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Israel: Sechs Monate Bennett-Regierung

SWP-Aktuell 2021/A 85, 23.12.2021, 8 Pages

doi:10.18449/2021A85v02

Research Areas

Seit Frühjahr 2019 war Israel politisch gelähmt, weil keine stabile Regie­rung zustande kam. Vier Wahlen waren nötig, bis am 13. Juni 2021 eine neue Regierung die Geschäfte übernahm. Nicht nur wurde Benjamin Netanjahu nach zwölf Jahren als Premier ab­gelöst. Es wurde eine Koalition gebildet, die fast das ganze politische Spektrum ab­deckt. Mittlerweile hat sie sich stabilisiert, und die Ausrichtung wird klarer. National und international hat die Koalition mit der populistischen Rhetorik der Netanjahu-Regierung gebrochen. Zugleich sucht sie nach anderen Politiken: Innenpolitisch inte­griert sie erstmals eine unabhängige arabische Partei und hat die Angriffe auf Prinzi­pien liberaler Demokratie gestoppt. Außenpolitisch wirbt sie für Annäherung an die EU und an die Biden-Regierung, aber auch um mehr Integration in die Region. Zudem bemüht sie sich, den Konflikt mit den Palästinensern durch soziale und wirtschaft­liche Maßnahmen einzudämmen. Doch eine politische Annäherung ist nicht in Sicht. Es droht ein »point of no return«, der eine Zweistaatenlösung unmöglich macht.

Die derzeitige israelische Regierungskoali­tion ist ein historisches Novum. Sie besteht aus acht Parteien, die das politische Spek­trum von links bis rechts abdecken, umfasst religiöse und säkulare Abgeordnete, schließt erstmals eine unabhängige arabi­sche Partei ein und hat nur einen Sitz Mehr­heit im Parlament. Zusammengefunden hat sich die Koalition nach einer Lähmung des poli­tischen Systems, die vor allem infolge der Korrup­tionsanklage gegen Ministerpräsident Benjamin Netanjahu entstanden war. Mit ihrer Selbstbezeichnung »Regierung des Wandels« grenzt sich die neue Koalition von Netanjahus Politik der Spaltung ab. Diese hatte er seit seiner Anklage in der Hoffnung forciert, eine Mehrheit der Knes­set für seine parlamentarische Immunität zu gewinnen. Das befürworteten aber nur Parteien aus dem rechten und dem ultra­orthodoxen Lager, sodass Netanjahus Plan nach vier Anläufen in zwei Jahren scheiter­te. Mehr noch, die Unterstützung für ihn begann in Teilen des rechten politischen Spektrums zu bröckeln. Zuerst wandte sich Avigdor Liebermans Partei Israel Beitenu von ihm ab, später folgte mit Tikwa Cha­da­scha (Neue Hoffnung) eine Abspaltung vom Likud unter der Führung von Gideon Saar. Danach schloss sich auch die Partei Jamina unter Naftali Bennett der neuen Regierungs­koalition an.

Diese drei rechten Parteien haben sich mit zwei Parteien aus dem politischen Zen­trum (Jesch Atid, Kachol Lavan), zwei linken Parteien (Meretz, Arbeiterpartei) und einer arabisch-islamistischen Partei (Ra’am) zu­sammengeschlossen. Außer Jair Lapids Jesch Atid mit ihren 17 Sitzen verfügt keine über mehr als acht Man­date. Jesch Atid ist zwar stärkste Partei, aber nicht stark genug, um die Koalition zu domi­nieren. Als Zuge­ständ­nis an den rechten Block hat Lapid da­her Bennett den ersten zweijährigen Turnus als Premierminister überlassen, obwohl dessen Partei Jamina lediglich sieben Sitze hat. Lapid fungiert derweil als Außenmini­ster und führt den Titel »alternierender Premierminister«. Nach einem halben Jahr Amtszeit wird nun klarer, welche Stoßrichtungen diese Regie­rung verfolgt.

Innenpolitisch be­müht sich die Koalition, die Erosion demo­kratischer Institutionen aufzuhalten. Daneben strebt sie Reformen im Verhältnis zwischen Religion und Staat an, will aber auch die Belange arabischer Israelis mehr berücksichtigen. Im Konflikt mit den Palästinensern zeigt sie Bereitschaft, vor allem in wirtschaftlichen Fragen stärker zu kooperieren. Überwachung und Sied­lungsbau setzt die Regierung jedoch fort und ent­fernt sich wie ihre Vorgängerin immer weiter von einer diplo­matischen Lösung. Außenpolitisch sind neue diplomatische Offen­siven und eine weitere Integration in die Region feststellen. Doch bleiben Spannungs­felder mit den USA und der EU bestehen.

