees und Protestbewe­gun­gen nicht wird enttäuschen wollen, andererseits aber auch eine gewisse hege­moniale Bevormundung ihrer dort aktiven gesellschaftlichen Referenzgruppen prak­tiziert. In diesem Spannungsverhältnis bewegen sich die verschiedenen lokalen Gruppierungen mit ihren jeweils eigenen Handlungsdynamiken, die nur schwer in ein gemeinsames Verhandlungsmandat einzubinden sind.

Die Rolle der internationalen Gemeinschaft und nationaler Akteure

Die erfolgreichen Friedensverhandlungen mit der FARC-Guerilla im Jahr 2016 verlie­fen ebenso wie die Dialoge zwischen der kolumbianischen Regierung und der ELN, die 2017 im Nachbarland Ecuador und dann in Kuba aufgenommen wurden, nach einem Muster: Sie wurden international

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begleitet von Ländern, die als »Garanten« des Prozesses agieren sollten (Brasilien, Chile, Ecuador, Kuba, Norwegen und Vene­zuela). Doch dieser Weg scheiterte wegen des Attentats der ELN in Bogotá im Januar 2019, aber auch wegen der wachsenden Differenzen zwischen der Regierung von Präsident Iván Duque und dem Maduro-Regime in Venezuela, die schließlich in den Abbruch der diplomatischen Beziehungen mündeten. Insofern ist die Wiedereinsetzung von Botschaftern in beiden Ländern unmittelbar nach dem Amtsantritt von Präsident Gustavo Petro eine wichtige Rahmenbedingung, um den am 12. August 2022 in Havanna, Kuba, angekündigten Dialog zwischen seiner Regierung und der ELN ins Laufen zu bringen. Da gerade die ELN als »binationale Guerilla« im kolum­bianisch-venezolanischen Grenzgebiet ope­riert, ist eine Verständigung mit Venezuela un­abdingbar, um zu vermeiden, dass die Organisation ihre Kräfte nur ins Nachbarland verlagert, statt sie zu demobilisieren und in das zivile Leben zu integrieren. Chile und Kuba haben ihre Unterstützung des neuerlichen Friedensprozesses bereits zugesagt, der spanische Ministerpräsident Pedro Sánchez hat sein Land als Verhandlungsort angeboten. Deutschland war be­reits (zusammen mit den Niederlanden, Italien, Schweden und Schweiz) Mitglied der Gruppe von Ländern, die die letzten Gespräche unterstützt und begleitet hat. Es könnte auch jetzt wieder hilfreiche Dienste für die Durchführung von Verhandlungen anbieten.

Doch die internationale Abstützung von Verhandlungen wird nicht hinreichen, da­mit diese Erfolg haben: Im Gegensatz zum FARC-Prozess bedarf es bei den Gesprächen mit der ELN der Garantiemacht nationaler Akteure – wie etwa der Kirchen, der sozia­len Bewegungen und Universitäten –, um zu gewährleisten, dass die Verhandlungen tatsächlich an die Reformvorhaben der Regierung (wie die Reorganisation der internen Sicherheitsarchitektur, die Land­verteilungspolitik, die Steuerreform, die politische Reform und die Neukonzeption des Entwicklungsmodells), an die effektive Umsetzung der Friedensvereinbarung mit den FARC und an die politischen Debatten in Kolumbien rückgebunden werden. Dabei wird es darauf an­kommen, das Verhandlungsgeschick und die umfassenden Erfah­rungen von Außenminister Álvaro Leyva einzubinden in eine breite Allianz von nationalen Akteuren, die zwar die Vielfalt von Stimmen und Interessen erhöhen wird, aber gleichzeitig in der Lage wäre, das not­wendige Vertrauen in die Verhandlungen innerhalb der ELN zu erhöhen und die Gruppe in einen breiten sozialen Prozess einzubeziehen. Auf die Forderung der ELN nach einer »Convención Nacional« (natio­nale Versammlung) sollte aber mit Blick auf die Erfahrungen aus anderen Ländern kreativ reagiert werden. Die im Zuge des abgebrochenen Friedensprozesses in den Jahren 2018 und 2019 durchgeführten regionalen Foren konn­ten nicht die er­forderliche Breitenwirkung entfalten. Es bedarf einer Anstrengung auf nationaler Ebene, um die gesellschaftlichen Akteure auch wirklich zu beteiligen. Sonst läuft man erneut Gefahr, dass sich der Friedens­prozess »hinter dem Rücken« der Bevölke­rung des Landes vollzieht und ihm die not­wendige Legitimität fehlt. Vorwürfe, ein zukünftiges Friedensabkommen könnte den Charakter eines reinen »Elitenpakts« haben, sind immer wieder geäußert worden.

