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Geopolitik auf Rädern: Die Neupositionierung der türkischen Automobilindustrie

SWP-Aktuell 2025/A 45, 29.10.2025, 8 Pages

doi:10.18449/2025A45

Research Areas

Die Türkei ist nicht nur ein wichtiger Absatzmarkt für deutsche Kraftfahrzeuge, sie exportiert zugleich in bedeutendem Umfang Automobile und diverse Komponenten nach Deutschland. Durch ihre Einbindung in die deutschen Lieferketten tragen türki­sche Zulieferer maßgeblich zur internationalen Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Automobilindustrie bei. Allerdings sieht sich die türkische Autoindustrie mit kom­plexen wirtschaftlichen, technologischen und geopolitischen Herausforderungen kon­frontiert: Handelshemmnisse, Verschärfung des internationalen Wettbewerbs, makro­ökonomische Ungleichgewichte. Diese Herausforderungen gewinnen nun auch für die deutsche Automobilwirtschaft und Sicherheitspolitik an Relevanz – bergen sie doch sicherheits- und geoökonomische Risiken und könnten die deutsch-türkische Verflechtung schwächen. Türkische Autohersteller und Regierungsvertreter reagieren auf die genannten Herausforderungen mit einer strategischen Neupositionierung hin zu Digitalisierung und Elektrifizierung. Daraus ergeben sich neue Kooperations­chancen mit Deutschland.

Im Juli 2024 hat die türkische Regierung mit dem chinesischen Elektrofahrzeug­hersteller Build Your Dreams (BYD) den Bau einer Produktionsstätte in Manisa vereinbart, einer westtürkischen Provinzhauptstadt nahe der Hafenstadt Izmir. Bereits zuvor hatte der chinesische Autohersteller Speedy Working Motors vergleichbare Pläne für eine Expansion auf den türkischen Markt angekündigt. Weitere chinesische Direkt­investitionen stehen auf der Tagesordnung: Dem türkischen Industrieminister Mehmet Fatih Kacır zufolge führt der chinesische Automobilhersteller Chery Verhandlungen über den Aufbau einer Produktionsstätte in Samsun. Die geplante Investition soll ähnlich hoch sein wie diejenige BYDs. Die Attraktivität der Türkei als Standort für die Automobil- und Komponentenproduktion zeigt sich auch in einem Vorhaben Forvias: Der deutsch-französische Konzern, siebt­größter Automobilzulieferer weltweit, der rund ein Viertel seines Umsatzes in China erzielt, plant ein Lieferwerk in der Türkei. Damit will er den Umstand kompensieren, dass die Zahl der Aufträge durch euro­päische Fahrzeughersteller zurückgeht, und die Integration chinesischer Zulieferer in alternative Lieferketten forcieren.

Solche Entwicklungen nähren Optimismus über die Zukunft der türkischen Auto­industrie, verdecken jedoch wirtschafts- und sicherheitspolitische Herausforderungen.

Neuausrichtung zwischen Mobilitätswende und Geopolitik

Die Automobilindustrie, ein zentraler Pfei­ler der türkischen Wirtschaft, sieht sich wachsendem Wettbewerbsdruck ausgesetzt. Automobilunternehmer und Regierung re­agieren auf die Mobilitätswende und auf geopolitische Umbrüche, indem sie sich strategisch neu ausrichten hin zu Digitalisierung und Elektrifizierung. Dies erfordert Investitionen in neue Technologien und Antriebssysteme sowie eine stärkere Inte­gration in die sich wandelnden internatio­nalen Lieferketten. Erschwert werden Anpassungsbemühungen und langfristige Strategien der türkischen Automobilindus­trie durch währungspolitische und recht­liche Unsicherheiten, regulatorische Hürden sowie politische Volatilität in der Türkei.

