Frankreichs Präsident Emmanuel Macron will 2022 wiedergewählt werden. Angesichts der Verdrossenheit der Bürgerinnen und Bürger über die politische wie gesellschaftliche Ordnung ihres Landes und der Folgen der Corona-Pandemie sieht sich der Präsident gezwungen, einen »neuen Weg« einzuschlagen. Dieser hat drei Komponenten: die Abkehr von der Politik der Haushaltskonsolidierung, eine politische Verortung im liberal-konservativen Spektrum und mehr Bürgernähe. Erhält Macron auch mittelfristig Unterstützung von der EU, um die Folgen von Covid-19 für Frankreichs Wirtschaft und Sozialsystem abzufedern, sollte es ihm gelingen, die Reformkräfte im eigenen Land zu stärken und Frankreich zu europapolitischen Kompromissen zu befähigen.
Im Mai 2017 wurde Emmanuel Macron in den Elysée-Palast gewählt, weil er versprochen hatte, Frankreich zu transformieren und zu versöhnen. Drei Jahre später steht der Präsident mit dem Rücken zur Wand. Die im Eiltempo und gegen den Widerstand der Bevölkerung durchgesetzten Reformen erzielten zwar erste Erfolge: Zu Beginn des Jahres war die Arbeitslosenquote mit 7,8% (2,3 Millionen Arbeitslose) auf den tiefsten Stand seit Ausbruch der Finanz- und Schuldenkrise 2008/2009 gesunken; auch der Anstieg der Staatsverschuldung konnte gestoppt werden. Präsident Macron ist es indes nicht gelungen, die Bevölkerung von seiner Politik zu überzeugen. Seit seiner Wahl begleiten ihn Proteste und schlechte Umfragewerte. Nach dem Aufstand der Gelbwesten und dem Streik der Bediensteten der französischen Staatsbahn SNCF legte ein Generalstreik gegen die geplante Rentenreform Frankreich im Winter 2019/ 2020 über Wochen lahm.
In der Corona-Krise waren lediglich 29% der Französinnen und Franzosen mit dem anfänglichen Krisenmanagement ihres Präsidenten zufrieden. Ende Juni wurde Macron regelrecht abgestraft: Bei den Kommunalwahlen erhielt die Präsidentenpartei La République en Marche (LREM) in nahezu keiner der 35 000 Kommunen den Bürgermeisterposten. Mit seinem Politikverständnis und seinem Führungsstil hat es Macron schließlich auch nicht vermocht, die Bevölkerung mit ihrer politischen Elite zu versöhnen. Drei Viertel der Französinnen und Franzosen empfinden die gesellschaftliche Ordnung ihres Landes als »ungerecht«. Für 79% ist die Politik mit negativen Assoziationen verbunden. 85% sind der Meinung, in Frankreich kümmere sich die Politik nicht um ihre Anliegen. So gehen denn auch immer weniger Menschen zur Wahl. Bei den Präsidentschaftswahlen stieg zwischen 2007 und 2017 der Anteil der Nichtwähler von 16% auf 25,4% (2017 gaben erstmals 11,5% einen leeren oder ungültigen Stimmzettel ab). Den Parlamentswahlen waren 2007 40% der Wählerinnen und Wähler ferngeblieben, 2017 waren es 57,4%. Und an den Kommunalwahlen Ende Juni 2020 nahmen 60% der Wahlberechtigten nicht teil.
Ein neuer Weg
Anfang Juli 2020 reagierte Emmanuel Macron auf diese Entwicklungen. Er bildete seine Regierung um und versprach der Bevölkerung einen »neuen Weg«. Damit will er seine Wiederwahl im Frühjahr 2022 sichern und gleichzeitig die Bedingungen für eine Transformation des Landes bewahren.
Starker Staat statt Reformen
In seiner ersten Regierungserklärung versuchte Frankreichs neuer Premierminister Jean Castex am 15. Juli 2020 aufzuzeigen, wie sich Frankeich »von einer der schwersten gesundheitlichen Krisen« erholen könne, »die es jemals erfuhr«: Ein drastischer Anstieg der Arbeitslosigkeit solle verhindert und die Wirtschaft modernisiert aus der Krise herausgeführt werden.
