Ungeachtet politischer Differenzen zwischen Berlin und Ankara verzeichnete der deutsch-türkische Handel 2022 neue Rekordwerte. Von einer Krise für deutsche Unternehmen, die sich in der Türkei betätigen, kann kaum die Rede sein. Gleichwohl stellen sich zahlreiche Herausforderungen, die mit der Hyperinflation, der Währungsabwertung und der fortschreitenden Aushebelung der Rechtsstaatlichkeit in der Türkei zusammenhängen. Der Bundesregierung stehen verschiedene Optionen offen, die Handelsbeziehungen mit der Türkei zu vertiefen und bisher unausgeschöpfte Kooperationspotenziale künftig besser zu nutzen. Dies kann zur Vertrauensbildung beitragen und eine konstruktive Ausgangslage bilden für Beziehungen jenseits des Transaktionalismus sowie für die Modernisierung der Zollunion zwischen der Europäischen Union (EU) und der Türkei.
Der außerordentlich kurze Arbeitsbesuch des türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan im November 2023 hat das Ausmaß der aktuellen politischen Spannungen zwischen Berlin und Ankara deutlich gemacht. Auch konnte kein Durchbruch erzielt werden bei den Themen Erwerb des Eurofighter-Kampfjets durch die Türkei, Visaerleichterungen für türkische Staatsbürger oder Flüchtlingspakt zwischen der EU und der Türkei. Positiv zu verbuchen war jedoch Erdoğans Plädoyer dafür, die EU-Beitrittsgespräche wieder aufzunehmen und die Zollunion EU–Türkei zu modernisieren. Die Verlautbarungen von Staatspräsident Erdoğan und Bundeskanzler Olaf Scholz haben den Willen und das Interesse offenbart, politisch und wirtschaftlich zusammenzuarbeiten.
Beim Besuch von Bundeswirtschafts- und Klimaschutzminister Robert Habeck in Ankara Ende Oktober 2023, dem ersten eines deutschen Wirtschaftsministers seit Peter Altmaiers Arbeitsvisite 2018, war die erhoffte positive Signalwirkung ausgeblieben. Insbesondere in Fragen der Energiekooperation hatten sich beide Seiten neue Impulse erhofft, Deutschland zum Beispiel beim Import grünen Wasserstoffs aus der Türkei. Die Gespräche mit türkischen Regierungsmitgliedern haben allerdings unterstrichen, dass die Positionen hinsichtlich Menschenrechten, des Verhältnisses zu Israel und der Modernisierung der Zollunion gegensätzlich sind.
Dessen ungeachtet hat sich die bilaterale Wirtschaftskooperation zwischen der Türkei und Deutschland in den vergangenen Jahren rasant erweitert und diversifiziert. Innerhalb der EU ist Deutschland der wichtigste Handelspartner der Türkei (siehe übernächsten Abschnitt, Seite 3f). Türkische Unternehmen mit deutscher Kapitalbeteiligung prägen in der Türkei Sektoren wie den Maschinenbau, die chemische Industrie, Textil und Bekleidung sowie Tourismus. Das bilaterale Abkommen Türkei–Deutschland zur »temporären Anwerbung« von Arbeitskräften besteht nunmehr seit 62 Jahren. Die türkischstämmige Community ist Teil der Migrationsgeschichte Deutschlands, inklusive der Herausbildung türkisch-deutscher Unternehmer und Unternehmen. Viele von ihnen haben später in der Türkei investiert oder dort Unternehmen gegründet.
Trotz dieser positiven Indikatoren haben Investoren aus Deutschland bei ihrem Engagement in der Türkei geopolitische Risikofaktoren zu berücksichtigen. Die Umgehung der Russlandsanktionen der EU durch türkische Unternehmen, etwa im Bereich der Zweitverwertung (dual use) ziviler Ersatzteile für militärische Güter in Russland, stellt für deutsche Firmen ein Risiko dar, zum Beispiel was den länderspezifischen Nachweis von Exportlizenzen oder die transparente Nachverfolgung von Lieferketten angeht. Es kann nicht im Interesse deutscher Investoren sein, mit türkischen Unternehmen in Verbindung gebracht zu werden, die als Transitstationen und Mittelsmänner für sanktionierte Güter nach Russland dienen.