Wachstum, Innovation und Exportkraft

Seit Einführung der Zollunion zwischen der Türkei und der Europäischen Union (EU) 1996 hat sich die EU zum bedeutendsten Handelspartner der Türkei entwickelt. Unter den EU-Staaten ist Deutschland der wich­tigste Handelspartner der Türkei. Was die Automobilindustrie angeht, hat der zollfreie Zugang der Türkei zum EU-Binnenmarkt zum einen dazu beigetragen, dass die Fahr­zeugproduktion in der Türkei angestiegen ist: von 300.000 Fahrzeugen im Jahr 2002 auf 1.332.755 im Jahr 2024, davon 980.341 Personenkraftwagen. Zum anderen profi­tiert das Land von einer tieferen Integration in die europäischen Wertschöpfungsketten. Die Türkei entwickelte sich zu einem attrak­tiven Produktionsstandort für internatio­nale Automobilhersteller und ‑zulieferer. Zu den größten Akteuren der türkischen Automobilindustrie zählen Joint Ventures mit internationalen Autoherstellern: Anadolu Isuzu, TOFAŞ-Stellantis, Ford Otosan, BMC (British Motor Corporation, zzt. türkisch-katarisches Joint Venture), Mercedes-Benz Türk, Hyundai Assan, MAN Türkiye, Oyak Renault und Türk Traktör. Im Jahr 2024 belegte die Türkei unter den Pkw-Produzenten weltweit Platz 12 und europaweit Platz 4, in der Produktion von Nutzfahrzeugen europaweit Platz 2.

Der Automobilsektor leistet einen wichtigen Beitrag zum türkischen Wirtschafts­wachstum, indem er die Nachfrage in zahl­reichen vorgelagerten Industriebranchen ankurbelt. Er schafft, ähnlich wie in Deutsch­land, gut bezahlte Arbeitsplätze, was sich positiv auf die Gesamtkaufkraft der Türkei auswirkt. Über 56.000 Personen arbeiten in der Automobilindustrie, in vor- und nach­gelagerten Branchen mehr als 550.000. Sek­toren wie Metallurgie, Kunststoffverarbeitung, Elektronik und Logistik entwickeln sich parallel zum Wachstum der Autoindus­trie weiter. Unternehmen im Automobil­sektor investieren in technologische Innova­tion – es gibt landesweit 167 Forschungs- und Entwicklungszentren – und stärken so die technologische Infrastruktur und Inno­vationsfähigkeit des Landes nachhaltig.

Zugleich zählt die Automobilindustrie zu den wichtigsten Exportsektoren der Türkei und trägt zur Verringerung des hohen Han­delsbilanzdefizits bei. Laut der Vereinigung türkischer Automobilexporteure (OİB) er­reichten die Automobilexporte 2024 ein Vo­lumen von 36,65 Milliarden US-Dollar, ein Plus von 6 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Der Anteil der Automobilbranche am türki­schen Gesamtexport betrug damit 17,3 Pro­zent; seit fast zwei Jahrzehnten nimmt sie den Spitzenplatz in der türkischen Export­statistik ein. Fast zwei Drittel der türkischen Automobilexporte gingen 2024 in die EU, dem größten Absatzmarkt für türkische Automobile und Komponenten. 13 Prozent der Exporte der türkischen Autoindustrie gingen nach Deutschland, womit es das größte Abnehmerland war (siehe Tabelle, Seite 3).

Die enge Einbindung der türkischen Automobilindustrie in den EU-Markt, vor allem in die Lieferketten der EU und Deutschlands, geht auf die Zollunion zu­rück. Die Türkei stärkt die internationale Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Auto­mobilindustrie in mehrfacher Hinsicht: Türkische Zulieferer liefern zuverlässig und kosteneffizient Komponenten, die Türkei bietet wettbewerbsfähige Standortbedingungen für die Fertigung an, und als logis­tisches Drehkreuz erleichtert sie den Zugang zu – für die deutsche Autoindustrie – interessanten Absatzmärkten, zum Beispiel in Afrika.

