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Die deutsche Russlandpolitik festigen

Bestehende Ansätze schärfen und Zielkonflikte verdeutlichen

SWP-Aktuell 2023/A 34, 24.05.2023, 8 Pages

doi:10.18449/2023A34

Research Areas

Mit der »Zeitenwende« in der internationalen Politik geht die Notwendigkeit einher, strategisches Denken zu stärken und sich für künftige Herausforderungen besser zu wappnen. Deutschland tut dies bereits, indem es strategische Dokumente zur natio­nalen Sicherheit und zu den Beziehungen mit China vorbereitet. In Bezug auf Russ­land drängt sich eine ähnliche Vorgehensweise auf: Erstens weil Russlands Aggression gegen die Ukraine die Situation in Europa und darüber hinaus für längere Zeit wesent­lich verschlechtert hat. Zweitens weil die Konzeption einer Russlandpolitik, die auf den seit 2022 deklarierten Leitlinien basiert, eine Möglichkeit bietet, frühere Fehler zu korrigieren und Maßnahmen, die aus einer Krisensituation hervorgegangen sind, in eine langfristige Politik zu verwandeln.

Seit dem 24. Februar 2022 hat Deutschland seine Haltung gegenüber Russland radikal verändert. Die Entscheidung, Waffen an die Ukraine zu liefern, hat gezeigt, dass Berlin von seinen früheren Annahmen über die Ziele und Interessen Russlands sowie über die sicherheitspolitische Rolle Deutschlands grundlegend abgewichen ist. Deutschland hat an harten Sanktionen festgehalten, die meisten Importe nach und Exporte aus Russland (vor allem von fossiler Energie) eingestellt und zahlreiche Formate für den politischen und gesellschaftlichen Dialog mit der Russischen Föderation beendigt. Damit hat es bewiesen, dass es in der Lage ist, auf folgenschwere Ereignisse in seinem Umfeld mit bedeutenden außenpolitischen Veränderungen zu reagieren. Hinzu kommt eine wichtige Neuordnung der Prioritäten: So hat sich Berlin verpflichtet, deutlich mehr Mittel für Sicherheit und Verteidigung auf­zuwenden, und hat seine Energiepolitik völlig neu ausgerichtet.

Diese Maßnahmen wurden primär als Reaktion auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine ergriffen, folgten aber nicht einem umfassenden strategischen An­satz, der sich aus einer Analyse europäischer und internationaler Entwicklungen ergibt. Ein wichtiger nächster Schritt wäre daher, die bereits beschlossenen oder durchgeführ­ten Maßnahmen in eine umfassende Russ­landpolitik einzubinden, die 1) frühere falsche Annahmen über Russland korrigiert, 2) Zielkonflikte zwischen Politikbereichen in Rechnung stellt, 3) eine mittel- bis lang­fristige Perspektive vorsieht und 4) ein Signal nach innen und außen sendet, dass es keine Rückkehr zur früheren deutschen Russlandpolitik geben wird.

In der folgenden Analyse werden insofern auf Basis bestehender Ansätze weiter­gehende Maßnahmen in verschiedenen Bereichen vorgeschlagen, die die Umrisse einer umfassenden Strategie zu markieren versuchen. Dabei können mögliche Ziel­konflikte zwischen den seit 2022 verfolgten Ansätzen und deutschen bzw. EU-Inter­essen auftreten. Auch wenn seit Februar 2022 ein völlig neuer Umgang mit Russland zur Norm geworden ist, wird es nicht ein­fach sein, die derzeit verfolgte Politik in einem dynamischen internationalen Um­feld beizubehalten, zumal manche wirt­schaftlichen und gesellschaftlichen Kräfte in Deutschland den Änderungen der Russ­landpolitik ablehnend gegenüberstehen.

Diese Analyse geht von zwei Annahmen aus: Erstens: Russland wird auf absehbare Zeit ein autoritäres oder gar totalitäres Regime bleiben und eine aggressive Außen­politik verfolgen, unabhängig davon, ob es Wladimir Putin gelingt, an der Macht zu bleiben. Verfestigte Denk- und Handlungs­muster auf der Eliten- sowie der gesellschaft­lichen Ebene in Russland machen es äußerst wahrscheinlich, dass vorherrschende poli­tische Ansätze und Einstellungen fortbeste­hen werden. Zweitens: Russland wird nicht in mehrere Staaten zerfallen, wie es bei der UdSSR 1991 der Fall war. Es mag zwar einige Abspaltungsversuche geben, aber sie werden vermutlich keinen Erfolg haben, können allerdings zusätzliche Instabilität oder gar Chaos verursachen. Sollten wider Erwarten doch neue Staaten entstehen, müsste der hier skizzierte Ansatz entspre­chend angepasst werden.