Innenpolitik

Die Bennett-Lapid-Regierung hat die Angriffe auf Prinzipien der liberalen Demokratie ge­stoppt. Unter Netanjahu hatten zahlreiche Likud-Politiker diese Grundsätze offen in Frage gestellt. So bekundete da­mals Kom­mu­ni­ka­tionsminister David Amsa­lem, man solle Staatsanwälte in einen Käfig sperren. Likud-Fraktionsvorsitzender Miki Zohar er­klärte, Israel bleibe eine Demokratie, auch wenn die Palästinenser nach einer Annexi­on des Westjordanlandes keine politischen Rechte hätten. Kulturministerin Miri Regev verlangte, die Regierung solle die öffent­lichen Medien kontrollieren. Netanjahu selbst behauptete, die Justiz strebe einen Staatsstreich an, und sprach von einem linksliberalen »deep state«, der gegen die Regierung die Geschicke des Landes steuere. Hinzu kamen diverse Vorstöße, Israel in eine majoritäre, weniger auf liberalen Prä­missen beruhende Demokratie zu verwandeln. Zu nennen sind hier das neue Natio­nal­staatsgesetz und mehr noch der wieder­holte Versuch, ein »Überstimmungsgesetz« zu verabschieden. Es hätte dem Parlament gestattet, Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs aufzuheben.

Diese Tendenzen wurden unter der neu­en Regierung weitestgehend unterbunden. Zwar wirken in den rechten Parteien nach wie vor Kräfte, welche die Kompetenzen des Obersten Gerichtshof beschnitten sehen möch­ten. Dazu gehört vor allem Innen­mini­sterin Ayelet Schaked und mit Abstri­chen auch Justizminister Gideon Saar – zwei Politiker in Schlüsselpositionen. Aber eine Reform des Obersten Gerichtshofs, wie sie im »Überstimmungsgesetz« vorgesehen wäre, findet in der Koalition keine Zustim­mung. Offen ist, ob die rechten Parteien ihr erklärtes Ziel erreichen, mehr konser­vative Richter zu benennen. Sie verfügen über eine Sperrminorität im Komitee zur Ernen­nung der Richter des Obersten Gerichtshofs.

Ein maßgeblicher Schritt, das israelische politische System zu stabilisieren, bestände darin, das »Grundgesetz Gesetzgebung« zu verabschieden. Das Gesetz würde qualifizierte Mehrheiten für die Verabschiedung neuer verfassungsähnlicher Grundgesetze und Grundgesetzänderungen festlegen und sie damit von regulären Gesetzen abheben. Auch würde es die Befugnisse eines Verfas­sungsgerichts verankern. All das wür­de die israelische Demokratie konsolidieren. Zwar hat die Regierung eine Kommission dazu berufen, aber da die Koali­tion so heterogen ist, scheint das Vorhaben eher unrealistisch.

Religion und Staat

Die neue Koalition ist eine der wenigen seit 1990, an denen keine ultraorthodoxen Par­teien beteiligt sind. Das bietet die Möglichkeit, Reformen im Verhältnis von Religion und Politik voranzubringen– ein Politikfeld, das im Zentrum des israelischen Kultur­kampfes steht und in dem die Ultraorthodoxen einer der wichtigsten Akteure sind.

Zwar ist die Koalition auch in dieser Hin­sicht heterogen. Die Positionen des radikal-säkularen Finanzministers Avigdor Lieber­man und des orthodoxen Ministers für reli­giöse Dienste Matan Kahana etwa liegen weit auseinander. Dennoch eint sie der Wunsch, Reformen herbeizuführen, die die ultraorthodoxen Parteien verhindert haben.

Schon in den ersten Wochen der Regierung strich Finanzminister Lieberman die staatliche Unterstützung für Kinderbetreuung von Familien, in denen wie bei vielen Ultraorthodoxen nicht beide Eltern berufs­tätig sind. Verkehrsministerin Michaeli will öffentlichen Nahverkehr am Schabbat er­möglichen. Besonders stechen aber Kahanas Re­formpläne hervor. Er hat Gesetze auf den Weg gebracht, wel­che die Kontrolle der Ultraorthodoxen über Konver­sion und Speisegesetze (Kaschrut) beenden würden. Außerdem will er säkulare Fächer im Schul­system verankern und den Wehrdienst für Ultraorthodoxe einführen.