Rahmenbedingungen: Volatile Wirtschaft und Rechtsunsicherheit
Der im November 2023 veröffentlichte Türkei-Bericht der EU-Kommission hält fest, dass es »ernsthafte Bedenken hinsichtlich des ordnungsgemäßen Funktionierens der türkischen Marktwirtschaft« gebe. Zwei Entwicklungen stehen dabei im Vordergrund, die deutsche Unternehmen und Investoren seit Jahren vor sogenannte Corporate-Governance-Herausforderungen stellen: Zum einen erschweren die dramatische Abwertung der türkischen Lira und die anhaltend hohe Inflation das tägliche operative Geschäft der Unternehmen sowie das ihrer Geschäftspartner in der Türkei. Die türkische Währung TL hat von Mai bis Ende November 2023 gegenüber dem US-Dollar massiv an Wert verloren – von 20,6 TL auf 28,85 TL (23.11.2023). Die jährliche Inflation lag nach Angaben des türkischen Statistikinstituts TÜİK im November 2023 bei 61,98 Prozent. Wöchentliche Anpassungen der Preise für Waren und Dienstleistungen sind Risikofaktoren. Sie machen es nötig, ständig Strategien zu mobilisieren, um die unternehmerische Resilienz zu stärken, beispielsweise durch kompensierende Leistungen bei der Vergütung von Angestellten.
Zum anderen ist die politische Volatilität zu nennen, das heißt die repressiven Entwicklungen der türkischen Innenpolitik. Deutsche Unternehmen, die häufig seit Jahrzehnten in der Türkei investieren, sehen sich mit einem Geflecht von institutionellen Defiziten und Demokratieabbau konfrontiert, das sie in ihrem Alltagshandeln nicht ignorieren können. Dazu gehören die Skepsis über die Unabhängigkeit der türkischen Zentralbank, die öffentlich artikulierten Zweifel an der Informationspolitik der Statistikbehörde und des Rechnungshofs, die Politisierung der Gerichtsbarkeit sowie die Restriktionen in der Medienlandschaft.
Durch die Wiederwahl von Präsident Recep Tayyip Erdoğan im Mai 2023 ist der politische Rahmen für die kommenden fünf Jahre abgesteckt. Dagegen bleibt abzuwarten, inwiefern die Wirtschafts- und Finanzpolitik der neuen Regierung in Ankara einen substanziellen Richtungswechsel bewerkstelligen kann. Erste Kurskorrekturen sind zu erkennen: die seit Juni 2023 unter der neuen Zentralbankgouverneurin Hafize Gaye Erkan erfolgten Zinserhöhungen, Finanzminister Mehmet Şimşeks Rückkehr zu einer »rationalen« Wirtschaftspolitik, die Priorisierung der Geldwertstabilität, der Verzicht auf Interventionen in den Wechselkurs der türkischen Lira und schließlich die Ankündigung, währungsgeschützte Spareinlagen zu beenden (siehe SWP-Aktuell 48/2023). Indes ist keineswegs ausgemacht, dass Staatspräsident Erdoğan die Fortsetzung dieser Entwicklungen im Vorfeld der Kommunalwahlen Ende März 2024 politisch weiterhin stützt.
Für unternehmerisches Handeln werden damit Anpassungen notwendig. Deutsche Unternehmen in der Türkei ebenso wie türkische Unternehmen mit Kundenbeziehungen in Deutschland müssen in ihrer Personal- und Vergütungspolitik auf die Volatilität der Inflations- und Währungsentwicklung reagieren. Außerdem stehen sie vor der Herausforderung, monatlich die Preise anpassen zu müssen. Der institutionelle Handlungsrahmen sowie zukünftige Entscheidungen über Investitionen werden für beide Seiten schwieriger.
Türkische Unternehmen machen zudem darauf aufmerksam, dass sie gezwungen sind, sich mit wachsenden bürokratischen Hürden auseinanderzusetzen, wenn sie ihre Handelsbeziehungen mit Deutschland ausweiten wollen. Ein Problem ist, dass die Erteilung von Visa für Vertreter türkischer Firmen oder Unternehmerverbände (zu) lange dauert. Das gilt ebenso für wissenschaftliches Personal, das zwecks Austausch nach Deutschland reisen möchte. Das Außenministerium in Ankara beklagt, dass die Rate der abgelehnten Visaanträge türkischer Staatsangehöriger für Deutschland steigt. Im Jahr 2022 hat Deutschland insgesamt 214.944 Visaanträge aus der Türkei genehmigt. Dagegen sind die Angaben der Bundesregierung über die Zahl der abgelehnten Visaanträge aus der Türkei nicht öffentlich zugänglich.