Sicherheit und Verteidigung: Sich Abschreckung leisten

Der russische Großangriff auf die Ukraine hat gezeigt, dass Putin seine Fähigkeit ver­loren hat, realistisch einzuschätzen, was Moskau bewirken kann. Die russische Füh­rung versucht ihre Ziele primär mit mili­tärischen Mitteln zu erreichen und schert sich nicht um zivile Schäden, Kriegsverbrechen oder Menschenrechtsverletzungen, zu denen es bei Kampfhandlungen kommt. Schließlich sehen große Teile der russischen Elite Russland in einem Krieg mit dem »kollektiven Westen« und nicht nur oder gar hauptsächlich mit der Ukraine.

Es ist daher nicht auszuschließen, dass Russland bereit sein wird, westliche Länder anzugreifen, wenn die russische Führung die Bedingungen als vorteilhaft einschätzt. Da der Krieg in der Ukraine gezeigt hat, dass die russischen Streitkräfte deutlich schwächer sind als bisher angenommen, dürfte ein russischer Angriff nicht unmittel­bar bevorstehen. In mittelfristiger Perspektive sollten sich die westlichen Länder jedoch auf eine solche Eventualität vor­bereiten. Russland ist selbst mit schlecht vorbereiteten und ausgerüsteten Streitkräften in der Lage, enormen Schaden anzurichten. Außerdem sollte die Möglichkeit keineswegs ausgeschlossen werden, dass Moskau taktische Atomwaffen einsetzt.

Militärische Abschreckung muss folglich wesentlicher Bestandteil der sicherheits­politischen Komponente einer Russland­politik sein. Für Deutschland heißt das, die Bundeswehr so weit auszubauen, dass sie (gemeinsam mit Bündnispartnern) das Land im Bedarfsfall glaubwürdig verteidigen kann. Mehr als ein Jahr nach der »Zeitenwende« ist deutlich geworden, dass die bis­lang zugesagten zusätzlichen Mittel nicht ausreichen werden, die Versäumnisse der vergangenen Jahrzehnte wettzumachen und Deutschland wehrhaft für die Zukunft zu machen. Notwendig ist ein komplexer Ansatz, der Folgendes vorsieht: höhere als die derzeit vorgesehenen Verteidigungshaushalte, eine rasche Überarbeitung büro­kratischer Verfahren, klare Botschaften zur Ankurbelung der Produktion in der Rüs­tungsindustrie und die Institutionalisierung wirksamerer Mechanismen für die stra­tegische Planung. Einiges davon hat das Bundesverteidigungsministerium bereits eingeleitet. Diese Maßnahmen sollten in ein übergreifendes Konzept eingebettet werden, das sowohl die bevorstehende nationale Sicherheitsstrategie als auch eine ausformulierte Politik gegenüber Russland beinhaltet. So ließe sich sicherstellen, dass die erforderlichen Mittel eingeplant wer­den. Zugleich würden schwierige Diskus­sionen darüber erzwungen, in welchen Bereichen außerhalb des Sicherheits- und Verteidigungssektors Mittel gekürzt werden müssen, um zu garantieren, dass dieser Sektor angemessen finanziert wird. Möglich wäre aber auch, die gestiegenen Sicherheits­ausgaben durch Steuererhöhungen zu finanzieren.