Bei der Einbeziehung der Zivilgesellschaft könnte man sich orientieren am Wirken der Asamblea de la Sociedad Civil, die sich nach dem Putsch von Präsident Serrano Elías in Guatemala 1993 bildete, und an zwei weiteren Gremien, die damals den Bürgerprotest kanalisierten: den Grupo Multisectorial Social und die Instancia Nacional de Consenso. Diese Formate gaben den Kirchen, den Unternehmer- und Ge­werkschaftsverbänden, indigenen Organisationen und Opfervereinigungen unter minoritärer Einbeziehung der politischen Parteien eine Stimme und erarbeiteten ge­meinsame Stellungnahmen. Auf diesem Weg gelang es, einen gesellschaftlichen Konsens herzustellen. Gerade im kolum­bianischen Fall ist es unabdingbar, die lokale Ebene und die dort wirkenden Auto­ritäten einzubeziehen. Verhandlungen im Ausland, die nicht an nationale Verständigungsprozesse zurückgebunden werden, könnten sich in Anbetracht des besonderen Profils der ELN als ernster Stolperstein er­weisen, da eine nationale Legitimation, die allein durch die Regierung repräsentiert wird, von vielen Seiten als unzureichend angesehen werden dürfte.

Eine wichtige Rahmenbedingung für den Erfolg von Verhandlungen ist die Umsetzung des ambitionierten Reformprogramms von Präsident Petro. Denn dieses kommt den Interessen der ELN an einer Transformation der kolumbianischen Gesellschaft in Richtung auf mehr soziale Gerechtigkeit entgegen. Hier könnte der Beitrag Deutschlands für den Friedensprozess ansetzen. Die Bundesregierung könnte technische und finanzielle Unterstützung für die Umsetzung all jener Reformprojekte der neuen Regie­rung anbieten, die die Friedensverhand­lungen flankieren, und so dazu beitragen, dass hier schnell Ergebnisse erzielt werden. Dies gilt in besonderem Maße für die Her­stellung staatlicher Präsenz im gesamten nationalen Territorium, damit Zonen, die unter der Kontrolle der Guerilla oder ande­rer irregulärer Kräfte stehen, reduziert wer­den. Angesichts der dezentralen Struktur der ELN ist davon auszugehen, dass innere Uneinigkeit und Abspaltungen bei der Gruppe sehr schnell sichtbar werden und der Verhandlungsfortschritt durch eigen­mächtige Gewaltaktionen einzelner Kom­mandos behindert wird. Insofern wird der Friedensschluss mit den FARC nur begrenzt als Blaupause für diesen neuen Anlauf mit der ELN dienen können. Aber die Elemente, die schon Gegenstand der abgebrochenen Gespräche waren, können im Zuge der Ver­handlungen die Wege ver­kürzen und als Leitplanken dienen.

Gleich­wohl hat sich in den vergangenen 4 Jahren seit Aussetzung des Dialogs nicht nur in Kolumbien mit der Wahl von Gus­tavo Petro ein Wandel ergeben, der neue Kontexte setzt: einerseits im positiven Sinne, durch das umfassende Reform­programm des neuen Präsidenten, anderer­seits aber auch in ungünstiger Weise, weil sich aus der Überlastung des Regierungshandelns durch die Gleichzeitigkeit von multiplen Reformansätzen mit begrenzter fiskalischer Ausstattung und prekärer par­lamentarischer Unterstützung Risiken ergeben. Hinzu kommt, dass sich die Prä­senz der ELN im Nachbarland Venezuela deutlich konsolidiert hat und nur sehr begrenzt von den kolumbianischen und den venezolanischen Sicherheitskräften unter Kontrolle gehalten werden kann. Die internationale Begleitung des neuerlichen Ansatzes zu einem »totalen« Frieden ist da­her eine wichtige und sicherlich hilfreiche Initiative. Zentral wird aber erneut sein, wie und inwieweit sich die kolumbianische Gesellschaft auf einen Friedensprozess ein­lässt, der mit vielfältigen Ungewissheiten verbunden ist und sein wird.

