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Deutschland sucht Arbeitskräfte

Wie die Arbeitskräfteanwerbung entwicklungsorientiert, nachhaltig und fair gestaltet werden kann

SWP-Studie 2023/S 01, 26.01.2023, 45 Pages

doi:10.18449/2023S01

Research Areas
  • Der Fachkräftemangel in Deutschland nimmt vor allem in den Bereichen Soziales und Erziehung, Gesundheit und Pflege, Bau und Handwerk, Informationstechnologie und den Berufen rund um Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik (MINT) stark zu. Gleichzeitig wächst der Bedarf an geringer qualifizierten Arbeitskräften, etwa bei Helfer­tätigkeiten und haushaltsnahen Dienstleistungen.

  • Zwar machen Zuzüge aus EU-Staaten nach wie vor den größten Teil der Arbeitsmigration aus, doch dieses Zuwanderungspotenzial nimmt auf­grund der in diesen Staaten ähnlichen Alterung und Schrumpfung der Bevölkerung ab. Die Anwerbung von Arbeitskräften aus Drittstaaten, darunter auch aus Partnerländern der deutschen Entwicklungs­zusammenarbeit, wird daher zu einer strategischen Zukunftsfrage.

  • Trotz aller Reformen in jüngerer Zeit ist die Arbeitskräftegewinnung aus Drittstaaten immer noch unzureichend, und entwicklungspolitische Erwägungen werden bislang nicht genügend beachtet, um nachhaltige Wirkungen entfalten zu können.

  • Erforderlich ist eine stärkere Einbettung der deutschen Arbeitskräfte­gewinnung in entwicklungsorientierte, faire Partnerschaften mit Her­kunftsländern, bei denen deren Interessen berücksichtigt und die Rechte von Arbeitsmigrantinnen und ‑migranten geachtet werden. Da viele Industrieländer inzwischen um Arbeitskräfte werben, könnte Deutsch­land daraus ein Wettbewerbsvorteil erwachsen.

  • Die Bundesregierung sollte die vielen Erfahrungen aus Pilotprojekten zur Fachkräftegewinnung für größere Anwerbeprogramme nutzen und mit einer systematischen Zusammenarbeit aller relevanten Ministerien (Gesamtregierungsansatz) und unter Beteiligung von Zivilgesellschaft und Privatwirtschaft die Weichen für eine entwicklungsorientierte Arbeits­kräftegewinnung stellen.

  • Die Bundesregierung sollte sich noch stärker als bisher in den einschlä­gigen globalen Prozessen und Foren engagieren und sich dabei für faire Anwerbung einsetzen.

Inhaltsverzeichnis

1 Problemstellung und Empfehlungen

2 Entwicklungspolitische Kontroversen

3 Arbeitskräftebedarf und Zuwanderungspotenziale

3.1 Arbeitskräftebedarf in Deutschland

3.1.1 Engpassberufe und Fachkräftemangel

3.1.2 Bedarf an geringer qualifizierten Arbeitskräften

3.1.3 Prognosen zum künftigen Arbeitskräftebedarf

3.2 Zuwanderungspotenziale für den deutschen Arbeitsmarkt

3.2.1 Zuwanderung aus EU-Staaten

3.2.2 Zuwanderung aus Drittstaaten

4 Migrationspolitischer Rahmen der Arbeitskräfteanwerbung

4.1 Aktueller Rechtsrahmen

4.1.1 Qualifizierte Zuwanderung

4.1.2 Zuwanderung geringer Qualifizierter

4.2 Jüngste Entwicklungen und Reformbemühungen

5 Akteure und Strukturen der deutschen Anwerbepolitik

5.1 Staatliche Anwerbeakteure

5.2 Unternehmen als Anwerbeakteure

5.3 Nichtstaatliche Vermittlungsakteure

5.3.1 Formelle Vermittlungsakteure

5.3.2 Informelle Vermittlungsakteure

5.4 Programme und Pilotprojekte zur Arbeitskräfteanwerbung

5.4.1 Staatliche Anwerbeprojekte

5.4.2 Nichtstaatliche Anwerbeprojekte

6 Problemfelder und Handlungsempfehlungen

6.1 Anerkennung ausländischer Berufserfahrungen

6.2 Sprachkenntnisse

6.3 Visaerteilung

6.4 Verwaltungs- und Infrastruktur in Deutschland

6.5 Zusammenarbeit staatlicher Akteure

6.6 Entwicklungsorientierung und ‑wirkungen

6.7 Auswahl von Partnerländern und Vermittlungsabsprachen

6.8 Übergang von Pilotprojekten zu langfristigen Anwerbemaßnahmen

6.9 Maßnahmen gegen unfaire Anwerbe­praktiken

6.10 Internationale Standards für faire Anwerbung

7 Abkürzungsverzeichnis

7.1 Lektüreempfehlungen

Problemstellung und Empfehlungen

In vielen demografisch alternden und schrumpfenden Industriestaaten nimmt der strukturelle Arbeitskräfte­mangel zu, während viele ärmere Länder ein starkes Bevölkerungswachstum bewältigen müssen und zuneh­mend Schwierigkeiten haben, ihren jungen Erwachse­nen Arbeit und ein ausreichendes Einkommen zu bieten. In Deutschland wird die Schrumpfung der Arbeitsbevölkerung in den kommenden Jahren wegen des Renteneintritts der geburtenstarken Jahrgänge besonders drastisch ausfallen. Das Institut für Arbeits­markt- und Berufsforschung (IAB) prognos­tiziert, dass das Arbeitskräftevolumen nur erhalten werden kann, wenn bis 2035 jährlich 400.000 Personen netto zu­wandern. Insbesondere der Arbeitskräftemangel in den Bereichen Soziales und Erziehung, Gesundheit und Pflege, Bau und Handwerk und den sogenannten MINT-Berufen wird sich nicht mehr allein durch Bin­nenmigration aus der Europäischen Union (EU) aus­gleichen lassen, weil alle EU-Mitgliedstaaten einen ähnlichen demografischen Wandel erleben. Damit wird die Anwerbung von Arbeitskräften aus Dritt­staaten, auch aus Partnerländern der deutschen Ent­wick­lungszusammenarbeit, zu einer strategischen Zukunftsfrage.

Bereits seit der Jahrtausendwende gab es Bemü­hun­gen, den deutschen Arbeitsmarkt zu öffnen. Liberalisiert wurde aber vor allem die Zuwanderung von Hochqualifizierten, so dass Deutschland nach Ansicht der Organisation für wirtschaftliche Zusam­menarbeit und Entwicklung (OECD) für diese Arbeits­kräfte bereits 2013 von allen Mitgliedsländern die niedrigsten rechtlichen Hürden aufwies. Diese Strin­genz fehlte bei der Anwerbung von Fachkräften und geringer qualifizierten Arbeitskräften. Die bis 2021 amtierende schwarz-rote Regierung unter Bundeskanzlerin Angela Merkel hat den Faden wieder auf­gegriffen und unter anderem 2020 das Fach­kräfte­einwanderungsgesetz (FEG) beschlossen. Das Gesetz ermöglicht es Drittstaatsangehörigen mit einer quali­fizierten Berufsausbildung, in Deutschland einen Arbeitsplatz zu suchen oder sich hier um Anerken­nung ihres Berufsabschlusses zu bemühen. Die Wir­kungen blieben bislang allerdings begrenzt: Im Jahr 2021 kamen – eine Nachwirkung der während der Covid-19-Pandemie stark eingeschränkten internationalen Mobilität – insgesamt nur etwa 25.000 Fach­kräfte im Zuge der neuen FEG-Regelungen nach Deutschland, und rund 8.000 Drittstaatsangehörige nutzten die Ausweitung der Zuwanderungsmöglich­keiten zur Arbeitsplatzsuche. Von der Westbalkan­regelung, die eine Zuwanderung zur Aufnahme einer Beschäftigung ohne abgeschlossene Berufsausbildung erlaubt, machten im Jahr 2021 gar nur 3.000 Per­sonen Gebrauch.

Es sind weitere Reformen erforderlich, um den Arbeitskräftebedarf durch Gewinnung von Fach­kräften wie auch von geringer Qualifizierten aus dem Aus­land zu stillen. Die aktuell starke Fluchtzuwande­rung aus der Ukraine und anderen Weltregionen ändert daran nichts. Deutschland wird die benötigten Arbeitskräfte aktiver als bisher anwerben müssen, und zwar auch in Partnerländern der deutschen Ent­wicklungszusammenarbeit. Dazu müssen auch die Verwaltungsverfahren vereinfacht und beschleunigt werden.

In der Entwicklungszusammenarbeit aber ist die Anwerbung von Arbeitskräften seit langem umstrit­ten. Gewarnt wird vor den Gefahren des Braindrain und vor Entwicklungsrückschlägen, wenn den Her­kunftsländern gerade im Gesundheitsbereich drin­gend benötigte Fachkräfte durch Auswanderung entzogen werden. Hingewiesen wird – beispielsweise mit Bezug auf die Golfstaaten – auf Menschenrechts­verletzungen, denen Migrantinnen und Migranten in den Aufnahmeländern womöglich ausgesetzt sind. Die Befürworterinnen und Befürworter einer Anwer­bung betonen hingegen den großen Entwicklungs­beitrag, den Migration für die Herkunftsländer zu leisten vermag, und die individuellen Chancen, die mit der Migration verbunden sein können – wenn diese so gestaltet wird, dass sie sicher, geordnet und regulär stattfinden kann.

Dieser Debatte wird sich die Bundesregierung in den kommenden Jahren noch intensiver als bisher wid­men müssen. Der demografisch bedingte Arbeits­kräftebedarf wird allen Prognosen nach so stark an­steigen, dass größere Anwerbeprogramme nötig sein werden. Gleichzeitig stehen andere Industrieländer vor ähnlichen Herausforderungen und werben ihrer­seits um geeignete Arbeitskräfte. Diese Konkurrenz wird sich verschärfen. Deutschland könnte hier einen Wettbewerbsvorteil erlangen, wenn es gelänge, ent­wicklungsorientierte und faire Partnerschaften mit Herkunftsländern abzuschließen, die deren Inter­essen berücksichtigen und hohe Standards für den Schutz von Arbeitsmigrantinnen und ‑migranten vor­sehen. Die Bundes­regierung wird sich um zweierlei Gedanken machen müssen: die staatliche Anwerbung von Arbeitskräften aus Partnerländern der deutschen Entwicklungszusammenarbeit sowie darüber, wie deren private Vermittlung gestaltet, unterstützt und reguliert werden kann und sollte.

Vor diesem Hintergrund geht es in der Studie um die bisherigen staatlichen und nichtstaatlichen Bemü­hungen um Arbeitskräfte insbesondere aus Partner­ländern der deutschen Entwicklungszusammenarbeit. Diskutiert werden auch die mit der Anwerbung ver­bundenen politischen Zielkonflikte und die entwick­lungspolitischen Chancen und Risiken.

Entwicklungspolitische Kontroversen

Die Wechselwirkungen zwischen Migration und Ent­wicklung sind in Forschung und Politik seit langem umstritten.1 Weitgehender Konsens besteht aber dar­über, dass die Entwicklungswirkungen von Wanderungsbewegungen letztlich von ihrer politischen Gestaltung abhängen: Grundsätzlich haben gut ge­steuerte Wanderungen positivere Folgen für die Ent­wicklung der Herkunfts- und Aufnahmeländer als schlecht regulierte.2 Unzureichende politische Steue­rung beeinträchtigt außerdem die individuellen Chan­cen der Betroffenen. Gleiches gilt für die Gestal­tung der Arbeitskräfteanwerbung.