Arabischer Sektor

Die Beteiligung von Ra’am an der Regierungskoalition stellt eine Kulturrevolution dar: Zum ersten Mal in der israelischen Geschichte ist eine unabhängige arabische Partei Teil einer Koalition. Den Weg dazu hat einerseits ausgerechnet Netanjahu geebnet, der Ra’am schon vor der Bennett-Lapid-Koalition umwarb und damit gewissermaßen eine Kooperation legitimierte. Andererseits ist der Erfolg von Ra’am auch dem Pragmatismus ihres Vor­sitzenden Mansour Abbas zu verdanken, der das politisch strittige Thema des palästi­nensisch-israelischen Konflikts auszuklam­mern versucht. Er vertritt die Auffassung, dass eine politische Beteiligung eher dazu taugt, die Lebensumstände der israelischen Araber zu verbessern, als eine Isolation infolge unvereinbarer Positionen. Daher ist Ra’am mit dem Slogan angetreten, »reali­stisch, konservativ und einflussreich« sein zu wollen. Der Vorrang von Belangen isra­e­lischer Araber vor gesamtpalästinensischen Interessen zeigte sich etwa im Sommer 2021, als Abbas sich dagegen wandte, mehr Arbeitsvisa für Palästinenser aus dem West­jordanland aus­zustellen. Dies schmälere nämlich die Chan­cen der israelischen Ara­ber auf Arbeit.

Für seine Agenda wurden Abbas in den Koalitionsverhandlungen weitreichende Zugeständnisse gemacht. Dazu gehört im neuen Staatshaushalt die enorme finanzielle Zuwendung für den arabischen Sektor, also die arabischen Staatsbürger Israels. Der neue Fünfjahresplan zu dessen sozioöko­no­mischer Entwicklung umfasst die Rekordsumme von umgerechnet rund 8,5 Milliar­den Euro. Etwa 710 Millionen Euro davon sind für die Bekämpfung der Kriminalität und Ge­walt in arabischen Ortschaften vorgesehen. Hinzu kommen Vereinbarungen über den Bau einer neuen Stadt für Beduinen der Negev-Wüste, die Anerkennung illegaler Dörfer im Süden oder die Elektrifizierung der vormals nicht genehmigten Bauten in arabischen Städten. Zu Abbas’ Erfolgen zählt auch die Suspendierung eines Gesetzes bis Ende 2024, das erlaubt, illegale Häuser zu zerstören.

Fraglich ist, ob es ihm gelingen wird, die exorbitanten Summen sinnvoll zu kanali­sieren. Auch wird er daran gemessen wer­den, ob er imstande ist, die Kriminalität in der arabischen Bevölkerung einzudämmen.

Zugleich wahrt Ra’am weiterhin gewisse Distanz zur Regierung: Die Partei hält kein Ministeramt und teilt damit die Regierungs­verantwortung nicht. So hofft sie politisch eher überleben zu können, sollte der isra­e­lisch-palästinensische Konflikt abermals ge­waltsam eskalieren. Ihm kann sie sich trotz allen Pragmatismus nicht ent­ziehen. Nach den gewalttätigen Auseinandersetzun­gen im Mai 2021 räumte Abbas ein: »Selbst wenn du bewusst entschieden hast, natio­nale Themen zu ignorieren, wird dir das nicht gelingen. Die Realität ist stärker. Der Konflikt existiert trotzdem.«

Die Zukunft des jüdisch-arabischen Ver­hältnisses in Israel scheint stark von diesem Experiment abzuhängen. Kann Abbas die Situation der israelischen Araber spürbar verbessern, spricht viel dafür, dass sich sein Modell als zukunftsträchtig in der israelischen Politik erweisen wird. Scheitert es, droht auch der Pragmatismus zu scheitern.

Israelisch-palästinensischer Konflikt

Die Beziehung zwischen Israel und den Palästinensern hat sich unter der neuen Regierung leicht verbessert, bleibt aber an­gespannt. Zu gering ist das Vertrauen, als dass Friedensverhandlungen möglich oder sinnvoll erscheinen. »Im Moment sind die Bedingungen nicht gegeben, um Fortschritte auf der politischen Ebene zu machen«, konstatierte Jair Lapid. Das hat auch mit der Situation der Palästinenser zu tun: Sie sind weiterhin gespalten zwischen Hamas und Palästinensischer Autonomiebehörde (PA). Die PA wäre zwar grundsätzlich an Friedens­verhandlungen interessiert, ist aber innen­politisch zu geschwächt, um dies aktiv zu verfolgen. Auch die neue israelische Regie­rung zeigt sich nicht fähig oder willens, Friedens­verhandlungen voranzutreiben. Zwar gibt es linke Parteien, die solche Ver­handlungen befürworten. Min­de­stens zwei Parteien aber, Tikwa Cha­dascha und Jami­na, lehnen sie kategorisch ab.