Tabelle

Exporte der türkischen Automobilindustrie, 2021–2024

2021
in Mrd. US‑Dollar

2022
in Mrd. US‑Dollar

2023
in Mrd. US‑Dollar

2024
in Mrd. US‑Dollar

Veränderung von 2023 auf 2024
in Prozent

Anteil 2024
in Prozent

Zulieferindustrie

11,80

12,98

14,15

14,88

5

41

Pkw

9,50

9,26

11,06

12,37

12

34

Fahrzeuge für den Gütertransport

5,33

5,05

4,90

5,58

14

15

Groß- und Kleinbusse

1,27

1,47

2,31

2,57

11

7

Sattelzugmaschinen für Sattelauflieger

1,03

1,76

2,15

1,25

-42

3

Gesamt

28,93

30,52

34,57

36,65

6

100

Exporte in die EU

16,20

17,35

20,93

21,77

4

59

Exporte nach Deutschland

3,22

4,38

4,85

4,86

0

13

Quellen: Uludağ Automotive Industry Exporters’ Association (OİB), »Export Figures«, <https://oib.org.tr/en/export-figures.html> (Zugriff am 24.10.2025); International Trade Centre, Trade Map, »List of Importing Markets from European Union (EU 27) for a Product Exported by Türkiye«, <http://bit.ly/47uAHxY> (Zugriff am 29.10.2025).

Herausforderungen und Stagnation

Die türkische Automobilindustrie sieht sich dennoch mit drei Herausforderungen kon­frontiert.

Wirtschaftliche Herausforderungen: Die Inflation hat einerseits die Binnennachfrage nach Autos erhöht, was auch daran liegt, dass viele Verbraucher den Autokauf zu­nehmend als Investition betrachten. Gleich­zeitig mindern die Volatilität der Landeswährung, die hohen Verbrauchersteuern und die Anhebung des Körperschaftssteuersatzes von 25 auf 30 Prozent die Investi­tionsbereitschaft und Konsumfreude in der Türkei. Ein genauerer Blick offenbart, dass die Gewinne der Industrie zurückgehen, die Wettbewerbsfähigkeit und die Produktivität sinken, unter anderem weil Produktions-, Transport- und Vertriebskosten steigen. Die Stagnationstendenz im Automobilsektor zeigt sich überdies in den einbrechenden After-Sales-Umsätzen.

Politisch-rechtliche und umweltbezogene Herausforderungen: Die türkische Automobilindustrie belasten EU-Umweltauflagen, ins­besondere strengere CO₂-Grenzwerte. Diese erfordern von den Herstellern in der Türkei, dass sie ihre Produktionsprozesse und Modellpaletten anpassen, wofür erhebliche Investitionen in emissionsarme Technologien notwendig sind. Die Branche muss also in umweltfreundlichere Produktionsverfahren, alternative Antriebe wie Elektromobilität sowie Kreislaufwirtschaftskonzepte inves­tieren. Für große Planungsunsicherheit sorgt das ab 2035 geplante EU-Verkaufsverbot für Neuwagen mit Verbrennungsmotor. Die Nachfrage nach Fahrzeugen mit klassischem Antrieb könnte dadurch deutlich sinken.

Zusätzliche Unsicherheit entsteht durch politische Risiken in der Türkei. Repressive Maßnahmen zur Konsolidierung des Re­gimes – wie im Fall der Verhaftung von Istanbuls Bürgermeister İmamoğlu – kön­nen Marktvertrauen erschüttern, Kapital­abflüsse auslösen und die Lira schwächen.

Technologische Herausforderungen: Der Wandel hin zu elektrischen Antrieben zwingt die türkische Automobilindustrie, verstärkt in Forschung, Entwicklung und Produktion von Elektrofahrzeugen, in auto­nome Mobilität, Digitalisierung und ver­netzte Systeme zu investieren. Experten warnen, dass die Türkei andernfalls auf die Rolle eines Montagestandorts reduziert wer­den könnte. Neue regulatorische Vorgaben wie der EU-Batteriepass könnten zusätz­liche Hürden schaffen. Werden etwa Batte­riezellen, Wechselrichter und Software in der Türkei nur montiert, droht ein Rückfall in niedrige Wertschöpfung, die die türki­sche Autoindustrie in globalen Produktions­ketten auf einfache Fertigung beschränkte.

