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Innenpolitischer Balanceakt, gefährliche Nachbarschaft: Der Irak vor den Parlamentswahlen

SWP-Podcast 2025/P 27, 31.10.2025 Research Areas

Ausgerechnet der Irak scheint eine Art Stabilitätsanker in Nahost zu sein. Isabelle Werenfels erklärt, warum diese vermeintliche Stabilität extrem fragil ist, wie Dynamiken rund um die anstehenden Parlamentswahlen aussehen und wie regionale Entwicklungen den politischen Kurs Bagdads beeinflussen.

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Hinweis: Dieses Transkript wurde mithilfe von KI generiert. Es handelt sich somit nicht um einen redaktionell erstellten und lektorierten Text.

Moderatorin: Vielleicht ist es Ironie des Schicksals, wenn wir heute über den Irak sprechen und feststellen müssen, bei all den Krisen in dieser Region, in Syrien, dem Libanon, im Iran oder in Gaza hören wir wenig über dieses Land. Wenig von gewaltsamen Konflikten, wenig von ethnischen Spannungen und anderen Katastrophen, die den Irak seit dem Tod des langjährigen Machthabers Saddam Hussein und dem Zusammenbruch 2003 doch so dominiert haben. Und wir hören viel von einer verbesserten Sicherheitslage und beachtlichem Wirtschaftswachstum. Die Wochenzeitung The Economist sprach kürzlich sogar von Boomtown Bagdad. Jetzt sind für den 11. November Wahlen angesetzt und wir wollen diese Wahlen zum Anlass nehmen, genauer in den Irak zu blicken. Wie fragil ist das politische System? Wer sind die wichtigsten Player im Land? Und wer beeinflusst den Irak heute noch von außen? Das sind unsere Themen hier in unserem SWP-Podcast. Schön, dass Sie uns zuhören. Ich bin Nana Brink und ich sitze hier zusammen in unserem Podcast-Studio mit Isabelle Werenfels, Senior Fellow der Forschungsgruppe Afrika und Mittlerer Osten. Sie hat den Irak in den letzten Jahren mehrfach bereist und war jetzt gerade vor den Wahlen wieder da. Schön, dass Sie da sind. Ja, guten Tag, Frau Brink. Viele von uns stellen sich den Irak ja als Failed State vor, innenpolitisch zerrissen, ein Hort der Instabilität auch in der Region. Was haben Sie denn beobachtet bei Ihren letzten Besuchen?

Isabelle Werenfels: Ja, so rein äußerlich sieht es ganz anders aus. Also noch vor drei Jahren waren an jeder Ecke Milizen, Checkpoints von Milizen mit der jeweiligen Flagge. Es gab Betonwände entlang sehr vieler Straßen, sogenannte T-Walls, um Anschläge zu verhindern. Man sah auch einige Panzer in den Straßen der irakischen Armee. Jetzt wenige Checkpoints nur vom irakischen Militär bespielt, zumindest im Zentrum von Bagdad. Die Betonwände sind mehrheitlich weg und gefühlt ist ganz Bagdad eine Baustelle. Es werden Brücken, Schnellstraßen, Hotels, Wohnungen gebaut und es ist auch die Altstadt sehr schön renoviert worden. Bezeichnenderweise wirbt der aktuelle Premierminister Mohammed Shial Sudani mit einem Baukran jetzt in den Wahlen. Die Stimmung ist viel entspannter und die Iraker, mit denen man spricht, sagen einfach, sie fühlen sich wieder sicher. Das heißt, auch Restaurants entlang des Tigris bersten voll und man sieht einige Touristen, obwohl, und das muss man auch sagen, viele der westlichen Staaten noch Reisewarnungen aufrechterhalten. Und das ist natürlich der fragilen Stabilität unter dieser neuen Oberfläche geschuldet.