Frankreich gehört zu den Ländern, die am stärksten von der Pandemie betroffen sind. Bis Ende August 2020 verstarben mehr als 30 500 Menschen an Covid-19. Der im Vergleich zu den anderen EU-Staaten härteste Lockdown verhinderte zwar, dass sich das Virus übermäßig ausbreiten konnte. Gegenwärtig steigt die Zahl der Neuinfektionen aber wieder deutlich. Die im Frühjahr 2020 für 55 Tage (vom 16. März bis 11. Mai 2020) verhängte Ausgangs- und Kontaktsperre ließ die französische Wirtschaft drastisch einbrechen. Im zweiten Quartal 2020 lag die Wirtschaftsleistung des Landes mit einem Minus von 13,8% gegenüber dem Vorquartal sogar unter dem Durchschnitt des Euroraums (‑12,1%). Für den Herbst rechnet die Regierung mit einem Anstieg der Firmeninsolvenzen um 20%: 60 000 Unternehmen stehen vor dem Aus. Die Folgen für den Arbeitsmarkt sind dramatisch: Im April befanden sich 10,8 Millionen Menschen – fast ein Drittel der 30,455 Millionen Erwerbstätigen (Zahl von 2019) – in Kurzarbeit. Im September drängen 800 000 Schulabgänger auf den Arbeitsmarkt – zumeist ohne Perspektive. Bis zum Frühjahr 2021, so schätzt die Regierung, werden etwa 1 Million Arbeitsplätze verlorengehen. Die Arbeitslosenquote wird im kommenden Jahr auf 11,5% steigen.
Mit aller Macht sucht die Regierung in Paris die wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Pandemie einzuhegen. Unter Premierminister Edouard Philippe stellte sie Beschäftigten, Selbständigen und Unternehmen 463 Milliarden Euro als Unterstützung zur Verfügung, davon 58 Milliarden Euro haushaltswirksame Mittel und 401 Milliarden als Garantien. Die von Premierminister Castex angekündigten zusätzlichen finanziellen Unterstützungsmittel von knapp 100 Milliarden Euro sollen die Kurzarbeit weiter finanzieren, Lehrstellen schaffen und berufliche Qualifizierungsmaßnahmen fördern. Die Industrie erhält Zuwendungen, um in strategischen Sektoren Fähigkeiten nach Frankreich zurückzuverlegen und die Abhängigkeit vom Ausland zu verringern. Finanziert werden diese Maßnahmen nicht über Steuererhöhungen, sondern mittels EU-Geldern (50,6 Milliarden Euro aus dem EU-Wiederaufbaufonds) und einer »Covid-19-Schuldenaufnahme« des Staates. Letztere wird Frankreichs Staatsdefizit auf den Rekordwert von 2.438,5 Milliarden Euro anwachsen und den Schuldenstand auf über 121% des Bruttoinlandsprodukts steigen lassen. Schließlich hat der Präsident erklärt, die umstrittene Rentenreform nach wie vor umsetzen zu wollen – allerdings machte er dabei erhebliche Zugeständnisse.
Emmanuel Macrons neuer Weg rückt somit den gesellschaftlichen und sozialen Frieden in den Fokus seines Handelns. Einem möglichen sozialen Aufstand will der Präsident mit einer Politik des »starken Staates« begegnen. Dafür ist er bereit, von der Budgetdisziplin abzurücken, die seine Politik drei Jahre lang bestimmt hat.
Konservativer Kurs statt
»Ni gauche – ni droite«
Um sich weitere fünf Jahren im Elysée-Palast zu sichern, kehrt Emmanuel Macron überdies von seiner Politik des politischen »weder links – noch rechts« ab. Mit seinem neuen Weg will er die liberal-konservative Wählerschicht an sich binden. Bislang ist es Macron nicht gelungen, seine politischen Ideen in der Fläche zu verankern. Dass seine Partei beinahe keinen eigenen Bürgermeisterposten erobern konnte, legt dieses Manko offen. Zudem rumort es in der Präsidentenpartei: In der Nationalversammlung verlassen immer mehr Abgeordnete wegen interner Streitigkeiten die Fraktion von LREM.
Bei den Präsidentschaftswahlen 2022 ist Emmanuel Macron – wie 2017 – daher auf Unterstützung anderer angewiesen. Während er diese 2017 sowohl im linken wie im konservativen politischen Spektrum suchte, ist sein neuer Politikansatz klar im liberal-konservativen Segment verortet. Die Ernennung von Jean Castex zum neuen Premierminister und der Austausch von acht Ministerinnen und Ministern sind Ausdruck der Hinwendung zu den gemäßigten Konservativen. Macron reagiert damit auf eine Verschiebung der politischen Kräfteverhältnisse, die vor gut zehn Jahren begonnen hat: Wahlen werden in Frankreich seither in den kleinen und mittelgroßen Städten und im ländlichen Raum gewonnen, nicht in den großen Städten. Seit den 1970er Jahren gibt es keine Abwanderung aus dem ländlichen Raum mehr. Liegen ländliche Gemeinden nahe genug an größeren Zentren, gewinnen sie sogar Bevölkerung hinzu. In diesem Raum hat sich die Wählerschaft der liberal-konservativen Kräfte seit 2008 verdoppelt – zu Lasten der Sozialisten, deren Stimmanteil sich halbiert hat.
Die wichtigste Aufgabe des neuen Premierministers besteht folglich darin, dem Präsidenten dieses Wählerreservoir zuzuführen. Castex stammt aus dem ländlichen Raum und kennt die Probleme kleinerer Städte gut, in denen die Menschen ihre Tradition bewahren wollen.