Die Reform der Bundeswehr erfolgt im Rahmen der europäischen und transatlan­tischen Sicherheitspolitik. Berlin ist bereits sehr engagiert bei der Sicherung der Ost­flanke des Nato-Gebiets, insbesondere in Litauen, wo Deutschland als Rahmennation bei der Nato-Unterstützung für das Land fungiert. Wichtig wird sein, eine nachhaltige Präsenz in Litauen durch die notwendigen Ressourcen für die der Nato versprochene kampfbereite Division zu ergänzen, um mittelfristig einen flexiblen und glaubwürdigen Beitrag zur Abschreckung zu leisten. Angesichts der Tatsache, dass Frank­reich die größte Militärmacht in der EU ist und als einziges EU-Mitglied über eigene Atom­waffen verfügt, wird es wichtig sein, an der Kittung der Risse in den deutsch-französi­schen Sicherheitsbeziehungen zu arbeiten. Eine größere Rolle Deutschlands bei der Wahrung der Sicherheit in der Schwarz­meerregion sollte ebenfalls ins Auge gefasst werden, ob im Rahmen einer ausgeweiteten Präsenz von Nato-Staaten oder durch die Prüfung und gegebenenfalls Unterstützung eines Ausbaus der Donau-Infrastruktur für Sicherheitszwecke. Angesichts der Dimension und des Umfangs der von Russland ausgehenden hybriden Bedrohungen wird es notwendig sein, die Geheimdienste mit weiteren Ressourcen auszustatten und ihre Erkenntnisse ernst zu nehmen.

Die Nato wird wohl bis auf weiteres der wichtigste Sicherheitsrahmen in Europa und im transatlantischen Raum bleiben. Die Fortsetzung der engen militärischen Zusammenarbeit mit den USA und dem Vereinigten Königreich ist daher von essen­tieller Bedeutung. In Anbetracht der Un­sicherheiten im Zusammenhang mit den poli­tischen Entwicklungen in den USA sollte jedoch der Gewährleistung einer grö­ßeren europäischen Autonomie im Sicher­heitsbereich Priorität eingeräumt werden. Russlands Krieg gegen die Ukraine sollte für Deutschland und die EU ein Weckruf sein, das Ausmaß des europäischen Trittbrettfahrens auf Kosten der von den USA gewährten Sicherheitsgarantien erheblich zu verringern. Bislang neigten die EU und ihre Mit­gliedstaaten zu sehr dazu, den USA die Füh­rung im Sicherheitssektor zu überlassen.

Schließlich muss eine effiziente, effektive und umfassende militärische Unterstützung der Ukraine aufrechterhalten und möglichst noch intensiviert werden. Nach einem sehr schleppenden Start 2022 haben sich das Tempo der Waffenlieferungen und die Art der gelieferten Waffen in den letzten Mona­ten im positiven Sinne verändert. Im best­möglichen Fall sollten Deutschland und die EU nun von einer reaktiven zu einer pro­aktiven Form der Unterstützung übergehen, die es der Ukraine ermöglicht, wirksame Offensiven durchzuführen und dadurch schneller einen Punkt zu erreichen, an dem Kyjiw sich in einer ausreichend gestärkten Position für Verhandlungen sieht.

Es wird auch notwendig sein, sich auf die möglichen Folgen eines ukrainischen Sieges vorzubereiten. Russland könnte dadurch in eine Zeit der inneren Instabilität und des politischen und wirtschaftlichen Chaos geraten. Das ist zwar eine beängstigende Aussicht, doch mög­licherweise der zu ent­richtende Preis für den Eintritt in eine neue Phase, in der sich die Achtung einer regel­basierten Ordnung sowohl in Europa als auch darüber hinaus durchsetzen lässt. Eine Situation, in der sich Russland als Sieger fühlen kann und daher motiviert wäre, sein gegenwärtiges außen- und innenpolitisches Verhalten fortzusetzen, würde das »Recht des Stärkeren« zementieren und damit jene Grundsätze zerstören, für die Deutschland und die EU stehen – Grundsätze, die nicht nur in zahlreichen europäischen Dokumenten, sondern auch in der Charta der Ver­einten Nationen verankert sind.

Wirtschaft: Entkopplung und Neuausrichtung

Der eingeschlagene Kurs der wirtschaft­lichen Abkopplung von Russland sollte auf absehbare Zeit fortgesetzt werden. Dafür sprechen nicht nur die verhängten Sanktio­nen, sondern auch die Tatsache, dass die Unterstützung der russischen Wirtschaft die Stärkung eines Regimes bedeutet, das einen grundlosen, brutalen Krieg gegen seinen Nachbarn führt und darüber hinaus Deutschland und die EU als Feinde betrach­tet und seit Jahren versucht, die Grund­lagen ihrer friedlichen, demokratischen und regelbasierten Ordnung zu untergraben. Die Handlungen des russischen Regimes haben gezeigt, dass das Konzept der Annä­herung durch Verflechtung verfehlt war. Stattdessen ist Korruption aus Russland nach Deutschland importiert worden, so dass es nötig ist, Mechanismen zur Bekämp­fung der Geldwäsche zu verstärken und mehr Transparenz bei Vermögenswerten und wirtschaftlichen Eigentumsstrukturen zu schaffen.