Bei der Bewertung der Zusammenhänge insbesondere von Arbeitsmigration und Entwicklung haben sich im Laufe der Zeit positive und negative Sicht­weisen abgewechselt, und die jeweils vorherrschende Interpretation prägte stets auch den entwicklungs­politischen Umgang mit den Wanderungen.3 So über­wogen in den 1950er und 1960er Jahren zunächst positive Bewertungen der Arbeitsmigration. Zu die­ser Zeit galt sie vor allem im Kontext des Wirtschafts­wachstums nach dem Zweiten Weltkrieg als Mechanismus für den Ausgleich zwischen Arbeitsmärkten mit unterschiedlichen Angebots- und Nachfragestrukturen. Angenommen wurde, dass Migration – da­mals vor allem von un- und angelernten »Gastarbeitern« in den westlichen Industriestaaten – zum Wachstum sowohl der Herkunfts- als auch der Auf­nahmeländer beiträgt. In den folgenden beiden Jahr­zehnten wurde diese Annahme von pessimistischeren Bewertungen abgelöst. Nun dominierte die Ansicht, dass Arbeitsmigrantinnen und ‑migranten ausgebeutet und mit ihnen Fachkräfte abgeworben würden, die für den Aufbau der Herkunftsländer unverzichtbar seien (Braindrain). Auch die Geldtransfers von Migrantinnen und Migranten galten als problematisch: Die Überweisungen würden vorwiegend kon­sumtiv verwendet, die Inflation im Herkunftsland verstärken und Frauen vom dortigen Arbeitsmarkt fernhalten. Sie seien daher nicht entwicklungs­fördernd.4

Zu Beginn der 1990er Jahre wuchs das entwicklungspolitische Interesse an der Arbeitsmigration.

Zu Beginn der 1990er Jahre schlug das Pendel wieder in die andere Richtung aus.5 Unter dem Para­digma der »New Economics of Labour Migration« und der sich beschleunigenden Globalisierung der Welt­wirtschaft wuchs das entwicklungspolitische Interesse an der Arbeitsmigration; ihr wurde nun ein deutlich positiver Einfluss auf Entwicklungsprozesse zugeschrieben.6

Seit einiger Zeit zeichnet sich in der Forschung wiederum eine Gegenbewegung ab, die das optimis­tische migrations- und entwicklungspolitische Para­digma hinterfragt.7 Dieser Kritik liegt die Annahme zugrunde, dass die positive Bewertung von (Arbeits-) Migration und Entwicklung einer neoliberalen Agenda folge.

So würde eine Unterstützung der Diaspora-Gemeinden oder von Rücküberweisungen die Auf­nahmeländer zum Teil von ihrer Verantwortung für Migrantinnen, Migranten und Geflüchtete entbinden, auch die Förderung zirkulärer Wanderungsbewegun­gen komme letztlich den Interessen der Aufnahme­länder an billigen und verfügbaren Arbeitskräften entgegen. In beiden Fällen drohe aus dem Blick zu geraten, dass die Betroffenen selbst oft die wirtschaftlichen und sozialen Kosten der Wanderung zu tragen hätten – insbesondere die Frauen.8 Tatsächlich drän­gen viele Herkunftsländer inzwischen viel nachdrücklicher auf gute und faire Arbeitsbedingungen ihrer Arbeitsmigrantinnen und ‑migranten und prangern Menschenrechtsverletzungen an ihren Bürgerinnen und Bürgern oder negative Entwicklungswirkungen schärfer an als zuvor.9

Zudem wird nach wie vor wissenschaftlich wie politisch darüber gestritten, ob mehr Entwicklung (Arbeits-)Migration fördert oder dämpft und welche Schlüsse daraus für die Entwicklungszusammenarbeit zu ziehen sind. So haben viele Ökonominnen und Ökonomen lange die Auffassung vertreten, der Migra­tion aus ärmeren in reichere Weltregionen lasse sich mit Mitteln der Entwicklungszusammenarbeit Gren­zen setzen. Diese These wurde durch die entwicklungs­ökonomische Erkenntnis herausgefordert, dass Entwicklungsprozesse in der Regel zunächst zu einer Zunahme von Migration – dem »migration hump« – führen.10 Verbesserungen des sozioökonomischen Entwicklungsstandes schieben die Auswanderung aus Entwicklungsländern in der Regel so lange an, bis die Einkommen das Niveau der oberen Mittelschicht erreichen; erst dann tritt eine Abschwächung ein. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird dieser nach wie vor bestehende Streit auch weiterhin die Diskussion über entwicklungspolitische Folgen der Arbeitskräfte­anwerbung beeinflussen.

Zusammenfassend lässt sich zum Stand der Forschung zu Migration und Entwicklung festhalten, dass immer noch viele Zusammenhänge kontrovers bewertet werden. Dies ist angesichts der unterschiedlichen normativen Positionen der Forschenden auch nicht erstaunlich. Allerdings herrscht zumindest in einigen Punkten Einigkeit. Dazu gehört, dass Migra­tion, Flucht und Entwicklung eng miteinander ver­knüpft sind, dass die Entwicklungswirkungen der Wanderungen von deren politischer Gestaltung abhängen und dass entwicklungsfördernde Rahmenbedingungen eine intensive und verbindliche Koope­ration mit den Partnerländern der Entwicklungs­zusammenarbeit erfordern. Diese Einschätzung teilt auch die amtierende Bundesregierung, wie in ihrem Koalitionsvertrag von 2021 deutlich wird.11

Arbeitskräftebedarf und Zuwanderungspotenziale

Arbeitskräftebedarf in Deutschland

In Deutschland steigt der Bedarf an Arbeitskräften – sowohl an Fachkräften, also Menschen mit einem Berufsabschluss, Hochschulabschluss oder einer ver­gleichbaren mehrjährigen Qualifikation, als auch an geringer Qualifizierten. Während über den Bedarf an Ersteren wissenschaftlich und politisch weitgehend Konsens besteht, ist der an Letzteren strittig.12 Die bestehenden Engpässe gehen in erster Linie auf den demografischen Wandel und die strukturellen Ver­änderungen des Arbeitsmarktes zurück. So entfallen als Folge der Digitalisierung traditionelle Arbeitsplätze, es entstehen aber auch viele neue. Das Gleiche gilt für die Dekarbonisierung der Wirtschaft. Hinzu kom­men aktuelle Bedarfe etwa im Zusammenhang mit den Auswirkungen der Covid-Pandemie.

Engpassberufe und Fachkräftemangel

Im Zuge der Covid-Pandemie ist die Zahl der von der Bundesagentur für Arbeit (BA) identifizierten Engpass­berufe deutlich gesunken und lag auch Ende 2021 noch unter der des Vor-Corona-Jahres 2019 (2019: 185; 2021: 148). Die BA sieht dies allerdings nur als eine vorübergehende Erscheinung und geht davon aus, dass die Zahl der Engpassberufe mittelfristig wieder steigen wird.13 Nach Analysen des Kom­pe­tenzzentrums Fachkräftesicherung (KOFA) des Insti­tuts der deutschen Wirtschaft Köln (IW) hat die Fach­kräftenachfrage nach dem coronabedingten Einbruch in den Jahren 2019 und 2020 bereits Ende 2021 wie­der erheblich angezogen und im März 2022 mit 1,5 Millionen offenen Stellen einen neuen Rekord er­reicht. Insgesamt fehlten dem deutschen Arbeitsmarkt zu diesem Zeitpunkt saisonbereinigt 558.000 Fachkräfte, so dass knapp die Hälfte der offenen Stellen nicht mit entsprechend qualifizierten Arbeits­losen besetzt werden konnte.14 Dies macht einmal mehr deutlich, dass der Fachkräftebedarf in Deutschland struktureller Natur ist, auch wenn konjunkturelle Schwankungen die Nachfrage zeitweise dämpfen können.15

Im Jahr 2021 kam es in allen Berufsfeldern vermehrt zu Fachkräfteengpässen, in einigen sogar deut­lich (vgl. Infokasten 1, S. 10).16 Dabei gibt es regionale Unterschiede, etwa zwischen ost- und westdeutschen Bundesländern, aufgrund von Disparitäten in der demo­grafischen Entwicklung, der Zuwanderung oder des Lohnniveaus. Andere Engpässe, zum Beispiel in den Pflegeberufen und im Handwerk, etwa in der Hei­zungs-, Sanitär- und Klimatechnik, traten bundesweit auf.17

Bedarf an geringer qualifizierten Arbeitskräften

Die politische Debatte konzentriert sich zwar auf den Fachkräftebedarf, es gibt aber auch Anzeichen für einen wachsenden Bedarf an Arbeitskräften für gerin­ger qualifizierte Tätigkeiten. Das IAB in Nürnberg weist darauf hin, dass die Beschäftigung im »Helfersegment« in den vergangenen 15 Jahren fast doppelt so schnell gewachsen ist wie die gesamte Beschäftigung.18 Laut einer Umfrage des Deutschen Industrie- und Handelskammertags (DIHK) waren zudem 2021 auch Branchen, in denen häufig einfache Tätigkeiten gefragt sind, von Arbeitskräfteengpässen betroffen, etwa Gastronomie und Logistik.19

Infokasten 1

Vom Fachkräftemangel besonders betroffene Berufe

Die Fachkräftelücke beschreibt die der BA gemeldeten, auf Basis der Meldequoten der IAB-Stellenerhebung hochgerechneten und um Sondereffekte der Zeitarbeit bereinigten offenen Stel­len, die nicht mit passend qualifizierten Arbeitslosen besetzt werden können. Die folgenden Berufsbereiche gelten als beson­ders betroffen:

Soziales und Erziehung

In der Sozialarbeit/-pädagogik gab es im Jahresdurchschnitt 2021/22 rund 20.600 nicht besetzte Stellen, weitere 20.500 Erzieherinnen- und Erzieher-Stellen konnten nicht besetzt werden.a

Gesundheit und Pflege

Die Fachkräfteengpässe waren und sind bei Pflegeberufen, die eine qualifizierte Ausbildung oder ein Studium voraussetzen, besonders ausgeprägt: Im Jahresdurchschnitt 2021/22 konnten in der Altenpflege 18.300 Stellen nicht besetzt werden, in der Gesundheits- und Krankenpflege waren es 16.800.b

Bau und Handwerk

Die Engpässe sind besonders in der Bauelektrik, der Sanitär-, Heizungs- und Klimatechnik sowie der Bauplanung und ‑über­wachung groß und haben sich 2021 noch verschärft. Allein im Handwerk konnten im Jahr 2021 rund 87.500 offene Stellen nicht besetzt werden. Hier fehlten vor allem Fachkräfte mit abgeschlossener Berufsausbildung.c

IT

Nachdem während der Corona-Pandemie ein Tiefstand von nur 9.800 offenen IT-Stellen erreicht war, lag die Fachkräftelücke im Oktober 2021 wieder bei rund 28.700 Personen und war damit so groß wie nie zuvor. Es wurden vor allem Akademikerinnen und Akademiker gesucht – ihr Anteil lag 2021 über alle IT-Berufs­gruppen hinweg bei 56,3 Prozent.d

MINT

Im April 2022 fehlten insgesamt 320.600 Fachkräfte in Berufen rund um Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik (MINT-Berufe). Die größte Engpassgruppe in diesem Bereich waren mit 136.300 Personen Fachkräfte mit abgeschlossener Berufsausbildung.e

a Helen Hickmann/Filiz Koneberg, Die Berufe mit den aktuell größ­ten Fachkräftelücken, Köln: IW, August 2022 (IW-Kurz­bericht 67/2022), S. 2.

b Hickmann/Koneberg, Die Berufe mit den aktuell größten Fach­kräftelücken [wie Anm. a]; Susanne Seyda u. a., Pflegeberufe besonders vom Fachkräftemangel betroffen, Köln: KOFA, November 2021 (KOFA Kompakt 10/2021).

c Lydia Malin/Helen Hickmann, Fachkräftemangel und Aus­bildung im Handwerk, Köln: KOFA, Juni 2022 (KOFA Kompakt 5/2022).

d Anika Jansen, Fachkräftesituation in den IT-Berufen, Köln: KOFA, Januar 2022 (KOFA Kompakt 2/2022).

e Christina Anger u. a., MINT-Frühjahrsreport 2022. Demo­grafie, Dekarbonisierung und Digitalisierung erhöhen MINT-Bedarf – Zuwanderung stärkt MINT-Fachkräfteangebot und Innovationskraft, Köln: IW, Mai 2022 (IW-Gutachten).