Moderatorin: Das ist interessant, dass Sie das so erzählen, denn am 11. November finden ja Parlamentswahlen im Irak statt. Und bevor wir über diese Wahlen sprechen, die ja im Stadtbild sichtbar sind, wie Sie uns jetzt sehr anschaulich beschrieben haben, würde ich gern das politische System noch ein bisschen besser verstehen. Wie ist es denn organisiert?

Isabelle Werenfels: Also es gibt das formelle System und es gibt informelle Konventionen. Formell ist es ein parlamentarisches System. Eine demokratische Verfassung wurde 2005, nach dem Fall Saddam Husseins, in einer Kleingruppe und unter Aufsicht der Amerikaner und unter Zeitdruck erarbeitet. Das heißt, vieles ist vage geblieben, was sich jetzt natürlich als Problem herausstellt. Zum Beispiel die Verteilung der Ressourcen. Irak ist ja ein unglaublich ölreicher Staat. Das Verhältnis der Zentralregierung in Bagdad zur RKI, zur Region Kurdistan-Irak, die weitgehende Autonomie genießt. Und da gibt es Konflikte zwischen Bagdad und der RKI, zum Beispiel um die Verteilung der Öleinnahmen, aber auch um die Frage, wer darf eigentlich Verträge mit externen Akteuren abschließen. Und in der Folge muss oftmals, nicht nur in diesen Fragen, in ganz vielen das oberste Gericht entscheiden. Und dieses ist zunehmend von politischen Akteuren vereinnahmt worden. Und da sind wir bereits bei den ersten informellen Elementen. Und ich glaube, das wichtigste informelle Element ist die sogenannte Mohassasa. Das ist eine Machtteilung entlang ethno-konfessioneller Linien. Die Kurden stellen den Präsidenten, die Schiiten den Premier und die Sunniten den Parlamentspräsidenten. Und das ist neu seit dem Fall Saddams und hat jetzt dazu geführt, dass im Irak die nationale Identität deutlich schwächer ist als partikulare Zugehörigkeiten. Also wenn man zum Beispiel mit schiitischen Politikern spricht, dann sagen die, ach, die Kurden, die sollen untereinander ausmachen, wer der irakische Staatspräsident ist, wir werden bestimmen, wer den Premierminister stellt. Also jeder denkt in seiner eigenen Gruppe.

Moderatorin: Ist das nicht auch sozusagen Produkt des Einflusses der USA? Sie haben es erwähnt, da ist ja die Verfassung 2005 dann zwar von Irakis irgendwie verabschiedet worden, aber doch unter massivem Einfluss der Amerikaner.

Isabelle Werenfels: Ja, also ich glaube, dieses Denken in Gruppen hat da natürlich begonnen, aber es ist auch vieles aufgebrochen, was vorher durch die Diktatur quasi vereinheitlicht wurde. Aber was wir heute sehen, ist Spaltungen in allen Gruppen. Und die gehen weniger entlang programmatischer Linien in der Regel, als es sind Machtkämpfe zwischen starken Männern. Und das sieht man bei den Kurden, da sind es zwei Familienclans, die sich streiten. Bei den Sunniten sind es drei starke Parteien und da gibt es Stammesloyalitäten und Konflikte. Und bei den Schieden ist es so, dass sie natürlich alle ausgerichtet sind auf das spirituelle Zentrum in Najaf, auf die höchste religiöse Autorität im Irak. Das ist Grossayatollah Sistani. Aber darüber hinaus haben wir ganz viele Spaltungen, unter anderem entlang der Nähe oder Distanz zu Iran. Und natürlich gibt es auch Konkurrenz unter Milizenführern, also unter starken Männern. Diese Milizen sind aber mehrheitlich zusammengeschlossen unter dem Dach, also formell zusammengeschlossen der Popular Mobilization Forces. Und arabisch heißen die Hasht al-Shabi oder in der Abkürzung, das liest man oft, PMF.

Moderatorin: Das ist aber interessant, gerade die Schiiten, denn die stellen ja die Bevölkerungsmehrheit. Das heißt, das hat ja einen besonderen Einfluss, wenn die sich auch als Gruppe nicht einig sind, wenn ich das richtig verstehe.