Angemessene Schritte wären daher unter anderem Anreize für die verbliebenen deutschen Unternehmen, sich aus Russland zurückzuziehen, die Exporte und Importe schrittweise weiter zu reduzieren, Verbindungen zu russischen Banken zu kappen und geplante Projekte unter Umgehung Russlands neu auszurichten. Auf euro­päischer Ebene ist es für Deutschland un­erlässlich, durch bessere und früh einsetzende Kommunikation ein hohes Maß an wirtschaftlicher Solidarität mit anderen EU-Mitgliedstaaten zu demonstrieren, um die ökonomische Widerstandsfähigkeit der EU und ihre Kapazität innerhalb des gemeinsamen Marktes zu stärken. Das wird auch dazu beitragen, die Geschlossenheit der EU im Umgang mit Russland (oder auch China) zu festigen. Gleichzeitig sollten die Aus­wirkungen dieser Entkoppelungsstrategie auf die Weltwirtschaft kontinuierlich beobachtet und ihre Folgen berücksichtigt werden. Die zunehmende wirtschaftliche Isolation Russlands wird die sich derzeit vollziehende Bildung zweier Blöcke – der Westen einerseits und ein sich um China und Russland gruppierender Block anderer­seits – begünstigen. Dies wird zusätzliche wirtschaftliche und politische Probleme für Deutschland und die EU nach sich ziehen.

Sanktionen müssen dennoch ein wichtiger Bestandteil der Russlandpolitik bleiben. Die verhängten Sanktionen sind bereits recht weit gegangen. Sie zielen darauf ab, Russ­land wirtschaftlich zu isolieren und jene Akteure ins Visier zu nehmen, die für die Invasion und für Kriegsverbrechen verant­wortlich sind und Russland bereits vor dem Angriff im Februar 2022 dabei unterstützt haben, die territoriale Integrität der Ukraine zu verletzen. Die bisherigen Sanktionen haben Russlands militärische Schlagkraft in der Ukraine in Teilen geschwächt. Es wird von entscheidender Bedeutung sein, die Sanktionen aufrechtzuerhalten, damit sie ihre volle Wirksamkeit entfalten können, und darüber hinaus bereit zu sein, je nach Entwicklung weitere Sanktionen zu ver­hängen. Deutsche Wirtschaftsakteure müs­sen also auf langfristige Sanktionen vor­bereitet werden. Ebenso wichtig erscheint es, deutlich mehr Ressourcen darauf zu verwenden, die Umgehung von Sanktionen aufzudecken, so schnell wie möglich zu unterbinden und jene zu bestrafen, die sich nachgewiesenermaßen vorsätzlich an der Umgehung beteiligt haben. Insbesondere das Bundeswirtschaftsministerium ent­wickelt bereits entsprechende Maßnahmen, die durch die Bemühungen des Brüsseler Sonderbeauftragten für die Umsetzung von EU-Sanktionen, David O’Sullivan, potenziert werden können. Nicht zuletzt sollten der deutschen Bevölkerung die Notwendigkeit von Sanktionen ebenso vor Augen geführt werden wie deren bereits eingetretene und noch zu erwartende Wir­kungen. Die Erwartung wäre unrealistisch, dass die Sanktionen Wladimir Putin zu einer posi­tiven Verhaltensänderung veranlassen oder in Russland erhebliche Massenproteste gegen den Kreml auslösen. Sie sind den­noch notwendig als angemessene Reaktion auf die gravierenden Verbrechen des rus­sischen Regimes sowie als Signal eines ein­flussreichen Teils der internationalen Gemeinschaft an die russische Bevölkerung, das die Niederträchtigkeit der russischen Handlungen anzeigt.