Wie wichtig geringer qualifizierte Arbeitskräfte für die deutsche Wirtschaft sind, zeigte sich unter ande­rem, als im Zuge der Covid-Pandemie bis zu 20.000 Saisonarbeitskräfte in der Landwirtschaft fehlten und der Bedarf nicht mit einheimischen Arbeitskräften gedeckt werden konnte.20 In der Luftfahrtbranche führte der Mangel an Bodenpersonal zu Beginn der Sommerferien 2022 an mehreren deutschen Flug­häfen zu chaotischen Zuständen.21

Prognosen zum künftigen Arbeitskräftebedarf

Infokasten 2

Die Fluchtbewegung aus der Ukraine

Durch die Aktivierung der EU-Richtlinie zum temporären Schutz (2001/55/EG) können Geflüchtete aus der Ukraine auch in Deutschland eine bis zu drei Jahre geltende Aufenthalts­erlaubnis erhalten und in dieser Zeit einer abhängigen oder selbständigen Beschäftigung nachgehen.

Laut Bundesinnenministerium (BMI) wurden zwischen Februar und Anfang Januar 2023 über eine Million Geflüchtete aus der Ukraine im Ausländerzentralregister (AZR) registriert. Etwa 96 Prozent von ihnen waren ukrainische Staatsangehörige. Unter den Erwach­senen waren rund 70 Prozent Frauen, 34 Pro­zent waren Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren, die meis­ten davon im Grund­schulalter. Wie viele Geflüchtete aus der Ukraine sich tatsäch­lich in Deutschland aufhalten, ist nicht genau zu beziffern. So lässt sich oft nicht feststellen, ob die im AZR registrierten Personen in die Ukraine zurückgekehrt oder in andere EU-Staaten weitergereist sind.a

Im Dezember 2022 waren nach Angaben der BA bei den Job­centern etwa 418.000 Personen (im erwerbsfähigen Alter) aus der Ukraine arbeitssuchend, 185.000 arbeitslos und 120.000 sozial­versicherungspflichtig beschäftigt gemeldet.b

Auch wenn die EU-Richtlinie und deren Umsetzung in deut­sches Recht eine weitgehende Teilhabe am Arbeitsmarkt ermög­lichen, bestehen auch für Ukrainerinnen und Ukrainer weiterhin struk­turelle Hürden, insbesondere in Bezug auf Wohnraum, Sprach­kenntnisse, Anerkennung von Qualifikationen und Kinder­betreuung.

Mithin ist unklar, welchen Beitrag die Geflüchteten mittelfristig zur Dämpfung des Arbeitskräftebedarfs in Deutschland leisten können, nicht zuletzt, weil ein Großteil der Geflüchteten möglicherweise nur vorübergehend in Deutschland bleiben und in die Ukraine zurückkehren wird, sobald die Kämpfe beendet sind. So gaben im Juli 2022 insgesamt 46 Prozent der Befragten an, dass sie innerhalb der nächsten zwei Jahre wieder in die Ukraine zurückgehen wollen.c

aMediendienst Integration, Flüchtlinge aus der Ukraine, Online-Stand: Januar 2023.

b BA, Auswirkungen der Fluchtmigration aus der Ukraine auf den Arbeitsmarkt und die Grundsicherung für Arbeitssuchende, Nürnberg, Januar 2023 (Berichte: Arbeitsmarkt kompakt, Dezember 2022), S. 7, 9.

c Tetyana Panchenko, »Prospects for Integration of Ukrainian Refugees into the German Labor Market: Results of the ifo Online Survey«, in: CESifo Forum, 23 (2022), 4, S. 67–75 (71).

Langfristige Prognosen des künftigen Arbeitskräfte­bedarfs beruhen in der Regel auf Bevölkerungsvoraus­berechnungen des Statistischen Bundesamts und auf Schätzungen zur Entwicklung des Erwerbspersonenpotenzials und des zukünftigen Wanderungssaldos. Nach den aktuellen Prognosen des IAB wird das Erwerbspersonenpotenzial ohne Zuwanderung bis 2035 um mehr als 7 Millionen Menschen sinken. Selbst bei einer steigenden Erwerbsquote von Frauen und Älteren wird es so stark schrumpfen, dass einer Abnahme der erwerbsfähigen Bevölkerung langfristig nur mit einer jährlichen Nettozuwanderung von 400.000 Menschen entgegengewirkt werden kann.22

Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) geht davon aus, dass allein zwischen 2022 und 2026 für 240.000 zu besetzende qualifizierte Arbeitsplätze keine Arbeitskräfte in Deutschland zur Verfügung stehen werden. Mittelfristig seien Eng­pässe vor allem in IT-Berufen, in von der Pandemie stark betroffenen Berufen wie Gastronomie und Hotel­lerie, im Sozial- bzw. Gesundheits- und Pflege­bereich sowie in technischen und handwerklichen Berufen zu erwarten.23 Auch die Bemühungen um die Erreichung der Klimaziele werden den künftigen Arbeitskräftebedarf weiter ansteigen lassen. So dürfte unter anderem der Ausbau der regenerativen Energie­erzeugung zu einem erheblichen Mehrbedarf an Fach­kräften vor allem am Bau, im Handwerk und MINT-Bereich führen.24

Dabei ist zu bedenken, dass gerade mittelfristige Prognosen mit erheblichen Unsicherheiten behaftet sind. Unklar ist vor allem, wie sich die gegenwärtige Fluchtzuwanderung aus der Ukraine auf den Arbeits­kräftebedarf auswirken wird. Vom Verlauf des Krieges wird abhängen, ob weitere Menschen aus der Ukraine kommen oder ob viele sich zur Rückwanderung ent­scheiden werden. Zudem hängt die Arbeitsmarkt­integration der Geflüchteten entscheidend von der An­erkennung ihrer Berufserfahrungen und ‑ab­schlüsse ab (vgl. Infokasten 2, S. 11).

Zwar gibt es noch erhebliche Potenziale in Deutsch­land selbst – etwa bei der Erwerbsbeteiligung von Frauen, Älteren, Menschen mit Behinderungen und Arbeitslosen, bei der Verbesserung von Bildung, Aus- und Weiterbildung.25 Gleichwohl ist davon auszugehen, dass das inländische Erwerbspersonenpotenzial nicht annähernd ausreichen wird, um den Rückgang der Erwerbsbevölkerung in Deutschland zu kompensieren.26

Zuwanderungspotenziale für den deutschen Arbeitsmarkt

Vor diesem Hintergrund ist Deutschland auf Zuwan­de­rung aus dem Ausland angewiesen. Zahlreiche Studien zeigen, dass Geflüchtete sowie Migrantinnen und Migranten aus EU- und Drittstaaten bereits seit Jahren einen wichtigen Beitrag zur Fachkräftesicherung in Deutschland leisten. Dies betrifft vor allem die Fachkraftberufe mit den größten Arbeitskräfte­lücken.27 Die Bedeutung ausländischer Arbeitskräfte für den deutschen Arbeitsmarkt zeigt sich auch an deren zunehmendem Beschäftigtenanteil. Dieser steigt seit Jahren und lag im Jahr 2021 doppelt so hoch wie 2010. Auch der kurzfristige Beschäftigungseinbruch während der Corona-Pandemie hat daran grundsätzlich nichts geändert.28

Zuwanderung aus EU-Staaten

2021 zogen laut Ausländerzentralregister (AZR) 469.000 nichtdeutsche EU-Staatsangehörige nach Deutschland, zwei Drittel davon aus Rumänien, Polen und Bulgarien. Diese EU-Binnenzuwanderung machte 2021 allerdings nur 47 Prozent der gesamten Zuwan­derung nach Deutschland aus, es überwog die Zuwan­derung aus Drittstaaten. Zudem sind die EU-Zuzüge bereits seit 2015 rückläufig. Die Nettozuwanderung vor allem aus Rumänien, Bulgarien und Polen hat stark abgenommen.29

Die Gründe für diesen Rückgang liegen vor allem darin, dass sich der »Anfangseffekt« der EU-Erwei­terungsphasen im Laufe der Zeit abgeschwächt hat. Die Migrationswilligen haben diese Länder schon weit­gehend verlassen, und die dortige Arbeitsbevölkerung ist bereits geschrumpft und wird dies auch weiterhin tun. Darüber hinaus werden viele dieser Länder mittel- und langfristig eine noch problematischere demografische Entwicklung als Deutschland erfahren, insbesondere die mittel- und osteuropäischen Länder. Schätzungen zufolge wird dort der Bevölkerungsanteil von Menschen im erwerbsfähigen Alter bis 2050 im Vergleich zu 2020 um mehr als ein Zehntel abnehmen.30 Insofern ist davon auszugehen, dass die Arbeitsmigration aus der EU nach Deutschland weiter nachlassen wird. Die langfristigen Migra­tionspotenziale aus EU-Staaten können daher ledig­lich als moderat eingeschätzt werden.31

Zudem konkurrieren die EU-Staaten untereinander und mit anderen Industriestaaten zunehmend um qualifizierte Arbeitskräfte. Viele EU-Staaten haben in jüngerer Zeit ihre Arbeitsmigrationspolitik reformiert und die Zugangsmöglichkeiten für ausländische Ar­beits­kräfte gelockert. Außerdem bemühen sich Län­der mit starker Abwanderung wie Lettland, Spanien und Portugal zusehends, Ausgewanderte durch Rückkehrhilfen und Steuererleichterungen zurückzuholen und Migrantinnen und Migranten im Land zu halten.32

Zuwanderung aus Drittstaaten

Vor diesem Hintergrund gewinnt die Zuwanderung aus Drittstaaten für Deutschland an Bedeutung. So zogen im Jahr 2021 laut AZR 530.800 Personen aus Nicht-EU-Staaten für einen mindestens dreimonatigen Aufenthalt nach Deutschland. Mit 53 Prozent mach­ten somit die Zuzüge aus Drittstaaten den größten Teil der Zuwanderung nach Deutschland aus. Die Menschen kamen vor allem aus Syrien (55.500), Af­ghanistan (42.300), der Türkei (35.500) und Indien (32.400).33

Erwerbs- und Bildungsmigration auf niedrigem Niveau

Im Jahr 2021 erhielten 166.500 Drittstaatsangehörige erstmals einen Aufenthaltstitel für Bildungs- und Erwerbszwecke: Zum Zweck der Erwerbstätigkeit wurden 85.000 befristete Aufenthaltstitel und 22.800 Niederlassungserlaubnisse erteilt, zu Bildungs­zwecken reisten 58.800 Personen ein, der größte Teil von ihnen, um in Deutschland zu studieren.34

Der wichtigste Aufenthaltstitel bei der Erwerbsmigration ist nach wie vor die Blaue Karte EU.