Dennoch hat sich der Ansatz der neuen Koalition gegenüber der Politik der letzten Jahre unter Netanjahu verändert. Es gibt Bemühungen, die angespannte Konfliktsitu­ation zu entschärfen. Niederschlag finden sie in den programmatischen Formulierungen wie »Schrumpfung des Konflikts«, wie sie Bennett vertritt, oder »Wirtschaft für Sicherheit«, wie Lapid sich ausdrückt. Beide Ansätze folgen der Annahme, dass man die Lebensbedingungen der Palästinenser ver­bessern sollte, um das Konfliktpotential zu verringern. Zugleich sind sie stark an Israels Sicherheit orientiert.

Teil dieser Maßnahmen sind 15.000 neue Arbeitsvisa für Palästinenser aus dem West­jordanland und 10.000 für jene aus dem Gazastreifen, rund 1.000 genehmigte Wohn­einheiten für Palästinenser in den unter alleiniger israelischer Kontrolle stehenden C-Gebieten des Westjordanlandes und die Verleihung eines Rechtsstatus an rund 4.000 Palä­stinenser ohne Papiere. Ferner wurden ein Kredit an die PA und der Aus­bau des Mobil­funknetzes zu 4G zugesagt. Im Unter­schied zu Netanjahu versucht die neue Regierung die PA zu Lasten der Hamas zu stärken. Eine weitere deutliche Veränderung ist, dass Teile der Regierung das Ge­spräch mit der PA suchen: Verteidigungsminister Gantz und mehrere Minister der Partei Meretz trafen sich jeweils mit PA-Präsident Mahmoud Abbas. Auch Vertreter der Arbeiterpartei kamen mit palästinensischen Delegierten zusammen. Diese Schritte trugen laut Umfragen wohl auch dazu bei, dass der Zuspruch zur Fatah auf 38 Prozent stieg und damit wieder knapp über dem der Hamas (33 Prozent) lag.

Andererseits fördert die israelische Regie­rung auch weiterhin den Siedlungsbau. Darin offenbart sich die Heterogenität der Koalition: Wohnungsbauminister Zeev Elkin (Tikwa Chadascha) veröffentlichte im Oktober eine Ausschreibung für 1355 neue Wohnungseinheiten – manche weit im Westjordanland. Weiterhin plane er, umge­rechnet knapp 62 Millionen Euro in 21 neue Sied­lungen im Jordantal zu investieren, um die israelische Bevölkerung bis 2026 dort zu verdoppeln. Auch die Siedlungsbauplanung in und um Ostjerusalem nimmt Fahrt auf: Das Pla­nungskomitee, das dem Innenmini­sterium unter Ayelet Schaked (Jamina) unter­steht, hatte für den Stadtteil Pisgat Zeev neue Siedlungen sowie für das ehemalige Flugfeld Atarot und das Gebiet E1, das Ost­jerusalem mit dem palästinensischen Kern­land verbindet, die Erschließung neuer Gebiete angekündigt. Letzteres wur­de aller­dings, wie schon unter Netanjahu, auf internationalen, aber auch koalitionsinternen Druck vertagt. Einer weiteren Annäherung entgegen stand auch die Entscheidung des Verteidigungsmini­sters Gantz, sechs der wichtigsten palästinensischen Nicht­regierungsorganisationen zu Terrorunterstützern zu erklären, darunter die prominente Menschenrechtsorganisation al-Haq. Dieser Schritt stieß auf viel internationale Kritik, auch aus den USA und der EU.

Gleichzeitig verstärkte Israel die Über­wachung der Palästinenser. Neben der Prä­senz von Militär und Geheimdiensten wer­den digitale Überwachungsmaßnahmen aus­geweitet. So sollen Mitglieder palästinensischer Nichtregierungsorganisationen mit der Spionagesoftware Pegasus ausgespäht worden sein. Ferner gibt es ein Über­wachungsprogramm, mit dem die Gesichts­erkennung in den palästinensischen Gebie­ten vorangetrieben wird. Die Washington Post sowie verschiedene Nichtregierungs­organisationen zeichnen in ihren Berichten das geradezu dystopische Bild eines Über­wachungsregimes, das versucht, eine mög­lichst umfassende Datenbank zur automatischen Videoerkennung aller Palästinenser einzurichten, um bei jeder Sichtung sofort die Hintergründe der jeweiligen Person abrufen zu können.