Isabelle Werenfels: Absolut. Aber selbst wenn sie sich als Gruppe einig wären, könnten sie zum Beispiel die Verfassung nicht ändern, weil es da immer die Zweidrittelmehrheit braucht. Und die hat man nur, wenn zum Beispiel die Schiiten mit den Kurden gehen oder die Schiiten mit den Sunniten. Aber das funktioniert eben so nicht, weil jede Gruppe die eigenen Interessen hat. Sieht man übrigens jetzt auch wieder in den Wahlen so deutlich.

Moderatorin: Also das fehlt eigentlich an einer Figur, die sich vielleicht traut, diese Grenzen zu überwinden. Jetzt gucken wir uns doch nochmal das Umfeld an. Sie haben es jetzt schon innenpolitisch beschrieben. Was ist denn noch wichtig, um diese Wahlen eigentlich auch zu begreifen, in welchem Umfeld die stattfindet?

Isabelle Werenfels: Vielleicht noch eine Ergänzung machen zu dem, was vorher gesagt wurde. Ich glaube, Premierminister Sudani hat das so ein bisschen versucht. Diese Figur zu sein. Und er versucht auch, und da kommen wir gleich zum regionalen Umfeld, zu balancieren zwischen westlichen Interessen, insbesondere den Interessen der USA und dem Iran. Und wir haben gesehen, dass er das recht erfolgreich gemacht hat in diesem sogenannten Zwölftagekrieg zwischen Israel und Iran. Wie hat er das geschafft oder was hat er gemacht? Also wird wahrscheinlich nicht nur an ihm gelegen haben. Also er hat versucht, die Milizen, oder hat es auch gemacht, zurückzubinden. Die Milizen, denke ich, hatten ein Eigeninteresse. Sie wollten nicht das Schicksal der Hezbollah leiden. Also es gibt immer wieder israelische Anschläge auf einzelne Milizenführer im Irak. Dann, glaube ich, die USA haben Israel-Zurückerhaltung auferlegt. Die wollen keine erneute Destabilisierung des Irak. Und nicht zuletzt und plausibel ist ja auch, dass der Iran kein Interesse an einem Flächenbrand, an einer Eskalation hatte und schon gar nicht, dass er noch mehr Verbündete verliert.

Moderatorin: Also das ist das regionale Umfeld. Da wollen wir auch nochmal drauf gucken. Aber was ich interessant finde, was Sie vorab noch erwähnt haben, es gibt ja auch Streitigkeiten oder sagen wir Unklarheiten darüber, was denn zum Beispiel mit dem Ölgeschäft passiert, also dem eigentlichen Reichtum des Iraks. Ja, da sind die Abhängigkeiten ja auch groß. Wie beeinflussen solche Dinge zum Beispiel die Wahlen?

Isabelle Werenfels: Ja klar, es gibt Stimmenkauf, es gibt eine enorme Korruption. Aber darüber hinaus muss man auch sagen, dass es eine große Herausforderung des Irak im Moment ist. Er ist zu 99 Prozent von Erdölexporten abhängig. Also die Exporte bestehen zu 99 Prozent aus dem Einnahmen aus dem Erdölsektor. Und es gibt im Moment einfach wahnsinnig hohe Staatsausgaben und niedrige, relativ niedrige Ölpreise. Das heißt, das Staatsbudget ist unglaublich beansprucht. Und jetzt kommt etwas dazu, worüber man hier viel zu wenig spricht, nämlich die Folgen des Klimawandels, die den Staatshaushalt enorm belasten. Temperaturen über 50 Grad sind in Bagdad keine Ausnahme. Ich stand jetzt vor wenigen Wochen mit einer jungen Irakerin draußen und die sagte, herrlich, es sind nur 40 Grad. Ich meine, das muss man sich vorstellen. Und wir haben die schlimmste Dürre seit den 30er Jahren. Im Süden die Landwirtschaft, die Viehzucht ist kaum mehr möglich. Das Wasser zu salzig, die Sümpfe trocknen aus. Und wer durch den Süden fährt, sieht es auch ganz deutlich. Und es gibt Klimaflüchtlinge im Irak, 17.000 Familien laut irakischen Statistiken. Wenn wir jetzt aber zurück nochmal zum Ölreichtum gehen, dann hat das wirklich zu einer unglaublichen Korruption und zu einer großen Schattenwirtschaft geführt. Also Korruption im öffentlichen Sektor, weil es enorme Aufträge gibt. Man kann natürlich in Infrastruktur investieren. Das heißt, für die Eliten, die im Prinzip ein Geflecht aus Sicherheitsakteuren, Wirtschaftsakteuren und Politikern sind, steht bei diesen Wahlen unglaublich viel auf dem Spiel.