Der wichtigste Aufenthaltstitel bei der Erwerbs­migration ist auch weiterhin die Blaue Karte EU, die im Jahr 2021 etwa 24.500 Personen nutzten, also fast ein Drittel der Erwerbsmigrantinnen und ‑migranten. Mit deutlichem Abstand folgten die durch das Fach­kräfteeinwanderungsgesetz 2020 eingeführten befris­teten Aufenthaltstitel für Fachkräfte mit akademischer Ausbildung (13.500) bzw. mit Berufsausbildung (11.200) sowie die Westbalkanregelung, über die etwa 3.000 Personen eine befristete Aufenthaltserlaubnis erhalten haben. In der Gesamtbetrachtung wird deut­lich, wie stark die Bildungsmigration zur Erwerbs­migra­tion beigetragen hat: Im Jahr 2021 konnten etwa 28.800 Personen vom Status einer Aufenthaltserlaubnis für eine Bildungsmaßnahme zu einem Aufenthaltstitel zur Arbeitsplatzsuche bzw. direkt in die Erwerbstätigkeit wechseln.35 Bei den verschiedenen Zu­wanderungs­titeln sind zudem erhebliche geschlechts­spezifische Unterschiede zu beobachten: So war 2021 der Anteil von Frauen bei der Blauen Karte EU mit 28 Pro­zent besonders niedrig, bei Fachkräften mit Berufs­ausbildung, großenteils in der Alten- und Kran­kenpflege, hingegen besonders hoch.36

Die Trends werden durch Analysen der OECD be­stä­tigt. Sie zeigen, dass Deutschland aufgrund attrak­tiver Studienbedingungen inzwischen weltweit das wich­tigste nichtenglischsprachige Land für internatio­nale Studierende ist. Von ihnen verfügt mehr als die Hälfte fünf Jahre nach der Einreise über einen ande­ren Aufenthaltstitel, vor allem für Erwerbszwecke.37

Hauptherkunftsländer der Erwerbsmigration

Im Jahr 2021 führten Staatsangehörige Indiens mit einem Anteil von 12 Prozent die Ersterteilungen im Rahmen der gesamten Erwerbsmigration an. Es folg­ten die USA (7 Prozent), die Türkei (7 Prozent) und China (5 Prozent). Die Westbalkanstaaten machten gemeinsam 17 Prozent aus. Die Erwerbsmigration war überwiegend männlich (65 Prozent).38

Wie schon bei der gesamten Erwerbsmigration stellten indische Staatsangehörige 2021 die größte Gruppe an Fachkräften mit akademischer Ausbildung, bei der Blauen Karte EU lag ihr Anteil sogar bei einem Viertel. In der Gruppe der Fachkräfte mit Berufsausbildung stammte hingegen knapp ein Vier­tel von den Philippinen und etwa die Hälfte aus den Westbalkanstaaten. Mit 62 Prozent sind in dieser Gruppe deutlich mehr Frauen vertreten, was zusam­men mit dem hohen Anteil philippinischer Staats­angehöriger (Frauenanteil 72 Prozent) auf das große Gewicht des Pflegesektors hinweist.39

Kaum Erwerbsmigration aus afrikanischen Staaten

Aus afrikanischen Ländern gibt es hingegen bis jetzt keine nennenswerte Arbeitsmigration. Lediglich Ägypten lag 2021 bei der Zuwanderung von Fachkräften mit akademischer Ausbildung an neunter Stelle der wichtigsten Herkunftsländer. Auch hier wurden die meisten Titel über die Blaue Karte EU vergeben.40

Dies unterstreicht, dass deutsche Unternehmen bis­lang nur sehr zurückhaltend in Afrika anwerben41 – obwohl gleichzeitig über die Arbeitskräftepotenziale Afrikas diskutiert wird, insbesondere im Hinblick auf die demografische und wirtschaftliche Entwicklung des Kontinents.42 Nach Projektionen der Vereinten Nationen wird sich die Bevölkerung Afrikas zwischen 2015 und 2050 von 1,2 Milliarden Menschen auf 2,5 Milliarden mehr als verdoppeln, insbesondere in Sub­sahara-Afrika.43 Einige Studien prognostizieren, dass es angesichts des sogenannten Jugendüberhangs – definiert als der Anteil der Bevölkerung von 15 bis 29 Jahren im Verhältnis zur gesamten erwachsenen Bevölkerung – in vielen Regionen Afrikas schwierig sein könnte, die demografischen Potenziale auszuschöp­fen, weil es keine Beschäftigungsaussichten gibt und die Bildungs- und Ausbildungsangebote sowie die politische Teilhabe für die junge Bevölkerung begrenzt sind.44

Fluchtmigration und Erwerbstätigkeit

Die Statistik zu Aufenthaltstiteln zum Zweck der Erwerbstätigkeit ist im Hinblick auf die Bedeutung der Zuwanderung aus Drittstaaten für den deutschen Arbeitsmarkt jedoch nur bedingt aussagekräftig. Auch Aufenthaltstitel, die aus völkerrechtlichen, humani­tären oder politischen Gründen erteilt werden, berech­tigen unter bestimmten Bedingungen zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit.45 Tatsächlich ist die Zuwanderung aus Drittstaaten nur zu einem geringen Teil erwerbsbezogen. Im Jahr 2021 betrug dieser Anteil an der gesamten Zuwanderung aus Drittstaaten lediglich 7,6 Prozent.46 Auch die Beschäftigungsstatistik zeigt, dass im Juni 2022 von den rund 2,5 Millio­nen sozial­versicherungspflichtig Beschäftigten aus Drittstaaten ein großer Teil (484.000 Personen) aus Asylherkunftsländern stammte.47 Bei der Einschätzung des Erwerbs­potenzials müssen daher auch an­dere Gruppen von Drittstaatsangehörigen berücksichtigt werden, wie etwa anerkannte Flüchtlinge und subsidiär Schutz­berechtigte, geduldete Personen oder Menschen, die im Rahmen des Familiennachzugs nach Deutschland kommen.48

Geflüchtete leisten bereits seit Jahren einen wichtigen Beitrag zur Fachkräfte- und Nachwuchssicherung in Deutschland.

Neuere Studien zeigen, dass Geflüchtete bereits seit Jahren einen wichtigen Beitrag zur Fachkräfte- und Nachwuchssicherung in Deutschland leisten. Unter anderem weisen Analysen des IAB und der Fried­rich-Ebert-Stiftung nach, dass deren Arbeitsmarkt­integration bisher recht erfolgreich war. Im Jahr 2018 waren 60 Prozent der Geflüchteten fünf Jahre nach ihrer Ankunft in Deutschland erwerbstätig oder nahmen an einer Bildungs-, Integrations- oder arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen teil.49 Mehr als die Hälfte von ihnen waren als Fachkraft oder in Berufen mit höherem Anforderungsniveau beschäftigt, 44 Prozent in sogenannten Helfer- und Anlern­tätigkeiten.50 Darüber hinaus stieg auch die Zahl der als Fachkraft beschäftigten Geflüchteten selbst im Jahr 2020, obwohl sie überproportional in Dienst­leistungsberufen arbeiteten, die von der Covid-Pan­demie stark betroffen waren.51

Die Zahl der Ausbildungsanfängerinnen und ‑an­fän­ger aus einem der acht wichtigsten Asylherkunftsländer hat sich von 2009 bis 2019 nahezu verzwanzig­facht, von 1.000 auf 21.000 Personen. Asylsuchende, die zwischen 2013 und 2016 nach Deutschland ge­kommen sind, haben dabei anteilig mehr Ausbildungen in stark nachgefragten Berufen oder in Engpassberufen begonnen (68,6 Prozent) als Personen mit deutscher Staatsangehörigkeit (57,9 Prozent).52

Insgesamt machen die Zuzüge aus Drittstaaten bereits heute den größten Anteil an der Zuwanderung nach Deutschland aus. Da der Wanderungssaldo der EU-Binnenmigration seit einigen Jahren stagniert, wird die Zuwanderung aus Drittstaaten in Zukunft eine immer wichtigere Rolle bei der Deckung des steigenden Arbeitskräftebedarfs spielen. Allerdings fällt die Erwerbsmigration aus Drittstaaten bislang noch sehr gering aus, besonders im Vergleich zu anderen Formen der Zuwanderung, wie der von Ge­flüchteten oder von Familienangehörigen. Gleichzeitig ist das in Deutschland vorhandene Potenzial an Asylbewerberinnen und ‑bewerbern, anerkannten Schutzberechtigten und Geduldeten von nicht zu unterschätzender Bedeutung für den Arbeitsmarkt. Diese Menschen leisten schon jetzt einen Beitrag zur Arbeitskräftesicherung, was in Zukunft noch stärker gefördert und genutzt werden sollte. Erste Schritte auf diesem Weg stellen das im Juli 2022 beschlossene »Chancen-Aufenthaltsrecht« dar sowie die derzeitigen Bemühungen um eine schnelle Arbeitsmarktintegration der aus der Ukraine Geflüchteten.

Migrationspolitischer Rahmen der Arbeitskräfteanwerbung

Seit der Jahrtausendwende haben sich alle Bundes­regierungen bemüht, die Zuwanderung von Arbeitskräften zu fördern und entsprechende Reformen an­zustoßen. Tatsächlich ist Deutschland in dieser Zeit vom »Einwanderungsland wider Willen« der Kohl-Ära schrittweise zu einem »modernen Einwanderungsland«53 geworden – eine Entwicklung, die die OECD bereits 2013 anerkannte, als sie davon sprach, dass Deutschland inzwischen die großzügigsten Zuwanderungsregelungen für Fachkräfte und Hochqualifizierte aller OECD-Länder habe.54 Gleichwohl haben die tat­sächlichen Zuwanderungszahlen bislang in keiner Phase die politischen Erwartungen der früheren wie auch der amtierenden Bundesregierung erfüllt, die Suche nach Möglichkeiten zur Förderung der Arbeits­migration hält an.

Die im Jahr 2000 von der damaligen rot-grünen Regie­rungskoalition angestoßene Reform des Staats­angehörigkeitsrechts, die Greencard-Regelung von 2001 und die Reform des Aufenthaltsgesetzes 2004 haben den jahrzehntelangen Stillstand in der deut­schen Migrationspolitik beendet und die Weichen für eine moderne Migrationspolitik gestellt. An diesen Reformen haben sich im Laufe der Zeit alle wichtigen politischen Kräfte beteiligt und das neue Einwanderungsrecht in einem langwierigen und schwierigen Prozess parteiübergreifend ausgehandelt. Inzwischen sind die Notwendigkeit und die Richtung der Refor­men unter fast allen im Bundestag vertretenen Par­teien unumstritten, mit Ausnahme der Alternative für Deutschland (AfD).

Deutschland hat sich im vergangenen Jahrzehnt schrittweise für Arbeitskräftezuwanderung geöffnet.

Auf diesem Weg haben die Bundesregierungen im vergangenen Jahrzehnt wichtige strategische Ent­schei­dungen zur Förderung der Arbeitskräftezuwanderung getroffen, insbesondere mit dem Konzept zur Fachkräftesicherung von 2011,55 dem Fortschritts­bericht zum Fachkräftekonzept von 201756 und der Fachkräftestrategie von 2018.57 All diese Zielbestimmungen sehen neben der Aktivierung einheimischer Potenziale die Förderung von Zuwanderung vor. Die Bundesländer haben ebenfalls Strategien zur Fach­kräftesicherung entwickelt, etwa zur Anerkennung ausländischer Berufsabschlüsse und zur Anwerbung ausländischer Studierender.58

Mit der Fachkräftestrategie von 2018 wurden kon­krete Maßnahmen beschlossen, unter anderem die Entwicklung des 2020 in Kraft getretenen Fachkräfte­einwanderungsgesetzes, um Fachkräfte aus Drittstaaten für Deutschland zu interessieren. Hinzu kommen zahlreiche Begleitmaßnahmen wie die Ausweitung von Sprachkursangeboten im Ausland, zielgerichtete Werbekampagnen, Informationsangebote und der Ausbau von (Nach-)Qualifizierungsmöglichkeiten in Deutschland.59 Ergänzend vereinbarte die Bundes­regierung im Dezember 2019 eine Fachkräftegewinnungsstrategie,60 die eine Ausweitung der Zusammen­arbeit mit Ländern vorsieht, in denen Fachkräfte­potenziale vorhanden sind.