Schließlich fordert auch eine neue Welle der Gewalt die israelische Regierung heraus. Dazu gehört der neu entfachte Aktivismus der Hamas im Westjordanland, wie jüngste Terrorattacken und die Enttarnung einer 50-köpfigen Hamas-Zelle durch den israeli­schen Geheimdienst zeigen. Gleichzeitig wird das Klima der Gewalt von der autoritär agierenden PA angeheizt, die gegen ihre Kritiker vorgeht. Nicht zuletzt trägt die er­heblich gestiegene Siedlergewalt zur weite­ren Desintegration des Westjordanlandes bei: Wiederholt überfielen Siedler palästinensische Dörfer, verletzten Menschen, zerstörten Autos und andere Gegenstände. Außenminister Lapid sprach in diesem Kontext von »Terror«, während Innenmini­sterin Schaked die Siedler als »Salz der Erde« verteidigte. Aufgrund dieser politischen Diskrepanz in ihren Reihen scheint die Regierung derzeit nicht fähig, gegen die Siedlergewalt wirkungsvoll vorzugehen.

Ohne eine Verhandlungslösung bleibt das Gewalt­potential permanent präsent. Als Resultat weitet sich die israelische Kon­trolle und Über­wachung der Palästinenser ständig aus. Zudem ist kein Ende der fort­gesetzten Landnahme durch die Siedlungen in Sicht. Wirtschaftliche Verbesserungen ohne jede politische Perspektive können diese Negativ­spirale nicht effektiv aufhalten.

Außenpolitik

In der Außenpolitik hat sich im Vergleich zur Vorgängerregierung der Ton, aber auch die normative Verortung geändert. Dies wird von der gesamten Regierung getragen, aber in erster Linie von Lapid artikuliert. In einem programmatischen Essay nannte er als Eckpfeiler israelischer Außenpolitik internationale Zusammenarbeit, dialog­bereite Politik und das Bekenntnis zu Men­schenrechten. Damit spricht er vor allem die EU, aber auch die US-Regierung unter Biden an. Deren Beziehungen zu Israel sind wegen des Konflikts mit den Palästinensern und Iran sowie Netanjahus enger Verbindung mit den Republikanern angespannt. Darüber hinaus treibt die neue Regierung die israelische Integration in die Region weiter voran, die mit den Normalisierungsabkommen begonnen hat.

Wiederannäherung an die EU

Die fortschreitende Entfernung Israels von der EU, in den Netanjahu-Jahren deutlich spürbar, scheint durch die Bennett-Lapid-Regierung zu­nächst aufgehalten worden zu sein. Bei­spielsweise wurde das Ministerium für Stra­tegische Angelegenheiten geschlossen. Dort war der Vorwurf, die EU sei anti­semitisch und antizionistisch, zum außen­politischen Instrument erhoben worden. Derzeit betreibt die Regierung auch keine Poli­tik, welche die Spaltung innerhalb der EU-Mitglied­staaten in Bezug auf Israel und den Konflikt ausnutzt, wie es unter Netan­jahu üblich war. Hatte dieser die Israel-Politik der EU noch als »verrückt« gegeißelt und deren Hal­tung gegenüber den Sied­lungen in die Nähe des Antisemitismus gerückt, betonen Lapid und Bennett statt­dessen gemeinsame Werte. Dies wird in Europa wohlwollend aufgenommen

Bereits im Juli war Lapid zu Gast im EU-Außenministerrat. Auch wurde am 6. De­zember das EU-Förderprogramm Horizon 2021–2027 unterschrieben.

Gleichwohl bleiben neuralgische Punkte bestehen. Jüngstes Beispiel sind die sechs maßgeblich von EU-Ländern finanzierten palästinensischen Nichtregierungsorganisationen, die Israel auf die Terrorliste gesetzt hat. Josep Borrell, Hoher Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, beklagte, Israel habe nicht genug Beweise vorgelegt, um die Einstufung als Terror­unterstützer hinreichend zu begründen. Einer repräsentativen Um­frage des Think-Tanks Mitvim von 2021 ist allerdings auch zu entnehmen, dass der Politikwechsel noch nicht bei der israelischen Bevölkerung angekommen ist. Dem­nach sprachen sich 47 Prozent der Be­frag­ten gegen das Förderungsprogramm Hori­zon 2021–2027 aus, da es Siedlungen im Westjordanland ausschließt. 46 Prozent sehen in der EU weiterhin eher einen Feind, nur 24 Prozent einen Freund.