Moderatorin: Dann kommen wir ja interessanterweise ja dann auch nochmal zu den einzelnen Kandidaten. Ich glaube, wir können nicht alle 38 Parteien jetzt irgendwie vorstellen. Aber die wichtigsten Akteure wären doch wichtig. Sie haben schon gesagt, der Premier hat es eigentlich geschafft, einigermaßen das Land zusammenzuhalten, vor allen Dingen auch nach außen. Welche sind noch wichtig? Welche müssen wir kennen? Um den Ausgang dieser Wahlen vielleicht zu begreifen.

Isabelle Werenfels: Es gibt den schiitischen Koordinationsrahmen, der auch den aktuellen Premier ins Amt gehievt hat, dessen Mitglieder vor allem Parteien sind, die relativ Iran-nah sind und sehr einflussreich sind. Die treten jetzt aber alle einzeln an, weil jeder, und das muss man sagen, deswegen steht für die Akteure viel auf dem Spiel, nicht weil es große Veränderungen geben wird, sondern weil jeder versucht, seine eigene Macht auszutesten. Und nach den Wahlen geht man dann wieder zusammen. Aber wer wirklich wichtig ist und über den wahnsinnig viel gesprochen wurde, ist Muqtada al-Sadr. Er boykottiert diese Wahlen, ist einer der mobilisierungsstärksten Akteure. Er steht in Opposition zum schiitischen Koordinationsrahmen. Aber er ist Schiite, er vertritt eine nationale Agenda und er ist mehrheitlich anti-iranisch eingestellt, auch anti-amerikanisch, aber eben sehr auf den Irak konzentriert. Und er genießt enorme Legitimität, weil er auch der Sohn eines Grossayatollahs, der von Saddam Hussein ermordet wurde, ist. Er hatte die Wahlen 21 gewonnen, hat dann versucht, eine Regionskoalition zu bilden. Das ist ihm nicht gelungen. Er wurde von den anderen ausgebremst und zog seine Parlamentarier zurück und hat dann seine Miliz losgeschickt. Also es kam dann zu einer kurzen, gewaltsamen Eskalation. Diesmal boykottiert er. Und sollte er aber, und das spekulieren viele auch noch so ein bisschen, informell Signale geben, könnte er der Königsmacher sein.

Moderatorin: Jetzt haben wir mehrfach über die Milizen gesprochen, gerade zum Schluss wieder bei Al-Sadr, die ja eine enorme Bedeutung haben, eigentlich auch um eine Agenda durchzusetzen. Welche Rolle spielen Sie bei den Wahlen?