Anpassung an eine neue techno­logische und geopolitische Realität

Die türkische Regierung verfolgt in Zusam­menarbeit mit Autoherstellern und ‑zulie­ferern das Ziel, die internationale Wett­bewerbsfähigkeit der heimischen Autoindus­trie zu stärken. Hauptanliegen ist dabei, die Marktpräsenz in Europa zu erweitern und die Türkei strategisch zu positionieren, als führenden Standort für Elektromobilität – zum Beispiel indem ausländische Investoren gezielt im Land angesiedelt werden. Zur strategischen Neuausrichtung gehört eben­falls, eigenständige industrielle Kompetenzen aufzubauen und die nationale Elektro­automarke Togg weiterzuentwickeln, die im September 2025 den Schritt ins Ausland gemacht hat und in den deutschen Markt eingetreten ist. Damit positioniert sich die Türkei zunehmend als selbstbewusster In­dustrieakteur, der seine Rolle nicht länger auf Zuliefer- oder Montagefunktionen begrenzt sehen will.

Im Mittelpunkt steht die bewusste An­werbung von Herstellern auch aus nicht­westlichen Ländern. Aufmerksamkeit erregte diesbezüglich das Abkommen mit dem chinesischen E‑Auto-Hersteller BYD, der eine Produktionsstätte in der Türkei errichtet – ein bedeutender Schritt zur Stärkung des Produktionsstandortes für Elektromobilität.

Für die türkische Automobilindustrie spricht, dass sich die türkische Automarke Togg trotz des Markteintritts von BYD und Tesla erfolgreich behaupten konnte: Sie hielt ihren hohen Absatz im Jahr 2024 und bleibt ein zentraler Akteur im Segment der Elektrofahrzeuge. Der Aufwärtstrend auf dem Elektroautomarkt im Allgemeinen setzte sich spürbar fort und unterstreicht damit den strukturellen Wandel der Branche.

Im Jahr 2024 stellte sich der Gesamtfahrzeugabsatz in der Türkei wie folgt dar: Zwar hatten Fahrzeuge mit Benzinantrieb weiterhin den mit Abstand größten Markt­anteil, 60,1 Prozent. Doch verzeichneten Plug-in-Hybridfahrzeuge (mit elektrisch unterstütztem Verbrennungsmotor) den stärksten Zuwachs, ihr Marktanteil stieg auf 18,8 Prozent. Damit nahmen sie erstmals den zweiten Platz im Antriebsranking ein. Dieselfahrzeuge verloren weiter an Bedeu­tung, ihr Marktanteil sank auf 9,8 Prozent. Der Absatz von Elektrofahrzeugen ver­doppelte sich im Vergleich zum Vorjahr nahezu, von 72.179 auf 105.315 Fahrzeuge. Damit überschritten E-Fahrzeuge erstmals die 10‑Prozent-Marke und erreichten einen Marktanteil von 10,7 Prozent. Das meist­gefragte Modell war der Togg T10X, das erste inländische Elektroauto, mit 30.094 ver­kauften Fahrzeugen. Auf dem zweiten Platz folgte das Tesla Model Y mit 11.534, den achten Rang belegte das Modell BYD Atto 3 mit 2.252 verkauften Fahrzeugen.

Elektromobilität wird in der Türkei maßgeblich durch steuerliche Maßnahmen begünstigt. Vor allem die Regelungen im Rahmen der Sonderverbrauchssteuer (ÖTV) schufen Anreize für die Produktion und den Import von Elektrofahrzeugen. Zahl­reiche Hersteller begannen daraufhin, Modelle zu importieren, für die der redu­zierte Steuersatz von 10 Prozent gilt, das heißt Fahrzeuge mit einer Motorleistung unter 160 kW. Diese Regelung erleichterte den Marktzugang günstiger Elektroautos: 81 Prozent der 2024 verkauften E‑Autos fielen in diese Leistungsklasse.

Auch Hybridfahrzeuge profitieren von steuerlichen Vergünstigungen, was ihren Marktanteil sichtlich ansteigen ließ. Ergän­zend wurden handelspolitische Maßnahmen ergriffen: Am 31. Dezember 2024 be­schloss die türkische Regierung, den Zusatz­zoll auf in China produzierte Fahrzeuge von 40 auf 50 Prozent zu erhöhen. Diese ab 2025 geltende Maßnahme zielt sowohl auf industriepolitischen Schutz ab als auch dar­auf, die Marktakteure zu steuern.