Energie: Unabhängigkeit von Russland und Diversifizierung

In den letzten Jahren hat sich die innerhalb und außerhalb Deutschlands geführte Debatte über Energiebelange stark auf die Nord-Stream-Pipeline konzentriert. Darum sollte dieses Thema Ausgangspunkt für eine Diskussion über die zukünftige Energie­politik in Bezug auf Russland sein. Sowohl Nord Stream 1 als auch 2 waren das Ergeb­nis einer verfehlten Politik, die auf falschen Annahmen über russische Absichten beruhte und die Interessen von Nachbarn und Verbündeten unberücksichtigt ließ. Ziel Berlins ist es nun, sich vollständig von Russland abzukoppeln, auf andere Ener­gielieferanten umzusteuern und gleichzeitig den Umstieg auf erneuerbare Energien weiter zu beschleunigen. Deutschland hat im vergangenen Jahr außergewöhnliche Schritte in diese Richtung unternommen, allerdings nicht ohne negative Konsequenzen für die Umwelt- und Klimapolitik. Gerade weil eine rasche Diversifizierung der Energielieferanten mit Umweltkosten verbunden ist, bleibt es wichtig, zu dem bereits vorgesehenen umweltfreundliche­ren Kurs zurückzukehren, sobald die Situa­tion dies erlaubt.

Das Nord-Stream-Projekt hat zusammen mit anderen energiebezogenen deutschen Maßnahmen dazu beigetragen, dass Deutsch­land als ein Land wahrgenommen wird, das die Energie-Interessen seiner EU-Partner sowie anderer Staaten ignoriert. Die Ab­kopplung von Russland sollte daher mit einem klaren Bekenntnis zu einem stärker akzentuierten multilateralen Umgang mit Energiefragen einhergehen. Dieses Bekennt­nis könnte glaubwürdig gemacht werden, indem Deutschland eine Plattform einrich­tet, auf der offene Diskussionen über ener­giepolitische Pläne und ihre möglichen Fol­gen mit anderen EU-Mitgliedstaaten sowie Beitrittskandidaten geführt werden können. Deutschland hat gute Chancen, das Ver­trauen seiner Nachbarn in Energiebelangen wiederzugewinnen, da es bereits entschei­dende Schritte vollzogen hat, um von russi­schen Energielieferungen unabhängig zu werden und die Produktion erneuerbarer Energien zu steigern. Auch die inzwischen in Kraft getretenen EU-Embargos für Kohle, Öl und Ölprodukte aus Russland tragen dazu bei, dass sich Deutschland und andere EU-Mitgliedstaaten deutlich von russischen Energiequellen abwenden.

Wie im wirtschaftlichen wird es auch im Energiebereich entscheidend sein, die Bevölkerung über die Logik zu informieren, der die durchgeführten Maßnahmen fol­gen. Die Botschaft, dass es zumindest für Haushalte Besserverdienender notwendig sein könnte, finanzielle Opfer zu bringen, um Europas Energiesicherheit langfristig zu gewährleisten, sollte nachdrücklicher ver­mittelt werden. Laut Umfragen unterstützten die deutschen Bürgerinnen und Bürger im Spätsommer 2022 die Sanktionen gegen Russ­land mehrheitlich und waren bereit, Härten in Kauf zu nehmen, um sie aufrecht­zuerhalten. Diese Bereitschaft scheint aller­dings mit der Zeit abzunehmen. Zumindest zweifeln inzwischen 48 Prozent der Befrag­ten an der Wirksamkeit der Sanktionen.

Angesichts der Notwendigkeit, auf an­dere Gas- und Öllieferanten umzusteigen, gewinnt auch der Schutz kritischer Infra­struktur an Bedeutung. Hinweise darauf, dass nicht identifizierte Drohnen über jene Aufbereitungsanlage geflogen sind, aus der Erdgas von Norwegen nach Deutschland exportiert wird, sollten als Warnung dienen und Anlass geben, die Überwachung dieser Infrastruktur generell zu verstärken. Gefah­ren drohen ihr sowohl in physischer Hin­sicht als auch durch Cyber-Attacken. Die russische Zerstörung wichtiger Energie­infrastrukturobjekte in der Ukraine zeigt, dass der Kreml solche Ziele auf seinem Radar hat, die er darum auch in anderen Ländern angreifen könnte. Das Bundes­ministerium des Innern hat im Oktober 2022 einen Gemeinsamen Koordinierungsstab für kritische Infrastrukturen gegründet und treibt die Arbeit an dem KRITIS-Dach­gesetz voran, das Deutschlands Resilienz in diesem Bereich steigern soll. Dass sich die G7-Staaten bei einem Treffen der Digitalminister im April dazu verpflichtet haben, stärker auf den Schutz von Unterwasser­kabeln zu achten, ist in dieser Hinsicht auch ein ermutigendes Signal.