Mögliche Entwicklungsszenarien: Scheitern – »Scheinfrieden« – Durchbruch

Trotz der Erfahrungen aus den vergangenen Versuchen, zu einer Friedensvereinbarung mit der ELN zu kommen, sind die explorativen Gespräche, die jetzt zwischen der Re­gierung und der ELN-Verhandlungs­kommis­sion stattfinden, entscheidend dafür, ob sich ein erfolgversprechender Ansatzpunkt für eine formelle Konfliktbeilegung finden lässt. Der »föderale« Aufbau der ELN und ihr dezentral angelegtes Handeln werden schon jetzt auf eine erste Probe gestellt, in­wiefern die Gruppe konsistent aufzutreten und ihre eigenen Gliederungen zu zügeln vermag. Daraus werden sich schon erste Einblicke gewinnen lassen, wie die ELN mit ihrem internen Führungsproblem umgeht, ob die in legalen, halblegalen und illegalen territorialen Ökonomien (Gold, Koka, Holz) bestehende Verankerung gelöst werden kann und inwieweit die Organisation den Einsatz krimineller Mittel zur Verfolgung politischer Ziele wirklich aufgeben wird. Sollten in dieser Hinsicht die Zweifel über­wiegen, könnte den Verhandlungen trotz der guten Rahmenbedingung einer reform­orientierten Regierung schnell die Grund­lage entzogen sein. Eine kritische Größe ist dabei die Rolle Venezuelas und seiner Regie­rung: Die ELN hat ihre Präsenz nicht nur in den Grenzgebieten, sondern auch im Inne­ren des Nachbarlands ausgeweitet. Sie ist dort zu einem Faktor der sozialen Kontrolle und territorialen Herrschaft geworden und gerät zunehmend auch mit anderen bewaff­neten Kräften und mit staatlichen Sicherheitsorganen in Konflikt. Deshalb wird ent­scheidend sein, ob die binationale Guerilla auch seitens des Maduro-Regimes Druck bekommt, sich auf venezolanischem Terri­torium zu demobilisieren, oder ihr dort ein Rückzugsgebiet erhalten bleibt.

Dies wird auch auf Seiten der kolumbianischen Regierung einer der zentralen Ver­handlungspunkte sein, wenn kein »Schein­frieden« abgeschlossen werden soll. Ein Ergebnis ohne Regelung dieser Frage würde keine Befriedung des innerkolumbianischen Konflikts ermöglichen und die Gesell­schaft weiterhin polarisieren. Das Projekt des »totalen Friedens« von Präsident Petro wäre damit gescheitert, zumal die internen Herausforderungen, die mit dem ehrgeizigen Reformprogramm, einer schwierigen Sicherheitssituation und einer prekären fiskalischen Ausgangslage verknüpft sind, massive Kosten bei der Umgestaltung der Gesellschaft mit sich bringen werden. Die bestehenden Blockadepotentiale wie auch eine politische Überlastung könnten eine schnelle Erschöpfung des Reformprojekts zur Folge haben und damit auch die Nei­gung beeinträchtigen, zu einem wirklich umfassenden und tiefgreifenden Friedensschluss zu gelangen. Die ohnehin heterogene Basis an Unterstützung für Petro würde noch weiter unter Druck geraten; zentrifugale Tendenzen und Proteste wür­den ihre Kohäsion massiv beschädigen.

Trotz dieser schwierigen Rahmenbedingungen ist indes auch ein erfolgreicher Friedensschluss denkbar, insbesondere wenn sich alle Beteiligten der einmaligen Situation bewusst sind, die sich aus dem konjunkturellen Zusammentreffen einer reformorientierten Regierung mit einem Gewaltakteur ergibt, der seine (hoffentlich aufrichtige) Friedenswilligkeit bekundet. Diesen historischen Moment zu nutzen sollte nationale wie internationale Akteure anspornen, diesen erneuten Anlauf zum Frieden auch zu einem Ergebnis zu führen, das die Transformation der kolumbianischen Gesellschaft voranbringt, ein fried­liches Zusammenleben ermöglicht und die bestehende politische Polarisierung über­winden hilft. Dabei gilt es gerade auch den Opfern des langwierigen Konflikts und ihren Angehörigen gerecht zu werden, wie der gerade vorgelegte Bericht der Wahrheitskommission ausführlich belegt. Die Anforderungen dafür sind hoch, aber die Chance auf einen solchen Durchbruch sollte ergriffen und so weit wie möglich erkundet werden, um dem »totalen Frieden« näher zu kommen.

Weitere SWP-Literatur zum Thema:

Günther Maihold / Philipp Wesche

Kolumbien auf dem Weg zum Minimal­frieden. Der Friedensprozess gerät ins Stocken

SWP-Aktuell 43/2019, August 2019, 8 Seiten

Günther Maihold

Kolumbiens Frieden und Venezuelas Krise. Wie sich in Südamerika eine regionale Krisenlandschaft aufbaut

SWP-Aktuell 13/2018, Februar 2018, 8 Seiten

Prof. Dr. Günther Maihold ist Stellvertretender Direktor der SWP.

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2022

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