Die Verflechtung mit China – Herausforderungen und Chancen

Wirtschafts- und technologiepolitisch orien­tiert sich Ankara zunehmend in Richtung China, ohne sich vom Westen abzuwenden. Die Türkei sondiert Möglichkeiten einer vertieften Partnerschaft mit China, insbeson­dere in der 5G- und Batterietechnologie. Im Einklang mit dieser Strategie hat die türki­sche Regierung den heimischen Markt für chinesische Automobilhersteller und ‑zulie­ferer geöffnet. Parallel dazu forciert sie mit der nationalen E‑Auto-Marke Togg ein Leuchtturmprojekt, das durch staatliche Subventionen und Importbeschränkungen gegenüber ausländischen Wettbewerbern unterstützt wird.

Die zentrale Herausforderung für die Türkei besteht darin, die Abhängigkeit von ausländischen original equipment manufacturers (OEMs) zu verringern, die lokale Wert­schöpfung zu steigern und eine wettbewerbs­fähige Kostenstruktur zu entwickeln – idea­lerweise ohne auf dauerhafte staatliche Förderung oder protektionistische Maßnahmen angewiesen zu sein.

Die Bedeutung chinesischer Hersteller auf dem türkischen Markt nimmt zu, und ihr Marktanteil dürfte weiter steigen, was durch strategische Investitionen in Produk­tion und Vertrieb vor Ort begünstigt wird. Die Türkei bleibt ein attraktiver Absatzmarkt: 2024 wurden insgesamt 1.238.509 Fahrzeuge verkauft, darunter 980.341 Pkw und 258.168 leichte Nutzfahrzeuge. Von den in der Türkei gekauften Pkw waren 290.675 im Inland produziert, 689.666 importiert worden. Dies ist ein klares Indiz für die starke Nachfrage nach ausländischen Marken.

Für chinesische Automobilhersteller dient die Türkei mittlerweile auch als Sprungbrett in den europäischen Markt. Dass lokale Produktionskapazitäten in der Türkei aufgebaut werden, geschieht nicht zuletzt mit dem Ziel, die von der EU ver­hängten Strafzölle auf chinesische Elektro­fahrzeuge zu umgehen. Durch die Zoll­union mit der EU haben in der Türkei gefer­tigte Fahrzeuge zollfreien Zugang zum EU-Binnenmarkt – ein klarer Wettbewerbs­vorteil, den chinesische Unternehmen für ihre Expansion nach Europa nutzen.

Mit Bezug auf die strategische Neuausrichtung des türkischen Automobilsektors stellen sich zwei Fragen: Wird es der Türkei gelingen, die wachsende Verflechtung mit China industriepolitisch so zu gestalten, dass sie in eine eigenständige technologische Aufwertung mündet? Wie wahrscheinlich ist es, dass daraus eine neue Form ex­terner Abhängigkeit entsteht?

Wirtschaftliche Vor- und Nachteile

Wirtschaftsexperten sehen im Markteintritt chinesischer Automobilhersteller in der Türkei durchaus Chancen. So könnte bei­spielsweise der Ausbau von Lade- und Servicenetzen beschleunigt werden, wovon auch der nationale Anbieter Togg profitieren würde. Kritische Stimmen hingegen warnen davor, dass eine zunehmende wirt­schaftliche Verflechtung mit chinesischen Unternehmen den Wettbewerb verschärfen, einheimische Hersteller verdrängen und strategische Abhängigkeiten begünstigen könnte. Allerdings lassen sich nicht alle diese Befürchtungen durch die derzeitige Marktstruktur empirisch stützen.

Erstens ist der türkische Automobilmarkt diversifiziert, und zwar auf Angebots- wie auf Nachfrageseite. Zweitens bleibt der Marktanteil chinesischer Marken bislang begrenzt. Auch wenn BYD innerhalb der letzten 32 Tage des Jahres 2024 mit 6.591 verkauften Fahrzeugen auf sich auf­merksam machte, mussten andere Herstel­ler wie Neta sich aufgrund niedriger Ab­sätze und verschärfter Zölle wieder vom türkischen Markt zurückziehen. Chery ran­gierte 2024 zwar auf Platz 5 der meist­verkauften Marken, dennoch waren seine Absätze wegen neuer Zölle rückläufig. Ende 2024 erhöhte die türkische Regierung, wie oben erwähnt, den zusätzlichen Zollsatz auf chinesische Fahrzeuge von 40 auf 50 Prozent, um die heimische Produktion zu schützen.