Die Kontroversen zwischen Berlin und Ankara um die Ausstellung bzw. Ablehnung von Schengen-Visa für Personen aus der Türkei belasten das bilaterale Verhältnis. Hinzu kommen Migrationsdebatten, die sich auch auf die wachsende Zahl türkischer Asylbewerber in Deutschland beziehen. Im Laufe des Jahres 2023 bildeten Menschen aus der Türkei hierzulande die zweitgrößte Gruppe der Asylbewerber (nach Menschen aus Syrien). Die Mehrheit der türkischen Asylbewerber ist unter 25 Jahre alt. Trotz geringer Anerkennungsquote – derzeit liegt sie bei 13,6 Prozent – verlassen gut ausgebildete Menschen die Türkei, sei es aus politischen Gründen, aufgrund der wirtschaftlichen Herausforderungen des Landes oder weil sie von dem verheerenden Erdbeben im Februar 2023 betroffen waren.
Zusammengefasst heißt das, dass die deutsche Visapolitik, die Kritik daran in der Türkei sowie die steigende Zahl türkischer Asylbewerber in Deutschland sich mittelbar auf die deutsch-türkische Wirtschaftskooperation auswirken.
Bilateraler Handel, Investitionen und Tourismus
Trotz wirtschaftspolitischer Herausforderungen und politischer Differenzen zwischen Ankara und Berlin steigt das bilaterale Handelsvolumen. Es erreichte im Jahr 2022 mit insgesamt 51,6 Milliarden Euro einen Rekordwert. Die türkischen Exporte nach Deutschland beliefen sich auf 24,6 Milliarden Euro, eine Steigerung gegenüber dem Vorjahr um ein Viertel. Das Volumen der türkischen Importe aus Deutschland betrug 27 Milliarden Euro, ein Zuwachs um ein Drittel. Die Tendenz beider Indikatoren für 2023–24: steigend.
Deutschland ist mit einem Anteil von 8,3 Prozent an den Gesamtexporten der Türkei der größte Exportpartner des Landes sowie nach Russland und China sein drittgrößter Importpartner. Einen bedeutenden Anteil an den türkischen Wareneinfuhren aus Deutschland haben Kraftfahrzeuge und Zulieferteile für die Automobilindustrie, Maschinen sowie chemische Erzeugnisse. Zu den türkischen Exportgütern nach Deutschland gehören vor allem Textilien, Lederartikel und Kraftfahrzeuge, zunehmend aber auch Nahrungsmittel und Maschinen.
Die Türkei zieht aus Deutschland Direktinvestitionen in Milliardenhöhe an. Das Investitionsvolumen seit 1980 beläuft sich auf rund 16 Milliarden US-Dollar. Derzeit sind über 8.100 Betriebe mit deutscher Beteiligung bzw. türkische Unternehmen mit deutschem Kapitalanteil in der Türkei aktiv. Sie beschäftigen mehr als 100.000 Menschen in der Türkei. Ein Großteil der Investitionen sind langfristige Neuinvestitionen, durch die Hunderttausende Arbeitsplätze geschaffen werden.
Deutschland steht auch bei der Zahl der Patentanmeldungen in der Türkei mit insgesamt 1.831 im Jahr 2021 an erster Stelle vor den USA mit 1.586 und Italien mit 613. Zudem sind zahlreiche türkische Unternehmen in deutschen Wertschöpfungs- und Lieferketten stark eingebunden.
Etliche Faktoren machen die Türkei zu einem attraktiven Wirtschaftspartner für Deutschland und einem beliebten Standort für deutsche Unternehmer: Für das Land sprechen die geografische Lage – an der Schnittstelle von Europa, Asien und Afrika sowie von Land- und Seetransportrouten –, eine 84 Millionen Menschen umfassende, junge Bevölkerung und hohe Kaufkraft. Ferner bietet die türkische Wirtschaft deutschen Firmen eine moderne Verkehrsinfrastruktur, eine leistungsfähige Logistik und einen dynamischen, leistungs- und wettbewerbsfähigen Privatsektor sowie makroökonomische Wachstumschancen.