Bürgerbeteiligung statt Politikverdrossenheit
Nicht zuletzt zielt Präsident Macrons neuer Weg darauf ab, die Unzufriedenheit der Bevölkerung mit der politischen Klasse zu verringern. Diese Unzufriedenheit hat dem bipolaren Parteiensystem ein Ende gesetzt, das dem Land über 40 Jahre lang Stabilität verliehen hat. Sie macht Wahlen immer mehr zu einem Vabanque-Spiel: Im ersten Durchgang der Präsidentschaftswahlen 2017 stimmte gut die Hälfte der Wahlberechtigten für (links- wie rechts-)extreme Positionen. 2020 verhalf die geringe Beteiligung an den Kommunalwahlen der grünen Partei (EELV) zu ihren Erfolgen in Städten mit mehr als 100 000 Einwohnern.
Hier geht der Präsident das größte Risiko ein. Um der Politikverdrossenheit entgegenzuwirken, muss er Macht abgeben. Auf den Protest der Gelbwesten hatte der Staat zunächst mit Verwaltungsreformen reagiert. Über die geographische Verteilung öffentlicher Dienstleistungen – Gesundheitseinrichtungen, Zugang zu digitaler Infrastruktur und öffentlichen Leistungen – wird indes weiter in Paris entschieden. Sie krankt daran, dass die Garantie gleichwertiger Lebensverhältnisse auf eine wenig mobile Gesellschaft und Wirtschaft zugeschnitten ist. Mitte Juni 2020 erklärte Präsident Macron einmal mehr, der Staat brauche eine grundlegende Neuorganisation; nicht alles könne in Paris entschieden werden. Seiner neuen Regierung hat er es nunmehr zur Aufgabe gemacht, die Verlagerung von Kompetenzen mit den regionalen Vertretern auszuhandeln und die öffentliche Verwaltung zu modernisieren.
Im Anschluss an die Proteste der Gelbwesten setzte Macron schließlich auf mehr Bürgerbeteiligung – Versammlungen, aber auch die erweiterte Möglichkeit zu Initiativreferenden. Diesen partizipativen Elementen wurde indes kein verbindlicher und direkter Einfluss auf Entscheidungsprozesse zugestanden. Die geringe Beteiligung an den Kommunalwahlen 2020 scheint Präsident Macron nun bewogen zu haben, den Bürgerkonventen mehr Mitsprache einzuräumen. Am Tag nach diesen Wahlen entschied er, dass die Nationalversammlung 147 der 150 Vorschläge des »Bürgerkonvents für das Klima« in Gesetzesvorhaben überführen solle. Seit dem 4. Oktober 2019 hatten 150 zufällig ausgewählte Bürgerinnen und Bürger Vorschläge für eine »tiefgreifende Veränderung der Gesellschaft« erarbeitet, um dem Klimawandel entgegenzuwirken. Dass diese nun Gesetz werden sollen, ist eine Entscheidung zugunsten der Demokratisierung Frankreichs. Mit diesem Schritt versucht der Präsident aber auch, jenen Wählerinnen und Wählern ein Angebot zu machen, die er jüngst an die Grünen verloren hat. Die grüne Wählerschaft 2020 ist beinahe deckungsgleich mit jener, die 2017 für Macron gestimmt hat. Sie ist städtisch, jung, gebildet, gutverdienend und europafreundlich. Vor allem aber wünscht sie sich ein weltoffeneres Frankreich.
Transformation bleibt Ziel
Geht dieser Plan auf, dürfte Marine Le Pen ins Abseits geraten. Die Stärkung reformorientierter Kräfte würde die Stellungskämpfe zwischen ihr und Macron beenden und Frankeichs gesellschaftliche Aussöhnung und politische Transformation über 2022 hinaus ermöglichen.
Somit wäre Macrons neuer Weg auch gut für Deutschland und die Europäische Union (EU). Um die politischen Extreme in Frankreich auf Abstand zu halten, sah sich Präsident Macron in der Vergangenheit wiederholt gezwungen, das deutsch-französische Verhältnis preiszugeben und Deutschlands EU-Politik ungewöhnlich scharf zu kritisieren. Um den Eindruck zu vermitteln, Frankreichs zähle in der Welt, düpierte er Berlin auch außenpolitisch. Ein größerer innenpolitischer Spielraum für Reformen dürfte Frankreichs Präsidenten in die Mitte Europas zurückbringen. Die Bundesregierung sollte dies fördern, die deutsch-französische Kompromissfindung intensivieren und die EU gemeinsam mit Macron aus ihrer Krise herausführen. Damit würde sie auch dem Schwinden des deutschen Einflusses in Brüssel entgegenwirken.
Dr. Ronja Kempin ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe EU / Europa.
Dominik Rehbaum ist studentischer Mitarbeiter in der Forschungsgruppe EU / Europa.
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doi: 10.18449/2020A67