Die türkische Automobilindustrie würde durch chinesische Anbieter erst dann sub­stanziell bedroht, wenn die Zollschranken deutlich gesenkt oder aufgehoben würden. In einem solchen Szenario könnten chine­sische Hersteller ihre Marktanteile zulasten heimischer Produzenten wie Togg schnell ausbauen. Um unter diesen Bedingungen wettbewerbsfähig zu bleiben, wäre Togg weiterhin auf staatliche Fördermaßnahmen und regulatorische Unterstützung ange­wiesen.

Türkische Autohersteller und ‑zulieferer erwarten, dass die geplante Produktionsstätte von BYD nach ihrer Inbetriebnahme den Technologietransfer fördert, die lokale Wertschöpfung stärkt und die Integration der Türkei in globale Lieferketten, namentlich in der Elektromobilität, weiter diver­sifiziert. Besonders vielversprechend er­scheint die Zusammenarbeit in Form von Joint Ventures in der Batterieproduktion, da chinesische Hersteller in Schlüsseltechnologien wie Batteriezellen, Leistungs­elektronik und Solarmodulen eine globale Führungsrolle innehaben. Dies dürfte – durch Produktionsvorteile in der Türkei – den Wettbewerbsdruck auf die europäische Automobilindustrie spürbar erhöhen, nicht nur weltweit, sondern auch innerhalb des europäischen Binnenmarktes, zu dem die Türkei durch die Zollunion gehört.

Gleichzeitig birgt die Kooperation mit China elementare Risiken wie eine vertiefte Abhängigkeit von chinesischer Technologie oder einen Anstieg des Handelsbilanzdefi­zits, ganz abgesehen von den bestehenden geopolitischen Spannungen. Sollte sich der Handelskonflikt zwischen China, der EU und den USA zuspitzen, könnten daraus Restriktionen entstehen, die den türkischen Automobilsektor treffen würden.

Sicherheitspolitische Konsequenzen

Dass sich der Technologiekonflikt zwischen Washington und Peking im Bereich der vernetzten Elektrofahrzeuge verschärft, ist nicht ausgeschlossen. Eine intensive Koope­ration zwischen der türkischen und der chinesischen Automobilindustrie könnte in diesem Fall zu Spannungen in den Bezie­hungen der Türkei zur EU und zu den USA führen. Die US-Regierung erwägt bereits ein Importverbot für Fahrzeuge aus China und anderen Staaten, die als sicherheitsgefährdend eingestuft werden. Dies wird mit natio­nalen Sicherheitsinteressen begründet, die durch E‑Autos bedroht würden. (Bestimmte) Elektrofahrzeuge sind heute weit mehr als reine Transportmittel: Sie sind hochvernetzte IT-Systeme. Sie verfügen über Ortungs- und Datenerfassungsfunktionen, wodurch sie aus sicherheitspolitischer Sicht relevant sind – einerseits als potenzielle Ziele für Cyberangriffe und Spionage, andererseits als Überwachungsmedium.

Massenüberwachung: Digital vernetzte Fahrzeuge sind in der Lage, umfangreiche personenbezogene Daten zu erfassen, dar­unter Fahrverhalten, Bewegungsprofile, Wohn- und Arbeitsorte sowie geschäftliche und private Kontakte. In autoritär regierten Staaten wie China unterliegt die Nutzung solcher Daten keiner unabhängigen Kon­trolle. Stattdessen werden sie staatlich aus­gewertet, etwa um im Ausland lebende Personen zu überwachen oder um politi­sche, wirtschaftliche oder gesellschaftliche Akteure gezielt zu beeinflussen.