Mercedes-Benz, MAN und Krone stellen in der Türkei LKWs, Busse und Trailer her und exportieren diese weltweit. Die Bosch- Gruppe, Siemens, Henkel und die Nordex Group sind ebenfalls in der Türkei aktiv. Auch für deutsche Textilunternehmer und Bekleidungshersteller ist die Türkei ein interessanter Standort; Hugo Boss, s.Oliver und Esprit lassen dort produzieren. Im Jahr 2022 verzeichnete die türkische Bekleidungsindustrie einen Export im Wert von 21,2 Milliarden US-Dollar. Mit Waren im Wert von 3,6 Milliarden US-Dollar wurde am meisten nach Deutschland exportiert.
Eine signifikante Rolle spielt darüber hinaus der Tourismus. 2022 besuchten 5,7 Millionen deutsche Touristen die Türkei, was einen Anstieg von über 84 Prozent gegenüber dem Corona-Jahr 2021 und einen neuen Rekordwert bedeutet. Dies entspricht einem Anteil von mehr als 12,7 Prozent aller Touristen, die 2022 in die Türkei reisten.
Transnationale Verflechtungen enthalten ein enormes Potenzial für die Wirtschaftskooperation. Seit mehr als 60 Jahren sind Deutschland und die Türkei transnational verbunden: durch Massenmigration, eine rund 3 Millionen starke türkische Community in Deutschland sowie mehrere Millionen Menschen in beiden Ländern mit Deutschland- bzw. Türkeibezug. Damit steht ein großes Reservoir an Arbeitskräften für deutsch-türkische Unternehmungen in der Türkei wie in Deutschland bereit. Weitere Möglichkeiten eröffnen sich im Bereich der Ausbildung und Anwerbung von medizinischen und Pflegefachkräften, was es – angesichts des Fachkräftebedarfs in Deutschland – im Falle einer Neuauflage des EU-Türkei-Flüchtlingsabkommens von 2016 zu berücksichtigen gilt.
Deutsch-türkische Kooperationsformate
Deutsche und türkische Unternehmen haben in den vergangenen Jahren unterschiedliche institutionelle Kooperationsformate geschaffen. Diese Plattformen der bilateralen Zusammenarbeit sollen das Spektrum der gegenseitigen Handels- und Investitionsbeziehungen erweitern.
Die Deutsch-Türkische Joint Economic and Trade Commission (JETCO) wurde 2013 als branchenübergreifende Plattform ins Leben gerufen. Sie zielt auf die Stärkung der bilateralen Zusammenarbeit, vor allem in den Bereichen Handel, industrielle Kooperation, Tourismus und Infrastruktur. Ihre Basis sind die Entwicklung und Umsetzung bilateraler Projekte. Im Rahmen dieses Kooperationsformats findet jährlich eine Sitzung statt, zuletzt im Oktober 2023 anlässlich des Besuchs von Wirtschafts- und Klimaschutzminister Habeck in Ankara.
Beispielhaft für die Projektkooperation ist das 2012 gegründete Deutsch-Türkische Energieforum. Das Forum ist die zentrale Plattform für den energiepolitischen Austausch von Regierungen und Unternehmen beider Länder. Deutschland unterstützt die Türkei bei Klimaprojekten mit einem ungebundenen Finanzkredit in Höhe von 220 Millionen Euro im Rahmen der Investitionskostenzuschüsse aus der Internationalen Klimaschutzinitiative (IKI). Die Umsetzung dieser Kreditlinien erfolgt über die Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) in Zusammenarbeit mit zwei türkischen Entwicklungsbanken. Das Deutsch-Türkische Energieforum befasst sich mit den Themen erneuerbare Energien, Energieeffizienz, Stromverteilung und Übertragungsnetze.
Des Weiteren verfügt die Türkei über enormes Potenzial für die Produktion von grünem Wasserstoff aus erneuerbaren Energien und ist zudem ein wachsender Markt für Technologien zur Nutzung derselben. Daher gilt es, die Türkei auf ihrem Weg zur Klimaneutralität zu unterstützen. Die institutionelle Kooperation wird hier ergänzt durch den Beitrag der Deutschen Energie-Agentur (DENA). Diese berät deutsche Unternehmen, wie ein effektiver Markteintritt in der Türkei gelingen kann, zum Beispiel im Bereich landwirtschaftlicher Biogasanlagen oder oberflächennaher Geothermie.