Ambivalentes Verhältnis zu den USA

Der Ton gegenüber den USA ist davon ge­prägt, dass beide Regierungschefs derzeit froh sind, es nicht mit dem jeweiligen Vor­gänger zu tun zu haben. Im ersten gemein­samen Treffen Bidens und Bennetts beton­ten beide den Geist der Kooperation. Auf israelischer Seite ist das Bemühen zu erken­nen, die Beziehung zur Demokratischen Partei zu verbessern, statt sich ausschließlich auf die Republikaner zu konzen­trieren, wie es unter Netanjahu prakti­ziert wurde. Trotzdem bleibt der Um­gang mit den Demo­kraten schwierig. Inner­halb der Demokratischen Partei wer­den Forde­rungen lauter, Militärhilfen für Israel an Bedingungen zu knüpfen. Zum Beispiel sorgten israelkritische Kongress­abgeordnete im September 2021 dafür, dass für die finanzielle Unter­stützung des Rake­ten­abwehrsystems Iron Dome eine gesonderte Debatte und Abstim­mung nötig wurde.

Außerdem bestehen in diversen Politik­feldern Differenzen zwischen den USA und Israel. Dazu gehört Washingtons Kritik an Israels enger wirtschaftlicher Anbindung an China, dessen Investitionen in kritische Infrastruktur in Israel, aber auch am israe­lischen Technologieexport. Strittig ist unter der Biden-Regierung zudem der Konflikt mit den Palästinensern: Laut der US-Botschafte­rin bei den Vereinten Nationen, Linda Thomas-Greenfield, habe der Sied­lungsbau eine kritische Phase erreicht, sodass eine Zweistaatenlösung bald unmög­lich werde. Es gibt fortgesetzten Streit darüber, ob das US-Konsulat in Ostjerusalem wiedereröffnet werden kann. Überdies sind die USA – wie die EU – immer noch nicht davon über­zeugt, dass die erwähnten sechs palästinensischen Nichtregierungsorganisationen zu Recht als Terrorunterstützer einzustufen sind. Auf der anderen Seite haben die USA die israelische Firma NSO Group, welche die Spionagesoftware Pega­sus vertreibt, auf eine Sanktionsliste gesetzt, weil sie die rechtebasierte internationale Ordnung be­drohe. Insgesamt spielt der isra­elisch-palä­stinensische Konflikt aber für die Biden-Regierung eine untergeordnete Rolle.

Eine weitere Divergenz betrifft den Um­gang mit Iran und die Frage, ob das Atom­abkommen mit Teheran (Joint Comprehensive Plan of Action, JCPOA) erneuert werden sollte. Die USA streben ein Abkom­men an, das – wenn es überhaupt zustan­de kommt – deutlich geringeren Umfang hätte als das letzte. Israel hingegen versucht Druck auf die Verhandler auszuüben, um die Verhandlungen abzubrechen oder ein wesentlich umfassenderes Abkommen zu erreichen. Israel warnt, dass ein »schlechtes« Abkommen Iran einer nuklea­ren Bewaffnung näherbringe, und fordert die USA auf, eine militärische Op­tion nicht auszuschließen.

Gleichzeitig bereitet man sich in Israel auf ein Scheitern der Verhandlungen vor. Diskutiert wird auch ein Militärschlag im Alleingang. Fraglich ist allerdings, ob Israel überhaupt in der Lage wäre, das iranische Nuklearprogramm entscheidend zu schwä­chen. Derzeit scheint dem Militär die erfor­derliche Waffentechnologie ebenso zu feh­len wie die nötige Vorbereitung. Zudem ist den Verantwortlichen in Israel klar, dass ein Militärschlag gegen Iran Krieg bedeuten kann. Nicht nur Iran selbst, sondern auch die Hisbollah und möglicherweise die Ha­mas würden Israel in diesem Fall angreifen.