Im Oktober 2022 schließlich beschloss das Kabinett eine neue Fachkräftestrategie, mit der in der Einwan­de­rungspolitik eine Fortentwicklung des FEG und wei­tere Verwaltungsreformen bei der Arbeitskräfte­anwerbung angestrebt werden.61 Ende November 2022 folgten Eckpunkte für Rechtsänderungen zur Fachkräfteeinwanderung aus Drittstaaten mit dem Ziel, den Eintritt in den deutschen Arbeitsmarkt für entsprechende Fachkräfte zu erleichtern und zu beschleunigen.62

Aktueller Rechtsrahmen

Qualifizierte Zuwanderung

Seit 2012 haben die Bundesregierungen vor allem die Zuwanderungsbedingungen für hochqualifizierte Arbeitskräfte mit akademischem Abschluss gelockert. Zum einen wurden neue befristete Aufenthaltstitel geschaffen, etwa mit der Einführung der Blauen Karte EU 2012 oder der Intra Corporate Transfer (ICT)-Karte 2014, die Akademikerinnen und Akademikern attrak­tivere Zuwanderungswege eröffnen sollten. Zum anderen können Absolventinnen und Absolventen ausländischer Hochschulen seit 2012 nach Deutschland einreisen, um einen Arbeitsplatz zu suchen. Nach zwei Jahren in einem Job, der ihrer Qualifika­tion entspricht, steht es ihnen frei, eine Nieder­lassungserlaubnis zu beantragen.63

Nichtakademischen Fachkräften aus Drittstaaten wurde die Zuwanderung im Zuge dieser Reformen zu­nächst nur verhalten erleichtert. So erhielten Arbeits­kräfte mit qualifizierter Berufsausbildung im Jahr 2013 die Möglichkeit, zur Ausübung bestimmter Man­gelberufe nach Deutschland einzureisen.64

Anerkennungsgesetz

Im Jahr 2012 trat auch das Gesetz zur Verbesserung der Feststellung und Anerkennung im Ausland erwor­bener Berufsqualifikationen65 in Kraft. Für sämtliche bundesrechtlich geregelten Berufe in Deutschland (es sind mehr als 600) wurden damit einheitliche Verfah­ren festgelegt, um die Gleichwertigkeit der ausländischen Berufsabschlüsse mit deutschen Abschlüssen beur­teilen zu können. Die Bundesländer haben ergänzend für Berufe wie Lehrerinnen und Lehrer oder soziale Berufe, die in ihren Zuständigkeitsbereich fallen, eigene Anerkennungsgesetze erlassen. Damit wurde ein Rechtsanspruch auf die Durch­führung von Anerkennungsverfahren auch für Dritt­staatsangehörige geschaffen.66 Im Zuge des FEG ist die Anerkennung ausländischer Berufsqualifikationen in vielen Fällen die zentrale Voraussetzung für die Zuwan­derung von Fachkräften aus Drittstaaten.

Im Jahr 2021 stammten drei Viertel der Anträge auf Anerkennung bundesgeregelter Berufe von Dritt­staatsangehörigen – am häufigsten aus Bosnien und Herzegowina, den Philippinen und Serbien. Zwei Drittel der Anträge ent­fielen dabei auf medizinische Berufe, gefolgt von nichtreglementierten Berufen wie Elektronikerinnen und Elektronikern sowie Köchinnen und Köchen. Insgesamt wurde 2021 über 39.300 Anerkennungsverfahren auf Bundesebene entschieden. In weniger als der Hälfte der Anträge aus Drittstaaten galten die Abschlüsse als gleichwertig, bei jenen von EU-Bürgerinnen und ‑Bürgern war das überwiegend der Fall.67

Die Zwischenbilanz nach zehn Jahren Anerkennungsgesetz lautet, dass es sich positiv auf die Beschäf­tigtenquote und die Verdiensthöhe ausgewirkt und die Arbeitsmarktintegration von Zugewanderten ver­bessert hat, dass aber weitere Vereinfachungen nötig sind.68 Das bestätigt auch die Bundesregierung, wenn sie in ihrer neuen Fachkräftestrategie darauf hin­weist, dass Eingewanderte häufiger unter ihrem Qua­li­fikationsniveau arbeiten als die Gesamtbevölkerung.69

Fachkräfteeinwanderungsgesetz (FEG)

Das am 1. März 2020 in Kraft getretene FEG soll die Zuwanderung von Drittstaatsangehörigen zum Zweck der Erwerbstätigkeit erleichtern und neue Perspek­tiven für die Anwerbung qualifizierter Arbeitskräfte aus Drittstaaten schaffen.70 Dazu wurde die Einreise von Auszubildenden aus Drittstaaten erleichtert, ebenso die Suche zur Aufnahme einer qualifizierten betrieblichen oder schulischen Berufsausbildung. Als weitreichendste Änderung galt jedoch die Schaffung eines einheitlichen Fachkräftebegriffs, der seitdem neben Hochschulabsolventinnen und ‑absolventen auch Personen mit qualifizierter Berufsausbildung umfasst.

Das FEG hat zudem ein beschleunigtes Fachkräfteverfahren eingeführt, um das Verwaltungsprozedere bis zur Einreise zu verkürzen. Dieses Verfahren steht auch Auszubildenden und Menschen offen, die eine Quali­fizierungsmaßnahme absolvieren wollen, aller­dings nur, wenn das beschleunigte Verfahren von Un­ter­nehmen, die im Ausland rekrutieren, gegen eine Gebühr eingeleitet wird. Die Fachkraft selbst kann das bislang nicht tun.71

Generell entfällt mit Einführung des FEG die Vor­rangprüfung durch die BA. Aufgehoben wurde auch die Regelung zu Engpassberufen: So ist der Zugang für Fachkräfte mit nichtakademischer Ausbildung nicht mehr nur auf Berufe beschränkt, in denen laut der BA Engpässe bestehen. Voraussetzung für die Ein­reise von Fachkräften aus Drittstaaten ist jedoch, dass ein Arbeitsplatzangebot vorliegt und die Berufs- und Bildungs­abschlüsse als gleichwertig mit deutschen Standards anerkannt sind.72

Allerdings sieht das FEG unter bestimmten Voraussetzungen Ausnahmen vor:

1)

bei der Einreise zur Arbeitsplatzsuche,

2)

beim Ersatz fehlender Qualifikationen durch aus­geprägte berufspraktische Erfahrung für ausgewählte Berufe in der Informations- und Kommunika­tionstechnologie (IKT);

3)

bei der Einreise von Personen mit Teilanerkennung ihrer Berufs­abschlüs­se zur Durchführung einer Nachqualifizierung (sogenannte Qualifizierungs­maßnahme) zwecks Vollanerkennung;

4)

bei der Einreise im Zuge von Vermittlungsabspra­chen der BA für Fachkräfte mit einer BA-Partner­verwaltung in einem Herkunftsland (vgl. Info­kasten 3).

Bilanziert man das FEG, ist zu bedenken, dass dessen Anwendung durch die Covid-19-Pandemie erschwert wurde. Es lässt sich bislang noch nicht abschätzen, wie es sich mittelfristig nennenswert auf die Erwerbsmigration auswirken wird. Bisher blieb jedenfalls die Zahl der eingewanderten Fachkräfte deut­lich hinter den politischen Erwartungen zurück, was auch an den generellen Vorbehalten der Unter­nehmen gegenüber einer Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte in Drittstaaten liegen dürfte.73

Zuwanderung geringer Qualifizierter

Für geringer qualifizierte Zuwanderungswillige gibt es nach wie vor nur sehr begrenzte und befristete Möglichkeiten, die die Bundesregierung ausweiten muss, wenn sie dem Bedarf in diesem Bereich gerecht werden will.74

Westbalkanregelung

Das zentrale Instrument für die Zuwanderung von Drittstaatsangehörigen ohne qualifizierte Berufs­ausbildung oder akademischen Abschluss ist die West­balkanregelung. Sie ermöglichte 2016 erst­mals eine breitere Erwerbsmigration aus Drittstaaten.75 Den Hintergrund bildete ein wachsender Zuwanderungswille von Menschen aus dem Westbalkan, die in Asyl­verfahren aber nur sehr selten als schutzbedürftig anerkannt wurden. 2014 und 2015 erklärte man die Länder zu sicheren Herkunftsstaaten, eine poli­tisch in Bundesregierung und Bundesrat umstrittene Entscheidung. Als Kompromiss wurde zeitgleich die Westbalkanregelung verabschiedet.76 Mit dieser Son­derregelung erhielten auch ungelernte Arbeitskräfte aus Albanien, Bosnien und Herzegowina, dem Kosovo, aus Nordmazedonien, Montenegro und Serbien eine Möglichkeit, ohne Prüfung von Qualifikation oder Sprachkenntnissen legal einzuwandern. Notwendig ist allerdings vor Erteilung des Einreisevisums ein Arbeitsplatzangebot eines deutschen Unternehmens, dem die BA zugestimmt hat.

Infokasten 3

Vermittlungsabsprachen für Fachkräfte

Die BA kann mit Drittstaaten Vermittlungsabsprachen (§ 16d Abs. 4 AufenthG) über die Rekrutierung und Ver­mittlung von Fachkräften treffen. Bisher wurden auf dieser Grundlage Vermittlungsvereinbarungen mit Indo­nesien (Juli 2021), dem indischen Bundesstaat Kerala (Dezember 2021) und mit Jordanien (Mai 2022) zu Pflege­kräften geschlossen. Die Umsetzung der Absprachen er­folgt im Rahmen des »Triple-Win«-Programms der Gesell­schaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ),a in dem bisher insgesamt 3.561 Fachkräfte und 198 Auszubildende eine Beschäftigung bzw. Ausbildung in Deutschland auf­genommen haben (Stand Mai 2022).b Darüber hinaus gab es weitere Absprachen mit Mexiko (Pflegekräfte sowie Köche und Köchinnen) und Kolumbien (Elektronikerinnen und Elektroniker sowie Gärtnerinnen und Gärtner).

Alle diese Länder wurden auch in der Potenzialanalyse der BA als Kandidaten für die künftige Anwerbung von Fachkräften identifiziert. Die Absprachen ermöglichen es Fachkräften in bestimmten Berufen, das Verfahren zur Anerkennung ihres Abschlusses erst nach ihrer Einreise nach Deutschland einzuleiten – ansonsten muss der An­erkennungsbescheid vor der Visumvergabe vorliegen.c

Im Rahmen des Triple-Win-Projekts wurden auch Vermittlungsabsprachen mit den Philippinen, Bosnien Herzegowina und Tunesien getroffen, die bereits vor dem Inkrafttreten des FEG unterzeichnet wurden. Sie haben weiterhin Gültigkeit, da sie im Einklang mit den Anfor­derungen des § 16d Abs. 4 AufenthG stehen. Darüber hinaus hat die BA Vereinbarungen für Pflegeberufe mit El Salvador und Vietnam verhandelt.d

a GIZ, »Nachhaltig ausgerichtete Gewinnung von Pflege­kräften (Triple Win)«, Stand: Januar 2022.

b BA, »Bundesagentur für Arbeit unterzeichnet Ver­mittlungsabsprache mit Jordanien«, Presseinfo, Nr. 4, 10.5.2022.

c BA, »Trotz Pandemie: Bundesagentur rekrutiert mehr Fachkräfte aus dem Ausland«, Presseinfo, Nr. 5, 20.1.2022.

d Deutscher Bundestag, Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion Die Linke. Grenzüberschreitende Abwerbung von Pflegekräften (Bundestags-Drucksache 20/2237), 8.6.2022.

Die Regelung wurde inzwischen zwei Mal verlängert und ist nun auf ein Kontingent von 25.000 Men­schen pro Jahr beschränkt und bis 2023 befristet. Laut Koalitionsvertrag und der neuen Fachkräftestrategie soll die Regelung entfristet werden. Darüber hinaus hat die Regierung in den kürzlich beschlossenen Eck­punkten zur Fachkräfteeinwanderung aus Dritt­staaten angekündigt, das Kontingentierungsniveau deutlich anzuheben und weitere Länder in die Rege­lung ein­zubeziehen.77 Während der Corona-Pandemie hatten Einreisen im Rahmen der Westbalkanregelung stark abgenommen, für das Berichtsjahr 2022 wird jedoch wieder ein deutlicher Anstieg erwartet.