Ein derartiger Zugriff auf Daten bringt vor allem in Ländern mit schwacher rechts­staatlicher Kontrolle – wie der Türkei – erhebliche Risiken mit sich. Die Möglichkeit, über längere Zeiträume hinweg digitale Schattenprofile zu erstellen, würde nicht nur die Privatsphäre einzelner Nutzer bedrohen, sondern ebenso die kollektive Sicherheit. Die Gefahr, dass chinesische Behörden über in der Türkei eingesetzte Fahrzeugtechnologien Zugriff auf sicherheits­politisch oder militärisch sensible Daten erhalten, ließe sich nicht ausschließen.

Spionage: Digital vernetzte Fahrzeuge verfügen dank Mikrofonen, Kameras und Sensoren über Möglichkeiten der verdeckten Informationsgewinnung. Sie können Aufenthaltsorte, Bewegungsprofile und sogar Gespräche erfassen – und verlieren damit ihre Funktion als geschützte Räume für sensible Kommunikation, etwa im ge­schäftlichen, politischen oder diplomatischen Kontext. Bei einer engen technologischen Zusammenarbeit mit China besteht das Risiko, dass diese Infrastruktur für staatlich gesteuerte Ausspähmaßnahmen genutzt wird. Der Einsatz chinesischer Fahrzeugtechnologien in der Türkei würde nicht nur die nationale Sicherheit gefährden. Sollten chinesische Akteure über solche Systeme Zugriff auf sicherheitsrelevante Informationen erlangen, hätte dies weitreichende Konsequenzen für die Nato, die EU oder die USA.

Sabotage: Die Fernsteuerbarkeit moderner Elektrofahrzeuge ermöglicht digitale Sabotage. Cyberangriffe könnten gezielt den gleichzeitigen Ausfall zahlreicher Fahr­zeuge in urbanen Räumen herbeiführen – mit gravierenden Folgen für Verkehrsfluss, Rettungsdienste und Sicherheitsbehörden. Besonders kritisch wären Angriffe auf die Energieinfrastruktur: Werden Ladevorgänge bei Tausenden Fahrzeugen koordiniert gestartet oder unterbrochen, kann das Netz­instabilitäten verursachen. Gefährdungen entstehen auch durch bidirektionales Laden, bei dem Fahrzeuge Strom ins Netz zurück­speisen; dies wäre ein potenzielles Einfalls­tor, um die Stromversorgung und andere kritische Infrastrukturen zu destabilisieren.

Dass solche Sabotagepotenziale als stra­tegisches Druckmittel eingesetzt werden, liegt im Bereich des Möglichen. Peking würde in die Lage versetzt, über technische Zugriffspunkte politischen oder wirtschaftlichen Einfluss auf Ankara auszuüben, etwa in multilateralen Gremien oder sicherheitspolitischen Entscheidungsprozessen. Diese Risiken betreffen nicht nur die nationale Sicherheit der Türkei, sondern haben dar­über hinaus strategische Implikationen für die Nato als Organisation und die Nato-Partnerstaaten der Türkei.

Perspektiven und Handlungs-optionen für Deutschland

Die Neuausrichtung der türkischen Auto­mobilindustrie ist keine isolierte, rein wirtschaftliche Strategie. Sie ist eingebettet in einen energiepolitischen und technologischen Transformationsprozess sowie in eine komplexe weltpolitische Konstellation, in der sich zunehmend eine geopolitische und geoökonomische Logik durchsetzt.

Die Digitalisierung, Dekarbonisierung und Autonomisierung der Mobilität ist eng mit sicherheitsrelevanten Technologien verknüpft und bedarf einer rechtlichen Regulierung. In diesem Kontext rückt die Automobilindustrie verstärkt in den Fokus sicherheitspolitischer Überlegungen. Die sicherheitspolitischen Implikationen einer vertieften Zusammenarbeit zwischen der Türkei und China müssen im Rahmen von EU-Investitionsscreenings stärker berücksichtigt werden. Dies wiederum erfordert eine intelligente Verzahnung von Industrie- und Sicherheitspolitik.

Die türkische Industriepolitik im Allgemeinen und die Neuausrichtung der Auto­mobilindustrie im Besonderen folgen so­wohl geopolitischen als auch geoökonomischen Logiken. Das Abkommen mit BYD zur Errichtung einer Produktionsstätte in der Türkei entspringt demselben strategischen Kalkül wie der Erwerb des russischen S‑400-Raketenabwehrsystems und die Ko­operation mit Rosatom beim Bau des ersten türkischen Kernkraftwerks: In allen Fällen geht es darum, Kooperationsoptionen in Technologie, Wirtschaft und geopolitischen Fragen zu diversifizieren.