Dennoch sieht man gegenüber der Regie­rung Netanjahu einen klaren Unterschied: Trotz Kritik am JCPOA scheint sich die aktu­elle Koalition einer Wiederaufnahme der Verhandlungen nicht völlig zu verschlie­ßen (selbst wenn diese Chance nach den letzten Verhandlungsrunden in die Ferne gerückt ist). Dafür spricht auch das Scheitern der Netanjahu-Trump-Strategie des maximalen Drucks, denn sie hat Israel in eine strategisch klar schlechtere Position gebracht.

Integration in die Region

Israels Position in der Region hat sich deut­lich verändert, seit das Land in den letzten Jahren Normalisierungsabkommen mit den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE), Bahrain, Marokko und Sudan geschlossen hat. Seit den Friedensschlüssen mit Jorda­nien (1994) und Ägypten (1979) handelt es sich um die ersten Normalisierungen mit arabischen Staaten. Gründe und Hintergründe dieser Abkommen waren nicht über­all dieselben.

Gemeinsam war ihnen aber, dass schon zuvor inoffizielle Kontakte unterhalten wurden, dass sich die Staaten da­von ein bes­seres Verhältnis zu den USA versprachen und dass die Palästinenserfrage für die Be­teiligten eine immer gerin­gere Rolle spielte. Für Golfstaaten kam hinzu, dass diese sich ebenso wie Israel von Iran be­droht fühlen.

Die neue Regierung nutzt diese Entwicklung, um Israels Position im Nahen Osten weiter zu festigen. Im letzten halben Jahr reisten vor allem die Minister Bennett, Lapid und Gantz häufig in Länder der Region. Sie eröffneten Botschaften, ließen sich gemein­sam mit ihren arabischen Gegenübern ab­lichten und unterzeichneten diverse Han­dels- und Militärabkommen. Dabei sind besonders die Beziehungen mit den VAE hervorzuheben. Jenseits des bereits zuvor existenten Diamantenhandels hat sich das Handelsvolumen vervielfacht: Der Wert israelischer Exportgüter in die VAE stieg von 2019 bis August 2021 von umgerechnet rund 9,8 auf gut 60 Millionen Euro, jener der Importe von buchstäblich null auf über 214 Millionen Euro. Im Zuge dieser Ent­wick­lung entstanden auch mehrere Wirt­schaftskooperationen, etwa in der Luftfahrtindustrie oder der Gasförderung. Infolge der Grün­dung eines neuen Wirtschaftsforums ge­meinsam mit VAE, USA und Indien ist Israel zum ersten Mal Teil eines globalen geopolitischen multilateralen Formats. Auch mit Marokko hat Israel Verbindungen auf unterschiedlichen Ebenen geschaffen. Außenminister Lapid flog im August 2021 in die marokkanische Hauptstadt Rabat, um dort die israelische Botschaft zu eröff­nen. Im Nachgang wurden Absichtserklärungen zur Zusammenarbeit bei Forschung und Entwicklung, Cybersecurity, Kultur und Sport unterzeichnet. Einen vorläufigen Höhepunkt der Beziehungen bildete der Besuch von Verteidigungsminister Gantz Ende November 2021 in Marokko. Dabei wurden die Formalisierung der Sicherheitskooperation, ein Austausch von Geheimdienstinformationen und gemein­same Militär­übungen beschlossen.

Über die neuen Normalisierungsabkommen hinaus bemüht sich die Regierung, anders als zu Netanjahus Zeiten, die von Misstrauen geprägten Beziehungen mit Jor­danien und Ägypten zu verbessern. Grund ist nicht zuletzt die stabilisierende Funk­tion, die diese Anrainerstaaten für den Kon­flikt mit den Palästinensern ausüben. Be­merkenswert war das Treffen von Premier Bennett am 13. September 2021 mit dem ägyptischen Präsidenten Abdel-Fattah al-Sisi in Scharm el-Scheich samt Fototermin mit einer prominent placierten israelischen Fahne. Es handelte sich um den ersten offi­ziellen Besuch eines israelischen Premierministers in Ägypten seit elf Jahren. Noch beachtlicher ist der politische Richtungswechsel in den Beziehungen mit Jordanien. Diese hatten unter Netanjahu stark gelitten, und zuletzt wurde sogar gemutmaßt, der damalige Premier wolle die jordanische Opposi­tion gegen König Abdul­lah stärken. Premier Bennett stattete dem jordanischen König bereits im Juli 2021 einen Geheim­besuch ab. Kurze Zeit später kamen Außen­minister Lapid und Verteidigungsminister Gantz offiziell auf Besuch, und selbst Man­sour Abbas, Parteichef von Ra’am, traf sich mit dem jordanischen König und bekräftigte bei dieser Gelegenheit, er unterstütze die Zwei­staatenlösung.