Die Westbalkanregelung gilt als migrationspolitisches Erfolgsmodell.

Die Westbalkanregelung gilt als migrations­politisches Erfolgsmodell, obwohl ihre mittel- und lang­fristigen Folgen für den Arbeitsmarkt noch nicht abzusehen sind. Kritik gibt es an den langen Warte­zeiten bei der Visumerteilung, die im April 2020 bei fünf der sechs Auslandsvertretungen in den West­balkanstaaten über ein Jahr betragen haben sollen.78 Zudem stehen Befürchtungen vor einem Braindrain im Raum, auch wenn sich die weitere Entwicklung der Zuwanderung aus den Westbalkanstaaten nur schwer prognostizieren lässt. Es ist davon auszugehen, dass die Region in den kommenden zehn Jahren weiter qualifizierte Arbeitskräfte verlieren und dass sich die Abwanderung erst danach abschwächen wird. Laut German Marshall Fund (GMF) sind die West­balkanstaaten weltweit mit am stärksten von Braindrain betroffen. Serbien etwa habe in den letz­ten drei Jahrzehnten 9 Prozent seiner Bürgerinnen und Bürger verloren, Nordmazedonien 10 Prozent, in Bosnien und Herzegowina seien es 24 Prozent und in Albanien 37 Prozent – meist junge, gebil­dete und qualifizierte Menschen.79

Bilaterale Vermittlungsabsprachen für Saisonarbeitskräfte

Darüber hinaus kann die BA mit der Arbeitsverwaltung eines Drittstaates bilaterale Vermittlungsabsprachen für Saisonarbeitskräfte in Landwirtschaft und Gastronomie treffen. Diese erlauben eine auf maxi­mal sechs Monate im Jahr befristete visumfreie Ein­reise mit der Arbeitserlaubnis der BA ohne Vorrang­prüfung. Die Arbeitskräfte dürfen dabei nicht schlechter behandelt werden als vergleichbare ein­heimische Arbeitnehmerinnen und ‑nehmer, etwa in Bezug auf die Arbeitszeiten oder Löhne.80 Seit Januar 2020 besteht eine solche Absprache mit der georgischen Arbeitsverwaltung, die sich auf die Landwirtschaft und einen Zeitraum von 90 Tagen innerhalb von 180 Tagen beschränkt. Die ersten georgischen Saisonarbeitskräfte reisten 2021 ein. Das Kontingent soll jährlich angepasst werden, derzeit liegt es bei 5.000 Personen – allerdings wurde diese Obergrenze längst nicht erreicht. Im Juli 2021 hat die BA auch eine Vermittlungsabsprache mit der Republik Moldau über ein Kontingent von 500 Saisonarbeitskräften zur Erntesaison 2022 getroffen81 und steht außerdem mit weiteren Drittstaaten wie Bosnien-Herzegowina oder Albanien diesbezüglich in Kontakt, nicht jedoch mit Partnerländern außerhalb Europas.

Jüngste Entwicklungen und Reformbemühungen

Die derzeit in Deutschland amtierende Regierungs­koalition hat in ihrem Koalitionsvertrag vom Novem­ber 2021 einen »Paradigmenwechsel« in der deutschen Migrations- und Integrationspolitik angekün­digt. Unter anderem soll dem bisher überwiegend nachfrageorientierten System der Arbeitsmigration eine angebotsorientierte Säule hinzugefügt werden, mit einer auf einem Punktesystem basierenden »Chancenkarte«, die auch Fachkräften ohne Arbeitsangebot den Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt ermöglichen soll. Zudem ist geplant, die Blaue Karte EU auch Menschen mit nichtakademischen Berufen zugänglich zu machen und zeitliche Begrenzungen in den geltenden Arbeitsmigrationsregelungen aufzuhe­ben. Hürden für die Anerkennung von Qualifikationen sollen gesenkt, Bürokratie abgebaut, Visaverfah­ren und Verfahren generell beschleunigt werden.82

Im Juni 2022 hat die Bundesregierung ihr erstes Migrationspaket mit dem Ziel verabschiedet, unter anderem Kettenduldungen zu beenden, den Fami­liennachzug zu erleichtern und Asylbewerberinnen und ‑bewerbern einen besseren Zugang zu Sprach- und Integrationskursen zu bieten. Im neuen Eckpunkte­papier der Bundesregierung zur Fachkräfteeinwande­rung sind zudem weitere Gesetzesänderungen zur vereinfachten Anwerbung und Einreise von Arbeitskräften aus Drittstaaten vorgesehen. So sollen Fach­kräfte unabhängig von ihrer spezifischen Berufs­ausbildung künftig jede qualifizierte Beschäftigung in nichtreglementierten Berufen ausüben können (»Fachkräftesäule«). Zudem soll Fachkräften unter bestimmten Bedingungen auch ohne die oft langwierige und aufwändige formale Anerkennung auslän­discher Berufsabschlüsse die Einreise ermöglicht werden (»Erfahrungssäule«). Auch die Einführung der im Koalitionsvertrag angekündigten »Chancenkarte« zur Arbeitsplatzsuche auf Grundlage eines Punkte­systems mit Kriterien wie Qualifikation, Sprachkennt­nissen, Berufserfahrung, Deutschlandbezug und Alter (»Potenzialsäule«) wird konkretisiert. Im Gegensatz zu den Reformen der Vorgängerregierung will die Ampel-Koalition zudem die vorübergehende und dauerhafte Zuwanderung geringer qualifizierter Arbeitskräfte für die Beschäftigung in bestimmten Branchen ermög­lichen, wenn dort ein Arbeitsmarktbedarf festgestellt wird.83

Für die Umsetzung der Reformvorhaben sind administrative Kapazitäten erforderlich.

Diese angekündigten rechtlichen Änderungen allein werden aber aller Wahrscheinlichkeit nach die Probleme bei der Anwerbung von Arbeitskräften nicht beheben. Entscheidend wird sein, ob es für die Umsetzung dieser Reformvorhaben auch die erforder­liche administrative Unterstützung mit entsprechenden Kapazitäten gibt. Besonders problematisch sind nach wie vor die langen Wartezeiten für die Erteilung von Visa, aber auch die unzureichende Verwaltungs- und Infrastruktur in Deutschland. Die ohnehin chro­nisch überlasteten Ausländerbehörden waren im Jahr 2022 durch die Aufnahme der Geflüchteten aus der Ukraine noch zusätzlich gefordert.84 Bereits die Um­setzung der vielen migrationsrechtlichen Änderungen der letzten Jahre banden erhebliche Kapazitäten. Wei­tere Reformen und Aufgaben lassen sich nur dann sinnvoll umsetzen, wenn diese Engpässe angegangen werden.

Die Bundesregierung hat auf einige dieser Verwaltungsengpässe reagiert und beispielsweise in ihren kürzlich beschlossenen Eckpunkten angekündigt, noch in dieser Legislaturperiode den Papierversand von Antragsunterlagen für die Fachkräftezuwanderung durch ein vollständig digitales Visumverfahren zu ersetzen. Dazu müssen allerdings auch die Aus­länderbehörden in den Bundesländern am gleichen Strang ziehen. In der Vergangenheit war das nicht immer der Fall. Problematisch ist in diesem Zusammenhang, dass die im FEG vorgesehenen zentralen Ausländerbehörden für die Fachkräfteeinwanderung bisher nur in neun Bundesländern eingerichtet wurden.

Akteure und Strukturen der deutschen Anwerbepolitik

Die jüngeren Reformen in der deutschen Migrationspolitik zielen nicht zuletzt auf den Abbau büro­kratischer Barrieren bei der Anwerbung von Arbeitskräften und auf eine Verbesserung und Ausweitung der entsprechenden Informations- und Beratungs­angebote, Anwerbeinitiativen und Pilotprojekte. An­werbeerfolge hängen ebenso vom Engagement der Unternehmen ab. Es steht zu erwarten, dass viele deutsche Unternehmen Arbeitskräfte im Ausland nicht aus eigener Kraft werden rekrutieren können, sondern auf die Unterstützung staatlicher, mitunter auch nichtstaatlicher Akteure angewiesen sein wer­den. Aus den bisherigen Pilotprojekten lassen sich wertvolle Lehren für die Zusammenarbeit mit Her­kunftsländern ziehen.

Staatliche Anwerbeakteure

An der deutschen Anwerbepolitik ist eine große Zahl staatlicher Akteure beteiligt, darunter viele Minis­terien. Dabei gleicht die Arbeitskräfteanwerbung immer noch einem Flickenteppich, sich gegenseitig überschneidende Ressortinteressen verhindern über­dies eine Politik aus einem Guss.

Die Arbeitskräfteanwerbung gleicht noch immer einem Flickenteppich aus unterschiedlichen Ressortinteressen.

Gleichwohl hat Deutschland gute Erfahrungen mit ressortübergreifender Koordinierung gemacht, vor allem während der starken Zuwanderung der Jahre 2015/16. Zu den wichtigen Mechanismen zähl­ten dabei die Staatssekretärsrunden. Beim Thema Inte­gra­tionskurse haben das BMAS und das Bundes­ministe­rium des Innern und für Heimat (BMI) eng zu­sam­mengearbeitet und das »Gemeinsame Programm Sprache« umgesetzt, auch bei der Erarbeitung des FEG hat die ressortübergreifende Zusammenarbeit gut funktioniert. Andere Beispiele sind komplexer: So ist für die rechtlichen Grundlagen der Anerken­nung ausländischer Berufsqualifikation (Anerken­nungs­gesetz) das Bundesministerium für Forschung und Bildung (BMBF) zuständig, doch die Umsetzung liegt hauptsächlich bei der BA und dem BMAS.

Mit ihrer neuen Fachkräftestrategie hat die Bun­des­regierung eine Staatssekretärs-Steuerungsrunde ein­gerichtet, um Eckpunkte zur Fachkräftegewinnung zu erarbeiten.85 Eine solche anlassbezogene Koordi­nie­rung ist wertvoll, reicht aber nicht aus, um grund­legende außenpolitische und entwicklungsbezogene Fragen der Anwerbepolitik hinreichend zu bearbei­ten. Oft fehlte es überdies an den personellen Kapazi­täten und Ressourcen, die für einen kontinuierlichen Austausch mit anderen Ressorts und Institutionen notwendig gewesen wären. Dies zeigt sich in beson­derer Weise bei schwierigen Vorhaben wie trans­nationalen Ausbildungspartnerschaften, bei denen mehrere Ressorts eng untereinander sowie mit Akteu­ren im Partnerland kooperieren müssen.86 Grafik 1 (S. 24f) bietet einen Überblick über die wichtigsten Anwerbeakteure und ihre Aufgaben.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Struk­turen der Akteurslandschaft höchst komplex und die Zuständigkeiten oft nicht trennscharf sind. Insgesamt fehlt in Deutschland ein Gesamtregierungs­ansatz, der Interessenunterschiede zwischen den Minis­terien auszugleichen und zu moderieren ver­mag, Zuständigkeiten zuschreibt und die Aufgaben der nachgeordneten Institutionen bestimmt.87

Unternehmen als Anwerbeakteure

Bisher suchen nur wenige deutsche Unternehmen Fachkräfte im Ausland. Laut einer Umfrage der Ber­telsmann Stiftung setzten 2022 ähnlich wie in den Vorjahren nur 17 Prozent der befragten Unternehmen auf eine derartige Anwerbestrategie. Stattdessen bemühten sich die Unternehmen, Engpässe mit Hilfe des heimischen Erwerbspotenzials zu decken, vor allem durch Verbesserung der Arbeitsbedingungen, Förderung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf sowie durch Angebote zur Aus- und Weitbildung. Gleichzeitig glaubten nur wenige Befragte, dass dieses inländische Fachkräftepotenzial ausreichen würde. Gut zwei Drittel würden mehr staatliche Vermittlungsvereinbarungen zur Rekrutierung ausländischer Fach­kräfte und Auszubildender begrüßen. Unternehmen, die bereits im Ausland rekrutiert haben, bemängeln, bürokratische und rechtliche Hürden sowie sprachliche Verständigungsschwierigkeiten hätten zugenommen.88