Isabelle Werenfels: Also wenn man heute durch Bagdad fährt, dann sieht man riesige Wahlplakate, auf denen Milizenführer abgebildet sind. Eigentlich oft die gleichen, eine kleine Zahl, die aber oft selbst nicht kandidieren, aber eine eigene Partei unterhalten. Sprich, wir haben Akteure, die den Milizen nahestehen, Parteien, die den Milizen nahestehen oder von den Milizen sind im Parlament vertreten. Einige stellen Minister, zum Beispiel der Minister für höhere Bildung. Und das Paradoxe ist, die Milizen sind formell ins System eingebunden, seit 2016, qua Gesetz. Sie haben auch ein Budget, sie sind dem Premierminister unterstellt, aber letztlich agieren sie völlig autonom. Es gibt 60 oder zwischen 60 und 70 verschiedene. Die meisten sind schiitisch. Ein Teil davon, habe ich bereits gesagt, Iran-nah. Und es gibt sehr unterschiedliche Schätzungen zu ihren Mitgliederzahlen oder Mobilisierungskraft. Die gehen von 100.000 bis über 200.000. Aber wenn man weiß, dass die irakische Armee ungefähr 200.000 Personen hat, dann erkennt man die Bedeutung. Aber es sind ja nur rund ein Dutzend davon wirklich relevant. Die sind in der Wirtschaft tätig. Es gibt immer wieder Anschuldigungen von Schutzgelderpressungen. Es gibt Gerüchte von Geldwäsche. Teilweise umgehen sie oder wird ihnen von den USA vorgeworfen, dass sie Sanktionen gegen den Iran umgehen. Dann gibt es wiederum Sanktionen gegen die wirtschaftlichen Aktivitäten dieser Milizen. Und wenn man jetzt aber mit der Bevölkerung spricht, gerade mit schiitischen Akteuren, dann hört man ganz oft, wir mögen die nicht unbedingt, aber sie haben den Irak vor dem islamischen Staat gerettet. Und wir haben bisher den islamischen Staat noch nicht erwähnt, der zwischen 2014 und 2017 große Teile des Irak besetzt hatte. Und das ist das eigentliche Trauma. Und heute, wenn man mit den Irakern spricht, ist das viel präsenter als die US-Invasion. Das ist erstaunlich, aber es ist so.

Moderatorin: Wenn wir es jetzt mal flapsig ausdrücken, wie ich das mal gerne tun möchte, ist ja die Nachbarschaft nicht unbedingt eine gemütliche. Gucken wir uns mal die einzelnen Akteure an, wie sie Wahlen auch beeinflussen. Wahrscheinlich muss man als allererstes den Iran erwähnen.

Isabelle Werenfels: Absolut. Also der Iran ist unglaublich einflussreich. Viele irakische Politiker, auch Milizenführer, haben dort studiert, haben enge Beziehungen. Die Milizen erhalten vom Iran Waffen. Und man muss auch sagen, dass der Staat sehr abhängig ist vom Iran, weil er bezieht Gas, was er dann in Strom umwandelt. Und der Irak kann selber, obwohl er so energiereich ist, nicht genug Strom produzieren. Wir haben jetzt sehr viel über den Einfluss des Iran gesprochen. Aber man muss natürlich auch über den erheblichen Einfluss der USA sprechen. Die USA haben die Möglichkeit, irakische Unternehmen zu sanktionieren. Das machen sie auch. Sie haben auch Banken sanktioniert, vom Dollarhandel ausgeschlossen. Und sie haben mit dem Dollar einen enormen Hebel. Die irakische Wirtschaft ist hoch abhängig vom Dollar. Und es ist auch so, dass der ganze Ölhandel in Dollar stattfindet. Und diesen enormen Einfluss hat man auch im vergangenen Sommer gesehen, als die USA ein Gesetz im irakischen Parlament ausgebremst hatten, was den Popular Mobilization Forces noch mehr Gewicht im Staat gegeben hätte und noch mehr Handlungsspielraum. Und ein Land, was im Moment für Irak, glaube ich, ganz wichtig ist, ist Syrien. Alle haben Angst vor der Destabilisierung von Spillover-Effekten. Und auch hier sieht man in der Haltung zum neuen Syrien die Spaltung innerhalb der irakischen Gesellschaft. Die Schieden sind skeptisch. Man hört ganz oft, das ist ein ehemaliger Terrorist, der kommt vom ISIS. Während die Sunniten etwas weniger skeptisch sind, auch die Kurden sind natürlich skeptisch. Was man auch sieht, ist die große Sorge, dass Dschihadisten zurückkehren aus den Gefängnissen, aus den Lagern, wenn die Syrer das nicht im Griff haben. Und hier kommt auch so ein bisschen die Beziehung zur Türkei dazu. Es gibt ein Unbehagen darüber, wie groß der türkische Einfluss ist in Syrien. Die Beziehungen zur Türkei sind jetzt gerade wieder etwas besser. Aber es gab natürlich immer Spannungen rund um die PKK. Das war in der Vergangenheit ein Konfliktthema. Und gerade in den letzten Tagen fürchten sich die Iraker davor, dass jetzt die ganzen PKK-Kämpfer, die zwar entwaffnet sind, aber in den Nordirak gehen sollen. Vielleicht am allerwichtigsten und auch wieder weniger sichtbar ist, ähnlich wie der Klimawandel, der Irak ist hochabhängig vom Wasser, was aus der Türkei in seine Flüsse fließt. Die Türken haben Staudämme, können das regulieren und können das letztlich auch als Verhandlungs- und Druckmittel nutzen. Was es umgekehrt gibt, es fließt Öl vom Irak in die Türkei. Das ist lange nicht so gewesen. Das geht jetzt wieder. Also da gibt es so ein bisschen gegenseitige Hebel. Und ich denke, in diesem komplexen Umfeld ist es wahnsinnig schwierig, für die Regierung alle Interessen zu balancieren, weil die ja immer wieder auch Auswirkungen nach innen haben, weil die unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen diesen Nachbarstaaten unterschiedlich begegnen.