Gleichzeitig verfolgt Ankara eine indus­triepolitische Strategie, mit der die Türkei eine Schlüsselrolle in der europäischen Elektromobilitätsarchitektur anstrebt. Das Land möchte sich als regionaler Produktions­standort und Transportkorridor zwischen Europa, Asien und Afrika etablieren und wirbt dabei aktiv um chinesisches Kapital und chinesisches technologisches Know-how.

Für deutsche Automobilhersteller fungiert die Türkei einerseits als Produktionsstandort, andererseits als Absatzmarkt. Türkische Zulieferer sind ein wesentlicher Bestandteil deutscher Lieferketten. Deutsche Entscheidungsträger und Autohersteller sollten daher die Entwicklungen im türki­schen Automobilsektor aufmerksam be­obachten, zumal der deutsche Automobilsektor mit ähnlichen Herausforderungen konfrontiert ist wie der türkische und ver­gleichbare Strategien verfolgt, um seine internationale Wettbewerbsfähigkeit zu stärken:

Erstens befindet sich der deutsche Auto­mobilsektor in einem tiefgreifenden Wan­del. Technologische Umbrüche belasten die Branche, vor allem weil Fortschritte in der Elektromobilität nur langsam vonstattengehen, Lieferketten unterbrochen werden und technologische Rückstände aufzuholen sind. Zweitens steht die deutsche Auto­industrie unter erheblichem Wettbewerbsdruck. Chinesische Hersteller wie BYD bieten technologisch fortschrittliche und kostengünstige Elektrofahrzeuge an und expandieren aggressiv nach Europa. Deut­sche Automobilmarken verlieren Markt­anteile und müssen darum kämpfen, ihre Positionen in Europa, Nordamerika und China zu behaupten. Obwohl die USA ihre Importzölle auf Autos aus der EU vorläufig gesenkt haben, besteht weiterhin das Risiko einer handelspolitischen Eskalation. Und drittens zwingen EU-Strafzölle chinesische Hersteller dazu, ihre Produktion in den europäischen Binnenmarkt zu verlagern, auch in die Türkei, um von dort aus in die EU zu exportieren.

Angesichts dieser Herausforderungen erscheint es für die deutsche Automobil­industrie zweckdienlich, die Kooperation mit der türkischen Autoindustrie auszubauen. Dies wäre für Letztere ebenfalls attraktiv: aufgrund der Notwendigkeit, ver­stärkt in Forschung, Entwicklung und Pro­duktion von Elektrofahrzeugen, in auto­nome Mobilität, Digitalisierung und ver­netzte Systeme zu investieren. Über die dafür benötigten finanziellen Ressourcen verfügen die türkischen Unternehmen nämlich nicht in ausreichendem Maße.

Die Bundesregierung könnte den Weg für eine vertiefte deutsch-türkische Koope­ration ebnen. Zum Beispiel könnte sie institutionelle Hürden beseitigen, Visa­erleichterungen für türkische Staatsangehörige und Unternehmer schaffen sowie – auf EU-Ebene – sich für eine Modernisierung der Zollunion einsetzen. Die Moder­nisierung des Zollunionsabkommens er­öffnet zugleich die Möglichkeit, Regelungslücken zu schließen, um eine missbräuch­liche Nutzung der Türkei als Transitplatt­form für chinesische Elektrofahrzeuge in die EU zu verhindern.

Noch stärker als die Bundesregierung ist jedoch der Privatsektor gefordert, durch konstruktive und langfristig ausgerichtete Kooperationen zur Stabilisierung der bilate­ralen Wirtschaftsbeziehungen in der Auto­mobilbranche beizutragen.

Dr. Yaşar Aydın ist Wissenschaftler am Centrum für angewandte Türkeistudien (CATS) an der SWP.

Das Centrum für angewandte Türkeistudien (CATS) wird gefördert durch die Stiftung Mercator und das Auswärtige Amt.

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