Großunternehmen und multinationale Konzerne mit Sitz in Deutschland können häufig auf eigene Rekrutierungsstrukturen zurückgreifen bzw. Arbeits­kräfte unternehmensintern nach Deutschland ent­senden. Grundsätzlich ist die Anwerbung von Arbeits­kräften mit Kosten verbunden, die insbesondere bei der Anwerbung für geringer qualifizierte Tätigkeiten mit einer geringen Entlohnung ins Gewicht fallen. Zu den direkten Anwerbekosten kommen für die Unter­nehmen oft noch solche für Beratungen im Aufenthalts- und Steuerrecht oder für Reise, Umzug und Einrichtung. Großunternehmen können solche Auf­wendungen meist leichter aufbringen als kleine und mittlere Unternehmen (KMU), und sie engagieren auch häufiger nichtstaatliche Vermittlungsakteure, wenn sie nicht auf firmeneigene Strukturen zurückgreifen können.89

KMU hingegen nutzen generell bei der Suche nach Fachkräften immer häufiger digitale Rekrutierungsmöglichkeiten wie Webseiten, Karrierenetzwerke und Online-Stellenbörsen.90 Auch für die Anwerbung im Ausland wird die digitale Ansprache immer wichtiger. Das gilt für internationale Karrierenetzwerke wie Linkedin, aber auch für das von der Bundesregierung unterstützte Jobportal »Make it in Germany«.91

Gerade KMU sind bei der Rekrutierung aus dem Ausland auf Unterstützung angewiesen.

Gerade KMU sind bei der Rekrutierung aus dem Aus­land auf die Unterstützung der Industrie- und Handelskammern (IHK), Handwerkskammern und anderer Institutionen angewiesen. Das umfasst so­wohl Aufgaben im Inland, wie die Unterstützung der Integration von Arbeitskräften in die Betriebe oder die Anerkennung von im Ausland erworbenen Ab­schlüssen, als auch die Anwerbung im Ausland selbst. Die zentralen Akteure hier sind der Deutsche Indus­trie- und Handelskammertag (DIHK) und die von ihm koordinierten Auslandshandelskammern (AHK).

Die AHK verfügen in vielen potenziellen Anwerbeländern über Strukturen zur Vermittlung von Arbeits­kräften und zur Unterstützung potenzieller Zuwanderinnen und Zuwanderer beim Spracherwerb. Schon jetzt können die AHK aufgrund einer mit dem Aus­wärtigen Amt (AA) geschlossenen Vereinbarung bei der Vorbereitung des Visumverfahrens Hilfe leisten, wobei die abschließende Prüfung der Unterlagen wei­terhin den Auslandsvertretungen obliegt. In diesem Zusammenhang weist der DIHK darauf hin, dass die AHK bei entsprechender gesetzlicher Regelung die Anerkennung nichtformeller Qualifikationen im Aus­land durchaus übernehmen könnten.92

Befragungen von Unternehmen zeigen deren klare Präferenz für Arbeitskräfte aus dem europäischen Aus­land, gefolgt von solchen aus Asien und dem Nahen Osten. An Menschen aus Subsahara-Afrika besteht hingegen bisher wenig Interesse.93 Offensichtlich kon­zentrieren sich Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber vor allem auf Länder, die ihnen geografisch (und ver­meintlich auch kulturell) näher sind oder mit denen Rekrutierungsnetzwerke bestehen.94

Grafik 1

Nichtstaatliche Vermittlungsakteure

Die internationale Anwerbung von Arbeitskräften mit Hilfe nichtstaatlicher Vermittlungsakteure nimmt weltweit zu.95 Diese Akteure sind Teil eines wachsenden Geschäftsfeldes für migrationsbezogene Dienstleistungen, »Migrationsindustrien« im Diktum der Forschung.96

Die nichtstaatlichen Vermittlungsakteure unterstützen migrationswillige Arbeitskräfte in vielfältiger Form. Sie bieten Informationen und Kontakte zu potenziellen Arbeitgeberinnen und ‑gebern sowie Hilfen bei der Bewältigung bürokratischer Hürden vor der Ausreise. Sie treten als Finanzdienstleister auf, wenn Arbeitsmigrantinnen und ‑migranten für die Ausreise einen Kredit aufnehmen müssen. Sie unterstützen die Ausreise und den Transport logis­tisch97 und bleiben oft auch nach erfolgter Migration Umsiedlung wichtige Ansprechpartner, etwa bei Integrations­problemen im Aufnahmeland.98 Damit übernehmen sie faktisch Aufgaben, die traditionell dem Staat oblie­gen.99 Denn sie beeinflussen nicht nur, welche Informationen potenzielle Arbeitsmigrantinnen und ‑migranten erhalten, sondern auch den Prozess ihrer Auswahl sowie ihre Lebens- und Arbeitsbedingungen im Zielland.100

Die gesetzlichen Rahmenbedingungen in Herkunfts- und Zielland sind für die nichtstaatliche Anwerbung entscheidend.

Zum Umfang der nichtstaatlichen Anwerbung liegen keine belastbaren Daten vor. Offenkundig sind aber die jeweiligen gesetzlichen Rahmenbedingungen entscheidend: Je offener und liberaler die Gesetz­gebung des Herkunfts- und Zielländer ist, desto eher können nichtstaatliche Vermittlungsakteure ihre Akti­vitäten entfalten. Nationale Unterschiede beste­hen nicht zuletzt hinsichtlich der gesetzlichen Vor­keh­rungen gegen ausbeuterische und missbräuch­liche Rekrutierungspraktiken. Während wichtige Her­kunftsländer von Arbeitsmigrantinnen und ‑migran­ten wie die Philippinen, Bangladesch oder Mexiko schon länger über entsprechende Gesetze verfügen, haben viele Zielländer im Mittleren Osten, in West­europa und Nordamerika erst in jüngerer Zeit in Reaktion auf missbräuchliche Anwerbungspraktiken und Menschenhandel nachgezogen.101

Im deutschsprachigen Raum ist die Rolle nichtstaatlicher Vermittlungsakteure bisher kaum erforscht. Einzig die Agenturen zur Vermittlung von Pflege­kräften (primär aus Osteuropa) haben größere Auf­merksamkeit auf sich gezogen. Die nichtstaatlichen Vermittlungsakteure lassen sich in formelle und in­formelle Akteure unterteilen, die wiederum kommer­zielle oder nichtkommerzielle Interessen verfolgen (vgl. Grafik 2).102

Formelle Vermittlungsakteure

Zu den formellen Akteuren zählt ein großes Spek­trum an Vermittlungsagenturen, Kanzleien, Personalberatungen, Zeitarbeitsfirmen und multinatio­nalen Personaldienstleistern wie Randstad, Adecco oder Manpower. Laut Schätzungen des globalen Dach­verbands für die Personaldienstleister, der World Employ­ment Confederation, belief sich der weltweite Umsatz der privaten Arbeitsvermittlungsakteure im Jahr 2020 auf 465 Milliarden US-Dollar. Dabei unter­stützten 190.000 private Agenturen mit 3,7 Millionen Mit­arbeitenden die Anwerbung von insgesamt 58 Mil­lio­nen Arbeitskräften, davon allein von 783.000 in Deutschland. Ohne die Corona-Pandemie lägen die Zahlen wahrscheinlich noch höher.103

In Deutschland müssen private Vermittlungsakteure bestimmte rechtliche Vorgaben befolgen. So ist die Anwerbung für Beschäftigungen in Gesundheits- und Pflegeberufen aus 47 einkommensschwachen Staaten laut der Beschäftigungsverordnung für private Ver­mittlungsakteure verboten und bleibt der BA vor­be­halten.104 Viele in Deutschland tätige Vermittlungs­akteure haben sich auf Engpassberufe wie Pflege und IT spezialisiert. Zu beobachten ist auch eine zuneh­mende Professionalisierung der privaten Vermitt­lungs­akteure, die immer häufiger mit einer Zertifi­zierung werben.

Grafik 2

Es gibt weitere formelle Vermittlungsakteure, dar­unter Bildungseinrichtungen, die nicht nur Dienstleistungen bei der Vermittlung von Sprachkenntnissen oder der technischen und beruflichen Ausbildung anbieten, sondern auch Unternehmen direkt bei der Gewinnung internationaler Arbeitskräfte unterstützen. Beispielhaft hierfür ist das Unternehmen Berlitz, das etwa Auswahlgespräche in den Herkunftsländern organisiert. Auch wenn es ihrem Selbstverständnis widerspricht, lassen sich Nichtregierungsorganisationen (NGOs) und Gewerkschaften eben­falls den formellen Vermittlungsakteuren zurechnen, da sie (nichtkommerzielle) Interessen bezüglich der Rechte von Arbeitsmigrantinnen und ‑migranten verfolgen. Aller­dings werden sie bislang selten in Anwerbe­prozesse einbezogen, ob­wohl dies ein wirksames Mittel gegen ausbeuterische und missbräuchliche Anwerbepraktiken darstellen würde.105

Informelle Vermittlungsakteure

Die Zahl der informellen Akteure in der internatio­nalen Vermittlung von Arbeitskräften dürfte die der formellen noch um ein Mehrfaches übersteigen. Oft handelt es sich um Subunternehmen, die beispielsweise auch Arbeitskräfte aus ländlichen Teilen eines Herkunftslandes ansprechen. So leiten häufig nicht­registrierte Vermittlungsakteure Anwerbungsprozesse ein, indem sie migrationswillige Arbeitskräfte an eine offizielle Agentur weitervermitteln. Eine solche Tätig­keit erfordert keine besonderen Qualifikationen, bringt den Subunternehmern meist aber auch nur wenig ein.106

Zu den informellen Akteuren zählen auch die Ar­beitsmigrantinnen und ‑migranten selbst, mit ihren persönlichen Netzwerken in den Herkunftsländern, ihren Orts- und Sprachkenntnissen. Im Zusammen­spiel mit anderen Vermittlungsakteuren übernehmen sie bei der Rekrutierung und Integration weiterer Arbeits­kräfte oft eine wichtige Rolle.107 Das sieht auch die Forschung so. Häufig sind die migrantischen Netz­werke informeller Natur, es gibt aber in Deutschland auch 15.000 registrierte Diasporaorganisationen.108 Viele Diasporavertretungen sind kommunal, regional und zunehmend auch überregional in Dachverbänden organisiert.