Diese neue diplomatische Offensive mani­festiert sich auch in Kooperationen. Am 22. November 2021 unterzeichneten Israel, Jordanien und die VAE eine Übereinkunft. Sie sieht vor, dass Israel Solarenergie von jordanischen Elektrizitätswerken abnimmt, die von den Emiraten errichtet werden. Im Gegenzug kauft Jordanien Wasser aus isra­elischen Entsalzungsanlagen. Dies ist Teil der sogenannten Climate Innovation, einer außenpolitischen Strategie, die regionale Beziehungen durch grüne technologische Zusammenarbeit stärken soll.

Der grundsätzlich positive Trend zur regionalen Integration weist indes mehrere kritische Aspekte auf. So steht im Zen­trum der neuen Zusammenarbeit oftmals der Verkauf israelischer Militär- und Über­wachungstechnologie (wie etwa Pegasus) an autoritäre Staaten, die gegen die eigene Bevölkerung genutzt werden kann. Hinzu kommt, dass in Beziehungen, die der da­ma­lige US-Präsident Trump vermittelte, mit­unter internationales Recht ignoriert wird. Das gilt besonders im Fall Marokko: Im Gegenzug für die Normalisierung haben die USA die marokkanische Souveränität über die besetzte Westsahara offiziell anerkannt. Zu­dem legitimieren sich durch die israe­lisch-marokkanischen Beziehungen zwei Besat­zungsmächte gegenseitig. Schließlich be­steht eine manchmal bewusst, manchmal unbewusst herbeigeführte Folge der regio­nalen Integration Israels darin, dass die Palästinenser immer mehr marginalisiert werden.

Schlussfolgerungen und Ausblick

Abzuwarten bleibt, wie stabil die jetzige Regie­rung sein wird. Ein Risiko bildet der im August 2023 anstehende Premierministerwechsel von Bennett zu Lapid. Je näher das Datum rückt, desto stärker wird der Druck auf die einzelnen Parteien werden, sich in ihren Kernthemen zu profi­lieren. Besonders heikle Punkte sind der israelisch-palästi­nen­sische Konflikt, Aspek­te der Identität des Staates oder der Status des Obersten Ge­richtshofs. Weil die Koali­tion sehr hetero­gen ist, liegen hier manche Positionen weit auseinander. Das kann Konflikte herauf­beschwören. Immer wenn ein politischer Flügel einen Punktsieg bei einem dieser sensiblen Themen (etwa mehr Sied­lungs­bau) erringt, bedeutet das für den anderen eine Niederlage. Gerade wenn un­klar ist, ob die Koalition den Machtwechsel überstehen wird, kann dies eine Krisen­dynamik erzeu­gen. Dass ein Machtzentrum fehlt und die einzelnen Ministerien weit­gehend autonom agieren können, kann eine solche Dynamik beschleunigen. Eine weitere Herausforderung für die Regierung könnte Netanjahus Rückzug aus der Politik sein. Letztlich steht der Likud den rechten Parteien weiterhin ideologisch näher. Das größte Hindernis ist die Person Netanjahu.

Die neue Bundesregierung sollte das Gesprächsangebot der Bennett-Lapid-Regie­rung nutzen, um auch über Konfliktthemen wieder konstruktive Gespräche zu führen. Zu einer wertegeleiteten Außenpolitik ge­hört beides: sowohl der besonderen histori­schen Beziehung zu Israel Rechnung zu tragen als auch Demokratie- und Menschen­rechtsfragen anzusprechen. Dringlich er­scheint in der Region derzeit ein Gespräch über die Zukunft der palästinensischen Gebiete. Das Gelegenheitsfenster für eine verhandelte Konfliktlösung schließt sich. Die Konfliktparteien steuern auf eine Situa­tion zu, in der sich entweder ein binatio­naler Staat – den beide Seiten ablehnen – oder eine ständige Kontrolle der Palästinenser durch Israel abzeichnen. Das gilt es zu vermeiden.

Dr. Lidia Averbukh war Wissenschaftlerin im Projekt »Israel in einem konfliktreichen regionalen und globalen Umfeld: Innere Entwicklungen, Sicherheitspolitik und Außenbeziehungen«. Dr. Peter Lintl ist Leiter dieses Projekts. Das Projekt ist in der SWP-Forschungsgruppe Naher/Mittlerer Osten und Afrika angesiedelt und wird vom Auswärtigen Amt gefördert.

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