Moderatorin: Also die Situation ist durchaus fragil, auch wenn es, wie Sie uns geschildert haben, ja am Anfang es zum Beispiel im Stadtbild von Bagdad ja durchaus einen anderen Eindruck, also man einen anderen Eindruck haben könnte. Wie könnten eigentlich diese Wahlen ausgehen? Ich weiß, das ist wahrscheinlich der Blick in die Glaskugel, aber den müssen wir stellen. Ich formuliere es vielleicht mal anders. Was erwarten denn die Menschen von diesen Wahlen?

Isabelle Werenfels: Also die erwarten keinerlei fundamentale Umwälzungen. Sehr viele, mit denen ich gesprochen habe, boykottieren. Man erwartet, dass sich die jetzigen Eliten weiter konsolidieren. Also dieses Geflecht, was ich beschrieben habe, da werden einzelne Akteure mehr, andere weniger Macht haben. Aber es gibt einen Paradox und das hat mich immer wieder frappiert. Wenn man fragt, wer ist beliebt, wer wird am meisten Stimmen bekommen, dann hört man Sudani. Und zwar fast immer der amtierende Premierminister, aber, und das wird sofort nachgeschoben, der werde nicht mehr Premier. Und das spielt darauf an, dass Sudani doch sich, wie soll ich sagen, er hat sich nicht angelegt, aber er hat sich emanzipiert und ist vielen Akteuren im schiitischen Koordinationsrahmen auch zu mächtig und zu selbstständig geworden. Und er braucht eine große Koalition, um sich durchsetzen zu können. Und da haben wir wieder die Verfassung, die Hürden eingebaut hat. Und zwar ist es so, dass nach den Wahlen muss erstmal der Parlamentssprecher mit einer Zweidrittelmehrheit gewählt werden. Dann wird der Präsident mit einer Zweidrittelmehrheit gewählt. Und erst dann wird der Präsident einen Premierminister, und zwar der stärksten Kraft, nominieren. Bis dahin kann es aber sein, dass sich so viele Parteien zusammengeschlossen haben, dass die Partei, die gewonnen hat, gar nicht mehr die stärkste Kraft, der stärkste Block ist.

Moderatorin: Was wir ja in der Vergangenheit gesehen haben, zum Beispiel.