Politik und Recht: Weniger Dialog, mehr Rechenschaftspflicht

Die wichtigste Veränderung auf politischer Ebene besteht in einer drastischen Verrin­gerung von Zahl und Ausmaß der Kontakte. Sie ergibt sich nicht nur aus dem Wegfall der meisten Kooperationsfelder, sondern ist auch eine Schlussfolgerung aus der in den vergangenen Jahren gewonnenen Erkenntnis, dass der Dialog in bestimmten Fällen nicht weiterhilft und sogar kontraproduktiv sein kann. Wenn die andere Seite nicht an einem besseren Verständnis der deutschen Position interessiert ist, sondern lediglich ihre eigene Position durchsetzen will, kann der Dialog nicht die gewünschten Ergeb­nisse bringen. Letztlich stärkt er den Status Russlands, indem er seinen Vertretern und Vertreterinnen legitime Plattformen zur Meinungsäußerung bietet. Ein Dialog, ob auf höchster oder untergeordneter Ebene, sollte daher nur dann stattfinden, wenn Deutschland ein klares Interesse an einem bestimmten Ergebnis hat und die Erwartung realistisch erscheint, dass sich dieses Ergebnis durch den Dialog – ergänzt um andere relevante Instrumente – erreichen lässt. Insofern empfiehlt sich ein funktio­naler Ansatz, der Gespräche von Fall zu Fall zulässt, wenn sie für das Vorankommen in einem bestimmten Prozess als wichtig er­achtet werden. Das Vertrauen in die russi­sche Seite ist so weit zerstört, dass nur sehr konkrete, kurzfristige Vereinbarungen möglich erscheinen. Und selbst dann müss­ten Notfallpläne für den Fall erstellt wer­den, dass Moskau sich nicht an seinen Teil der Abmachung hält.

Ratsam wäre es, bei künftigen politischen Dialogen zudem sogenanntes mirror-imaging zu vermeiden, also nicht der Annahme auf­zusitzen, dass russische Gesprächspartner ähnliche Ziele verfolgen und derselben Art von Rationalität folgen wie ihre deutschen Gegenüber. Auch wenn die russische Ag­gression gegen die Ukraine die unterschiedlichen Rationalitäten überaus deutlich gemacht hat, kann es sich lohnen, Regio­nalexperten und ‑expertinnen stärker als in der Vergangenheit einzubinden, wenn es gilt, die Absichten russischer Akteure ein­zuschätzen.

Auf rechtlicher Ebene werden mehrere Wege gleichzeitig beschritten, um Russland für seine Handlungen in der Ukraine so­wohl finanziell als auch moralisch zur Rechenschaft zu ziehen. Bemühungen, an beschlagnahmtes russisches Vermögen heranzukommen, sollten fortgesetzt und noch intensiviert werden. Obwohl es nach­vollziehbare rechtliche Bedenken gegen die Idee gibt, auf die mutmaßlich 300 Milliarden Euro Reserven der russischen Zentralbank zurückzugreifen, sprechen gute Argu­mente dafür, dass dieser spezielle Fall eher eine Ausnahme als einen Präzedenzfall darstellt. Ebenso wichtig ist es, die Ukraine weiterhin auf jede erdenkliche Weise bei ihren Anstrengungen zu unterstützen, die Täter (einschließlich Wladimir Putin) vor Gericht zu stellen. Ob dies am besten durch die Schaffung eines hybriden oder inter­nationalen Sondertribunals geschehen sollte, ist unter Juristen umstritten. Der vom Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag ausgestellte Haftbefehl gegen Putin zeigt, dass es möglich ist, den russi­schen Präsidenten auch für andere Ver­brechen als die der Aggression anzuklagen. Auf jeden Fall bietet der Krieg gegen die Ukraine eine Gelegenheit, bestimmte Ele­mente des Völkerrechts zu stärken. Dies kann zum Teil im nationalen Rahmen geschehen, wie bereits vom Bundesjustiz­ministerium angeregt. Bei anderen Aspek­ten ist allerdings ein wesentlich intensive­rer Dialog mit zahlreichen Staaten des glo­balen Südens erforderlich, die nicht nur andere Interessen, sondern oft einen anderen Blick auf die Ziele und Möglich­keiten des Völkerrechts haben.