Schließlich ist die Türkisch-Deutsche Industrie- und Handelskammer (TD-IHK) mit rund 1.000 Mitgliedern hervorzuheben. Auf Grundlage eines Protokolls zwischen den beiden Dachverbänden, der Türkischen Kammern- und Börsenunion (TOBB) und dem Deutschen Industrie- und Handelskammertag (DIHK), wurde die TD-IHK 2003 gegründet. Sie versteht sich als Ansprechpartner und Vermittler für private Unternehmen, staatliche Institutionen sowie Vereinigungen der Zivilgesellschaft und gibt Auskunft zu allen wirtschaftlichen Belangen zwischen Deutschland und der Türkei.
Kooperation nach dem Erdbeben
Nach der Erdbebenkatastrophe vom Februar 2023 in der Türkei steht die bilaterale Wirtschaftskooperation vor neuen Herausforderungen und Handlungsoptionen. Wie die deutsche (und europäische) Privatwirtschaft sich am Wiederaufbau in den Erdbebengebieten beteiligen kann, wurde auf einer deutsch-türkischen Konferenz in Berlin im Juli 2023 diskutiert. Organisiert wurde die Konferenz mit dem Titel »Die Rolle des europäischen Privatsektors bei der (Re-)Aktivierung der Wirtschaft in den vom Erdbeben betroffenen Regionen« von den Wirtschaftskammern beider Länder. Teilgenommen haben Vertreter der DIHK, der TOBB und der TD-IHK.
Schätzungen der Vereinten Nationen und von türkischer Seite beziffern die Kosten für den Wiederaufbau auf bis zu 150 Milliarden US-Dollar in den kommenden fünf Jahren. Deutsche Unternehmen in der Türkei beteiligten sich nach dem Erdbeben an Hilfseinsätzen, Spendeninitiativen und Fördermaßnahmen für die Unterbringung von Menschen, die ihre Häuser verloren hatten. In den Katastrophengebieten selbst sind zahlreiche deutsch-türkische Unternehmen ansässig, die vor allem in der Industrie und der Tourismuswirtschaft tätig sind. Es handelt sich überwiegend um Klein- und Mittelbetriebe, deren Personalstruktur durch türkische Beschäftigte mit deutschen Wurzeln geprägt ist. Der Schwerpunkt der bilateralen Zusammenarbeit im Erdbebengebiet liegt nun auf dem energieeffizienten Wiederaufbau von Infrastruktur und Wohnraum.
Geostrategische Aspekte bilateraler Wirtschaftskooperation
Geostrategische Aspekte werden für deutsche Unternehmen bei der Bewertung des wirtschaftlichen Potenzials der Türkei zunehmend wichtiger. Dies zeigt sich insbesondere bei der Einbindung der Türkei in den europäischen Energiemarkt. Die geografische Lage macht das Land zu einer prädestinierten Energiedrehscheibe für ganz Europa. Beispielsweise ist die Türkei Teil des Südlichen Gaskorridors, der neben den existierenden Pipelines mehrere Projekte umfasst, die Flüssiggas vom Kaspischen Meer nach Europa bringen sollen. Die Türkei ist dabei zentrales Transitland. Die im Juli 2022 zwischen der EU und Aserbaidschan geschlossene Vereinbarung zur Verdopplung der Gaslieferungen bis 2027 kann nur in diesem Umfang funktionieren, wenn Baku und Brüssel mit Ankara zu entsprechenden Transitvereinbarungen kommen.
Betrachtet man internationale Wertschöpfungsketten, bei denen aus europäischer Sicht das De-Risking im Russland- und Chinageschäft eine wachsende Rolle spielt, wird ein weiterer geostrategischer Aspekt deutlich: Türkische Regierungsvertreter und Repräsentanten der Wirtschaft haben wiederholt damit geworben, dass Produktionsverlagerungen aus den genannten Ländern in die Türkei höchst willkommen sind. Standortvorteile wie Infrastruktur, eine innovative Industriebasis und die Vielfalt logistischer Optionen für den Handel mit Europa sind Teil einer Erzählung, die das neue industriepolitische Selbstverständnis der Türkei artikulieren.