Isabelle Werenfels: Genau. 2021 ist genau das passiert. Und so wurde Muqtada al-Sadr ausgebremst. Und das ist übrigens auch etwas, was in der Verfassung nicht ganz klar formuliert ist. Und dann hat auch das Gericht entschieden damals, und es ist durchaus möglichst wieder passiert. Also mit Sicherheit kann man sagen, eine neue Regierung wird nicht vor Weihnachten stehen. Und es ist so, dass es 2021 ein Jahr gedauert hat. Und die Irakis sagen alle, die schließen jetzt Wetten ab, wie lange es dauern wird, bis sie eine neue Regierung haben.

Moderatorin: Wir haben jetzt erfahren, wie fragil und instabil auch die ganze Situation ist im Irak vor den Wahlen am 11. November. Und da stellt sich mir natürlich die Frage, was kann denn die Europäische Union oder vor allen Dingen auch Deutschland tun vor diesen Wahlen? Oder eigentlich auch interessanterweise natürlich danach?

Isabelle Werenfels: Also ich denke, alles, was stabilisierende Funktionen hat, ist sinnvoll. Also erstens Dschihadisten zurücknehmen aus den Lagern in Syrien, auch Frauen und Kinder. Ich glaube, das ist den Irakern unheimlich wichtig. Darüber sprechen sie oft. Im Kampf gegen den Extremismus helfen, De-Radikalisierungsprojekte sind wichtig. Das geschieht auch schon, das muss weiterhin geschehen. Und was sicherlich auch wichtig ist, die weitergehende Unterstützung für die NATO-Mission im Irak. Denn die berät das Verteidigungsministerium und die Armee. Ein zweiter Block, der sehr wichtig ist, ist helfen mit den Folgen des Klimawandels umzugehen. Also das ist sicher sehr viel Entwicklungszusammenarbeit. Und die ist auch unheimlich wichtig in dem Bereich. Wasserprojekte und so weiter. Und als drittes, und das halte ich auch für wichtig und halte es letztlich eben auch für stabilisierend, ist, dass man die Zivilgesellschaft unterstützt. Für die ist es sehr viel schwieriger geworden. Und zwar nicht nur wegen der Präsenz der Milizen und der Sorge, die jetzt Journalistinnen, Menschenrechts-Aktivistinnen und so weiter haben, sondern auch, weil die Regierung doch Meinungsfreiheiten zunehmend subtil, aber doch kontinuierlich einschränkt. Wir sehen, dass Facebook-X- und TikTok-Accounts von Aktivistinnen gesperrt werden. Und wir sehen auch, und das hat natürlich mit dem Konservatismus der herrschenden Eliten auch zu tun, Wir sehen, dass zum Beispiel das Personenstandsgesetz in diesem vergangenen Sommer zurückbuchstabiert wurde zu Ungunsten der Frauen. All das sind Themen, die die Gesellschaft auch oder Teile der Gesellschaft beschäftigen. Und die Teile sollten sicherlich auch unterstützt werden, die unter diesen Verschiebungen leiden. Und nicht zuletzt halte ich es für wichtig, dass Deutschland vielleicht seine Reisewarnung nochmal überdenkt. Weil wenn man sich die aktuelle Situation vor Ort anschaut, dann scheint das ein bisschen anachronistisch zu sein.

Moderatorin: Vielen Dank, Isabel Werenfels. Ja, vielen Dank Ihnen, Frau Brink. Und Ihnen, liebe Hörerinnen und Hörer, vielen Dank fürs Zuhören. Die Redaktion für diese Folge hatte Maya Dähne. Und mehr zum Thema finden Sie in den Informationen zu dieser Podcast-Folge. Am besten abonnieren Sie natürlich den SWP-Podcast, zu finden auf den bekannten Plattformen. Ich bin Nana Brink und ich freue mich auf das nächste Mal.

Dr. Isabelle Werenfels ist Senior Fellow in der SWP-Forschungsgruppe Afrika und Mittlerer Osten.