Gesellschaft: Kommunikation und Bekämpfung von Desinformation

Die zwischengesellschaftlichen Beziehungen sind seit Jahrzehnten eine wichtige Komponente des deutsch-russischen Ver­hält­nisses. Der Einmarsch Russlands in die Ukraine hat die Zusammenarbeit, die in den letzten 15 Jahren als Folge des zusehends repressiven staatlichen Vorgehens gegen Teile der russischen Zivilgesellschaft immer schwieriger wurde, weiter erschwert. Mos­kau hat inzwischen etliche deutsche Orga­nisationen als »unerwünscht« eingestuft und mit Restriktionen belegt. Die Probleme bei der Aufrechterhaltung der Beziehungen auf zivilgesellschaftlicher Ebene lassen sich beispielhaft an der Auflösung des Petersburger Dialogs veranschaulichen, eines For­mats, das 2001 der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder und Wladimir Putin ins Leben gerufen haben. Dieser Dialog war zwar nie ein rein zivilgesellschaftlicher, ins­besondere weil der russische Staat die Teil­nehmenden aus Russland kontrollierte, wies aber dennoch Elemente eines solchen Dialogs auf.

Gegenwärtig ist es schwierig, viel mehr zu tun, als jene Akteure, die noch zivil­gesellschaftliche Beziehungen unterhalten, zu ermutigen, diese so weit wie möglich aufrechtzuerhalten. Auf politischer Ebene muss ständig versucht werden, die russi­sche Gesellschaft so gut es geht über ak­tuelle Entwicklungen und deutsche/west­liche Positionen zu informieren. Dies kann teilweise direkt über (soziale) Medien, teil­weise über die russische Diaspora geschehen – inzwischen haben sich viele Oppo­sitionelle und Medien in der EU angesiedelt. Außerdem sollten diejenigen Teile der Dia­spora unterstützt werden, die von außen versuchen, den Wandel Russlands in einen demokratischen, regelbasierten Staat zu för­dern, auch wenn ein nachhaltiger Regimewechsel nur innerhalb Russlands erfolgen kann. In diesem Zusammenhang wird die stetige Anpassung des vom Auswärtigen Amt betriebenen Programms »Ausbau der Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft in den Ländern der Östlichen Partnerschaft und Russland« (ÖPR) eine wichtige Rolle spielen.

Beim Blick auf die russische Gesellschaft gilt es zwischen Menschen mit unterschiedlichen Einstellungen und Verhaltensweisen zu differenzieren, anstatt im Sinne einer Kollektivschuld-These alle russischen Bür­gerinnen und Bürger gleichermaßen zu ver­urteilen. Irgendwann wird die russische Gesellschaft eine Phase durchlaufen müs­sen, in der sie kollektiv ihren Anteil an der Schuld und den kriminellen Charakter ihres Regimes anerkennt – und damit in gewisser Weise eine ähnliche Erfahrung macht wie Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg. Ohne ein solches Eingeständnis breiter Schichten der russischen Gesell­schaft lässt sich schwer vorstellen, wie ein grundlegender Regimewechsel möglich sein soll, der dann auch – was noch wichtiger ist – unumkehrbar ist. Dieser Prozess muss von einer ehrlichen Aufarbeitung früherer Perioden der sowjetischen und russischen imperialen Geschichte begleitet werden, wie sie die russische Organisation »Memo­rial« seit langem fordert und unterstützt.

Nicht zuletzt sollten auch die Auswirkungen der jetzigen Lage auf die deutsche Gesellschaft bedacht werden. Erstens ist es von entscheidender Bedeutung, dass die Bundesregierung die Bürgerinnen und Bür­ger darüber informiert, wie sie das außen­politische Verhalten des Kremls und die Ent­wicklungen in Russland beurteilt. Genauso wichtig sind Begründungen für deutsche politische Entscheidungen, die auf diese Entwicklungen reagieren. Zweitens muss die Problematik der Desinformation auf der Tagesordnung bleiben. Teile der deutschen Gesellschaft sitzen nach wie vor der russi­schen Propaganda auf. Insofern wäre es sehr wichtig, deutlicher und über multiple Kanäle auf die Gefahren hinzuweisen, die von dieser Propaganda ausgehen. Noch wichtiger ist es, in der deutschen Gesellschaft den Stand des Wissens über die Ukraine und Russland kontinuierlich zu verbessern und die Entwicklung der Fähig­keit zum kritischen Denken auf allen Ebe­nen des Bildungssystems zu fördern.