Die geopolitischen Stichworte dazu lauten »Nearshoring« und »Mittlerer Korridor«. Aufgrund der umfassenden Modernisierung der Transportinfrastruktur hat sich die Türkei schrittweise zu einem logistischen Knotenpunkt zwischen Europa, Asien und Afrika entwickelt. Die Metapher vom »Korridor« mit Scharnierfunktion zwischen Ost und West, Nord und Süd ist bei diesem Projekt das prägende Narrativ.
Eine weitere geostrategische bzw. geoökonomische Besonderheit der Türkei – neben ihrer Nähe zu den Energie- und Rohstoffquellen – ergibt sich aus ihrer Sprungbrettposition im Hinblick auf bedeutende Emerging Markets in Vorderasien und Nordafrika. Geschichte und eine gemeinsame Kultur und Tradition sind dabei wichtige Assets der Türkei. Die geplante Erweiterung der BRICS-Gruppe (bestehend aus Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika) um voraussichtlich fünf Staaten zum 1. Januar 2024 hat für die türkische Politik ebenso wie für unternehmerisches Handeln strategische Konsequenzen. Aus der Sicht Ankaras verändert sich die geopolitische Landkarte erheblich durch die fünf beitretenden Länder Saudi-Arabien, Vereinigte Arabische Emirate, Ägypten, Äthiopien und Iran. BRICS+ dürfte künftig noch stärker als institutionelle Repräsentanz des »Globalen Südens« auftreten und die zunehmende Konkurrenz zur G7 hervorheben.
Für die Türkei entstehen durch BRICS+ neue politische Interaktionsmöglichkeiten und weiterer Anschluss an Wirtschaftsräume. Präsident Erdoğans Reisediplomatie der vergangenen Monate unterstreicht diese Zielsetzung. 2021 erreichte das türkische Handelsvolumen mit BRICS-Ländern insgesamt 86,7 Milliarden US-Dollar. Es ist im Interesse türkischer Unternehmen, von der Erweiterung der Staatengruppe zeitnah zu profitieren, indem sie neue Handelspartner gewinnen.
Ausblick
Für die Mehrheit der deutschen Unternehmen, die seit Jahren in der Türkei tätig sind, bleiben der volatile Wechselkurs und die hohe Inflation zwei der größten Risikofaktoren für ihre geschäftlichen Aktivitäten. Beide Faktoren stellen einen ständigen Stresstest für unternehmerische Kooperation zwischen den beiden Ländern dar. Darüber hinaus bilden die wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen eine weitere Herausforderung. Zuletzt sorgten auch türkische Boykottaufrufe gegen ausländische Unternehmen, die in Israel aktiv sind, für Irritationen.
Deutsche Unternehmen, die in der Türkei investieren, betonen gleichwohl, dass es irreführend ist, wenn der Türkei in deutschen Medien eine tiefe Wirtschaftskrise zugeschrieben wird. Angesichts vierteljährlicher Wachstumsraten, die im zweiten Quartal 2023 insgesamt 3,8 Prozent erreichten, kann von einer Rezession faktisch nicht die Rede sein. Die ökonomischen Risikofaktoren in der Türkei betreffen die zukünftige Finanz- und Fiskalpolitik und sind somit einigermaßen berechenbar; allerdings ist nicht auszuschließen, dass der volatile Wechselkurs und die hohe Inflation sich auf die Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft auswirken werden. Für den Privatsektor könnte es zum Beispiel schwieriger werden, Kredite zu bekommen, ausländische Direktinvestitionen könnten sinken und ein Facharbeitermangel entstehen, wenn immer mehr Fachkräfte die Türkei verlassen.
Die deutsch-türkische Wirtschaftskooperation hat sich ebenso auf geopolitische Entwicklungen einzustellen. Staatspräsident Erdoğan hat die Abhängigkeit der Türkei von russischem Öl und Gas kontinuierlich erhöht und es zurückgewiesen, die von der EU gegen Russland wegen des Ukraine-Kriegs verhängten Sanktionen zu befolgen. Mit dem öffentlich artikulierten Interesse an einem Beitritt der Türkei zu BRICS+ und wiederkehrenden Spekulationen über den Status der Türkei in der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) – seit 2012 ist sie Dialogpartner – wird ein außenpolitischer Richtungswechsel angedeutet, den deutsche Unternehmen in der Türkei strategisch berücksichtigen müssen.
Deutschland bleibt innerhalb der EU für die Türkei der größte Absatzmarkt. Das Rekordjahr 2022 im bilateralen Handel unterstreicht, dass Lieferketten und Logistiknetzwerke nach der Covid-19-Pandemie wieder funktionieren. Ebenso zeichnet sich ab, dass künftig weitere Produkte exportiert werden: Das Ziel der Türkei, sich als regionaler Energiehub zu positionieren und zum Exporteur von grünem Wasserstoff nach Deutschland zu werden, trifft in Deutschland auf großes Interesse. Jedoch wird die Umsetzung bilateraler unternehmerischer Vorhaben erschwert durch die wachsenden politischen Differenzen zwischen Ankara und Berlin.
Die Überwindung dieser Differenzen wird durch die Absicht der Türkei, den Kampfjet Eurofighter zu erwerben, nicht leichter werden. Hergestellt wird der Kampfjet vom Eurofighter-Typhoon-Konsortium, das Unternehmen aus Deutschland, Großbritannien, Italien und Spanien bilden. In der Bundesrepublik werden die Bauteile Rumpfmittelstück, Triebwerk und Pilotenzelle produziert. Die Genehmigung zum Export des Kampfjets in die Türkei ist von der Zustimmung Berlins abhängig. Eine Verweigerungshaltung seitens der Ampelkoalition würde Deutschland in einen Interessenkonflikt mit dem Konsortium bringen, denn Großbritannien, Italien und Spanien befürworten die Lieferung von Eurofightern an die Türkei, und hätte zudem Entschädigungszahlungen an die anderen Konsortiumsmitglieder zur Folge.
Während die Türkei eine vertiefte Rüstungskooperation mit den Nato-Partnern, insbesondere aber mit Deutschland anstrebt, wäre ein negativer Bescheid aus Berlin ein Anreiz für Ankara, sich nach Alternativen beim Kampfjet umzusehen, etwa in Frankreich, das nicht Mitglied im Eurofighter-Konsortium ist. Überdies würde eine negative Entscheidung weitere politische Dissonanzen zwischen Berlin und Ankara offenlegen und könnte die Wirtschaftskooperation zwischen beiden Ländern belasten, wenn nicht gar eingrenzen.
Sollte die Bundesregierung den Export des Eurofighters in die Türkei verhindern, hätte das nicht zuletzt geostrategische Konsequenzen – es würde den Zusammenhalt der Nato defizitär erscheinen lassen und die geopolitisch-militärische Position der Türkei gegenüber Russland und dem Iran schwächen. Gleichwohl bietet der Berliner Entscheidungsprozess auch einen strategischen Hebel, die politischen Transaktionskosten zwischen Ankara und Berlin zu verhandeln. Hier zeigen sich Abhängigkeitsbeziehungen im Rüstungswesen, welche Berlin nutzen sollte, um im Dialog mit Ankara Folgendes zu thematisieren: zum einen die Beteiligung der Türkei an der Sanktionspolitik der EU gegenüber Russland, zum anderen die Entwicklung der Rechtsstaatlichkeit in der Türkei.
Schließlich empfiehlt der Türkei-Bericht der EU-Kommission und des Auswärtigen Dienstes vom 29. November 2023, mit der Türkei Verhandlungen zur Modernisierung der Zollunion aufzunehmen. Diese Empfehlung ist allerdings an Bedingungen geknüpft; unter anderem muss Ankara die Souveränitätsrechte von EU-Mitgliedern respektieren (etwa Zypern) und die Tatsache angehen, dass die EU-Sanktionen gegen Russland auf türkischem Territorium umgangen werden. Indem die Ampelregierung den Dialogprozess zur Modernisierung der Zollunion politisch unterstützt, hat sie einen Ansatz, um auf Ankara einzuwirken. Dies beträfe zum Beispiel die Annäherung der Türkei an die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU. Eine Modernisierung und Erweiterung der Zollunion auf Agrarprodukte und Dienstleistungen (inklusive E‑Commerce) verspricht überdies Handelszuwächse für deutsche und türkische Unternehmen.
Dr. Yaşar Aydın und Dr. Jens Bastian sind Wissenschaftler am Centrum für angewandte Türkeistudien (CATS).
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