Zielkonflikte und Vorteile eines umfassenden Ansatzes

Die Analyse legt nahe, dass eine neue euro­päische Sicherheitsordnung ohne Russland geschaffen werden muss. Dabei sollte man die Vorstellung nicht aufgeben, dass sich Russland irgendwann zu einer Demokratie mit funktionierenden rechtsstaatlichen Institutionen wandeln kann. Doch wird ein solcher Prozess Jahrzehnte, möglicherweise sogar Generationen dauern und nicht linear verlaufen. Angesichts dessen wird sich die Politik für absehbare Zeit auf Überlegungen konzentrieren müssen, wie die Sicherheit Europas (einschließlich der Ukraine) vor Russland geschützt und gewährleistet wer­den kann. Dies wird eine Umlenkung finan­zieller und personeller Ressourcen zugun­sten von Sicherheits- und Verteidigungs­maßnahmen erfordern, sowohl auf natio­naler wie auf europäischer Ebene.

Die gegenwärtig sich vollziehende Entkopplung bei Wirtschaft und Energie wird die sich rasant entwickelnde chinesisch-russische Zusammenarbeit nicht nur in diesen Bereichen beschleunigen. Die oben skizzierte Russlandpolitik, die in vielen Aspekten bereits Realität ist, wird somit die Entstehung einer neuen Blockkonstellation begünstigen: Der EU, dem Vereinigten Königreich und Nordamerika stehen dabei Russland und China gegenüber. Diese bi­polare Konstellation kann durch intensivierte Kommunikation und Zusammen­arbeit mit verschiedenen Akteuren des glo­balen Südens nuancierter und komplexer gestaltet werden. Aufgrund der über Jahr­zehnte gewachsenen Ressentiments gegen­über dem Westen wird dies jedoch einige Zeit brauchen. Da es keinen »one size fits all«-Ansatz gibt, wird es nötig sein, einen auf bestimmte Schlüsselstaaten des globalen Sü­dens zugeschnittenen Umgang zu wählen und nach und nach Vertrauen zu bilden.

Schließlich enthält der hier skizzierte Ansatz viele Komponenten, mit denen erhebliche Teile der deutschen Bevölkerung nicht einverstanden sein werden. Einige lehnen eine Aufrüstung Deutschlands ab, inklusive der weiteren Lieferung von Waf­fen und militärischem Gerät an die Ukraine. Andere werden nicht bereit sein, einen Teil ihres Wohlstands als Preis für mehr Sicher­heit zu opfern. Wieder andere werden an einer Politik Anstoß nehmen, die die meis­ten Formen der Interaktion mit Moskau ausschließt. Es wird daher notwendig sein, mehr Zeit und Energie darauf zu verwenden, die Gründe für diese Politik zu erläu­tern und immer mehr Bürger und Bürgerinnen davon zu überzeugen, dass sie der Entwicklung angemessen ist. Dazu gehört auch, einige Fehler aufzuarbeiten, die in der Vergangenheit in den Beziehungen zu Russland begangen wurden, und der Bevöl­kerung klarzumachen, warum manche Grundannahmen des früheren deutschen Ansatzes falsch waren.

Das Blatt durch die offizielle Formulierung einer neuen Russlandpolitik zu wen­den kann der Bundesregierung helfen, die Fehler der Vergangenheit zu korrigieren und einen größeren Beitrag zur Sicherheits­politik der EU (und der Nato) zu leisten. Es wird wichtig sein, sich mit relevanten EU-Partnern über das deutsche Vorgehen in Wirtschafts- und Energiebelangen umfassender und ernsthafter zu beraten als in der Vergangenheit. Berlin sollte auch Polen und den baltischen Staaten den ihnen gebührenden Platz einräumen. Deren Ver­treter und Vertreterinnen haben in den letzten Jahren russische Ziele und Methoden meist richtig gedeutet. Darum sollten ihre Positionen in Zukunft stärker berücksichtigt werden.

Eine angemessene Politik gegenüber Russland wird dazu beitragen, einige Grundlagen für einen Wandel in Richtung eines regelbasierten und werte-orientierten globalen Umfelds zu schaffen, für das Deutschland und die EU bereits eintreten. Die Einigung auf eine Russlandpolitik, die die derzeit geltenden Ansätze zementiert und verfeinert, wird es Berlin zudem ermög­lichen, seine Aufmerksamkeit strategischer und langfristiger auf die Ukraine und andere Länder östlich der EU auszurichten, die von der deutschen Politik zu lange zu­gunsten Moskaus vernachlässigt wurden.

Dr. Susan Stewart ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe Osteuropa und Eurasien.

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