Dabei variiert der Grad der Institutionalisierung und Finanzierung der Organisationen stark, von ehrenamtlichen Zusammenschlüssen bis hin zu pro­fessionalisierten Organisationen mit hauptamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Der Schwerpunkt der Aktivitäten liegt darin, das Ankommen in Deutsch­land zu unterstützen. Bisher sind aber nach einer Umfrage des Sachverständigenrats für Integration und Migration (SVR) nur etwa fünf Prozent der deut­schen Diasporaorganisationen in der Arbeitskräfte­vermittlung aktiv.109

Zu den informellen Akteuren können in einem umfassenden Verständnis von Vermittlungsakteuren auch kriminelle Organisationen gezählt werden, die Migrantinnen und Migranten zum Zweck der Ausbeu­tung im Ausland rekrutieren und vom Transport und der Vermittlung im Zielland profitieren. Während die Bemühungen im Rahmen nationaler Gesetzgebung und internationaler Konventionen besonders auf Maß­nahmen gegen den Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung gerichtet sind, geraten in jün­gerer Zeit auch andere Formen der Zwangsarbeit und syste­matischen Ausbeutung von Arbeitskräften in den Blick.110

Programme und Pilotprojekte zur Arbeitskräfteanwerbung

Im letzten Jahrzehnt wurden in Deutschland zahl­reiche Pilotprojekte und Programme zur Förderung der Arbeits- und Ausbildungsmigration umgesetzt. Laut einer aktuellen Bestandsaufnahme des European Migration Network (EMN) ist Deutschland der EU-Mitgliedstaat mit den meisten Initiativen in diesem Bereich.111 Idealtypisch lassen sich insbesondere mit Blick auf die Anwerbung in Partnerländern der deut­schen Entwicklungszusammenarbeit drei Typen von Anwerbeprojekten unterscheiden, die jeweils in spe­zifischer Weise Anwerbung und berufliche Aus- und Weiterbildung kombinieren:

Typ 1

Projekte zur Förderung der Fachkräfte­mobilität,

Typ 2

Ausbildungspartnerschaften im dualen System und

Typ 3

transnationale Migrationspartnerschaften mit einer Aus- und Weiterbildungskomponente im Herkunftsland.112

Bei Typ 1 geht es um die Anwerbung von qualifizierten Fachkräften aus dem Ausland, die in Deutschland eine Zusatzausbildung absolvieren oder eine Qualifi­zierung zur vollen Anerkennung ihrer Berufsquali­fika­tionen erhalten möchten. Typ 2 zielt auf die Anwerbung junger Menschen für eine (duale) Berufs­ausbildung in Deutschland, Typ 3 sieht Investitionen in die Ausbildungskapazitäten und ‑infrastruktur des Her­kunftslandes vor, um das Qualifikationsniveau dort zu verbessern, nicht nur für potenzielle Arbeits­migrantinnen und ‑migranten, sondern auch für Arbeitskräfte, die in ihrem Land bleiben wollen (vgl. Infokasten 5, S. 32).

Es lassen sich im Folgenden nicht alle Projekte dar­stellen und dieser Dreiteilung zuordnen. Es ist aber festzustellen, dass sich die Anwerbeprojekte differenziert und weiterentwickelt haben. Statt ausgebildete Fachkräfte aus dem Ausland anzuwerben (Typ 1), geht es in immer mehr Projekten in immer mehr Branchen und mit einer wachsenden Zahl von Partner­ländern um eine vollständige Ausbildung in Deutschland (Typ 2). Sie verfolgen zunehmend auch entwicklungspolitische Konzepte, um dem Anspruch eines entwicklungspolitischen »Triple-Win«-Ansatzes gerecht zu werden: damit das Herkunftsland durch die Entlastung des Arbeitsmarktes und der sozialen Sicherungssysteme, durch Rücküberweisungen und den Ausbau des Berufsbildungssystems gewinnt, das Aufnahmeland durch die Deckung des Arbeitskräfte­bedarfs, die Migrantin oder der Migrant selbst durch den Zugang zu höheren Einkommen oder internationalen Arbeitserfahrungen. Gleichzeitig wird hinsichtlich Typ 3 deutlich, dass die Entwicklungsorientierung entsprechender Projekte in der Praxis schwierig zu kon­zipieren und zu realisieren ist.

Infokasten 4

Neue Instrumente zur Anwerbung von Gesundheits- und Pflegekräften

Deutsche Fachkräfteagentur für Gesundheits- und Pflege­berufe (DeFa)

Die 2019 neu gegründete und vom BMG finanzierte Deutsche Fachkräfteagentur für Gesundheits- und Pflegeberufe (DeFa) soll die Krankenhäuser, Pflegeeinrichtungen und Vermittlungs­agenturen bei der Gewinnung ausländischer Pflegekräfte un­terstützen. Sie hilft bei der Einreise, der Berufsanerkennung sowie der Beantragung von Arbeits- und Aufenthaltsgenehmi­gungen. Bis Oktober 2022 hat die DeFa 1.350 Antragsverfahren beglei­tet.a

Gütesiegel »Faire Anwerbung Pflege Deutschland«

Das Deutsche Kompetenzzentrum für internationale Fach­kräfte in den Gesundheits- und Pflegeberufen (DKF), das vom BMG finanziert und vom Kuratorium Deutsche Altershilfe (KDA) getragen wird, soll die Entwicklung von Inhalten und Struktu­ren zur Vermittlung, Anerkennung und Integration ausländi­scher Pflegekräfte begleiten und vorantreiben – unter anderem durch das staatliche Gütesiegel »Faire Anwerbung Pflege Deutsch­land« des BMG, dessen Anforderungskatalog einschließlich der Güte- und Prüfbestimmungen vom DKF konzipiert wurde und kontinuierlich weiterentwickelt wird.

Der Anforderungskatalog dient als Orientierungshilfe für Unternehmen und private Rekrutierungsagenturen.b Gesund­heitsfachkräfte werden derzeit vor allem in Bosnien-Herze­gowina, auf den Philippinen, in Tunesien, Mexiko, Brasilien, El Salvador sowie in Vietnam angeworben.c

Auch wenn die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeit­geberverbände (BDA) noch im Juni 2021 vor einer »Verbürokratisierung« des Zertifizierungsprozesses warnte, ist das Interesse an dem Siegel seitens der Vermittlungsagenturen groß. Bereits 52 Agenturen haben das Gütesiegel erhalten, viele weitere Akteure befinden sich im Prüfprozess.d

BMG-Programm »Faire Anwerbung Pflege Deutschland«

Als wichtiger Impuls für die Einhaltung der hohen Standards wird auch das BMG-Programm »Faire Anwerbung Pflege Deutschland« gesehen, das Zuschüsse zu den Einstellungs­kosten von bis zu 6.000 Euro pro Pflegekraft und ein beschleunigtes Fachkräfteverfahren mit Unterstützung der DeFa bietet. Für die Teilnahme ist die Beantragung des Gütesiegels Voraus­setzung.e

a Ministerium für Arbeit, Soziales, Frauen und Gesundheit, »Neue Instrumente für die Personalgewinnung im Ausland vorgestellt«, Medieninfo, 6.10.2022.

b DKF/KDA, »Gütesiegel: Faire Anwerbung Pflege Deutsch­land«.

c »Gütesiegel für Pflegekräfte-Anwerbung. Verfahren soll Vertrauen bei ausländischen Interessenten fördern«, in: MiGAZIN (online), 8.2.2022.

d KDA, »Die ersten Gütesiegel ›Faire Anwerbung Pflege Deutschland‹ wurden verliehen«, Presseinformation, 2.2.2022.

e BMG, »Faire Anwerbung Pflege Deutschland«, Projekt­träger Jülich, 2021.

Staatliche Anwerbeprojekte

Der klassische Ansatz der Arbeitskräfteanwerbung auch in Partnerländern der Entwicklungszusammenarbeit ist Typ 1. Hier ist in Deutschland vor allem das »Triple-Win«-Programm zu nennen, in dem die Gesell­schaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) mit Hilfe der Zentralen Auslands- und Fachvermittlung (ZAV) der BA seit 2013 Pflegefachkräfte an deut­sche Kliniken, Altenpflegeeinrichtungen und ambu­lante Pflegedienste vermittelt. Es handelt sich dabei um Menschen aus Bosnien-Herzegowina, den Philip­pinen und Tunesien, deren Qualifikationen in Deutschland im Prinzip anerkennungsfähig sind. Sie werden in ihrem Heimatland sprachlich und inter­kulturell vorbereitet, profitieren in Deutschland von einem schnelleren Anerkennungsverfahren und erhalten meist auch eine Weiterbildung. Während die Vermittlungsabsprache mit Serbien auf Wunsch der serbischen Partner Ende 2020 aufgelöst wurde, weil die Regierung eine weitere Abwanderung von Pflegepersonal unterbinden wollte, hat die BA erst kürzlich mit den Arbeitsverwaltungen in Indonesien, Indien (nur Bundesstaat Kerala) und Jordanien neue Vermittlungsabsprachen getroffen. Seit 2013 wurden insgesamt 4.900 Pflegefachkräfte vermittelt, von denen bereits mehr als 3.500 ihre Arbeit in Deutschland aufgenom­men haben. Das Programm soll auf Berufe im Hotel- und Gaststättengewerbe ausgeweitet wer­den. Als eines der wenigen Pilotprojekte wird »Triple Win« im Anschluss an die anfängliche staatliche Förderung (durch das Bundesministerium für Wirt­schaft und Energie – BMWi) seit 2018 privat durch deutsche Unternehmen aus dem Pflegebereich finan­ziert.113

Auch die ZAV wirbt in Anlehnung an »Triple Win« seit Anfang 2022 Pflegekräfte aus Mexiko und Bra­silien an und wählt sie gemeinsam mit deutschen Kli­niken und Pflegeeinrichtungen aus. Bislang gibt es jedoch nur mit Mexiko eine Vermittlungsabsprache. Im Rahmen des Programms werden die anfallenden Kosten von den Arbeitgeberinnen und ‑gebern getra­gen, diese müssen auch eine angemessene Unterkunft stellen und Unterstützung bei der beruflichen und sozialen Integration leisten.114 Die Bemühungen zur Anwerbung von Arbeitskräften im Bereich der Ge­sund­heits- und Pflegeberufe haben sich im vergangenen Jahrzehnt besonders dynamisch entwickelt und wurden vom Bundesministerium für Gesundheit (BMG) durch eine Reihe neuer Initiativen weiter vor­an­getrieben (vgl. Infokasten 4, S. 29).

Auch in andere von Engpässen betroffene Branchen werden Fachkräfte und Auszubildende aus dem Aus­land vermittelt. Pilotprojekte werden gemeinsam mit den IHK, Handwerkskammern, AHK und Berufs­verbänden realisiert. Zum Beispiel fördert das BMWK das Pilotprojekt »Hand in Hand for International Talents«, das in enger Zusammenarbeit mit den AHK vom DIHK und der BA umgesetzt wird. Das Projekt unterstützt vor allem kleine und mittlere Unterneh­men bei der Rekrutierung von Fachkräften in Bra­si­lien, Indien und Vietnam, die über eine Berufsausbildung in der Bau- und Elektrotechnik, im IT-Bereich oder in Hotellerie und Gastronomie verfügen. Die IHK und die BA sind hier in erster Linie dafür zuständig, Unternehmen in Deutschland für das Projekt zu gewinnen und bei der Integration der Fachkräfte zu helfen. Die Rekrutierung im Ausland hingegen liegt in der Ver­antwortung der AHK. Sie unterstützen die Projektteilnehmenden gemeinsam mit der ZAV außer­dem beim Spracherwerb und im Visumsprozess.115

Daneben führt das BMWK in Kooperation mit dem Zentralverband des Deutschen Handwerks (ZDH), der sequa gGmbH und der ZAV das Pilotprojekt »Handwerk bietet Zukunft (HabiZu)« für kleine und mittlere Handwerksbetriebe durch. Dabei werden 120 Hand­werkerinnen und Handwerker aus den Bereichen Elektro, Metallbau und Anlagenmechanik aus Bos­nien und Herzegowina für eine dauerhafte Beschäftigung in Deutschland rekrutiert. Auch hier ist die Aus­wahl der Fachkräfte nicht Aufgabe der Arbeitgeberin­nen und ‑geber, sondern erfolgt durch die BA in enger Abstimmung mit den Fachverbänden und den Hand­werkskammern.116 Die Bundesländer reagieren eben­falls auf Arbeitskräfteengpässe und entwickeln wie im Fall Nordrhein-Westfalens Pilotprojekte. In Zusam­menarbeit mit der Westdeutschen Handwerkskammer und der BA werden Fachkräfte aus Jordanien und Ägypten für Betriebe des Elektro- und informations­tech­nischen Handwerks angeworben, sprachlich qua­lifiziert und in Belangen der beruflichen Anerken­nung begleitet.117

Pilotprojekte im Bereich der Ausbildungsmigration (Typ 2) gewinnen an Bedeutung. Einschlägige Erfah­rungen sammelt das BMWi seit 2012 mit Projekten zur Rekrutierung von Auszubildenden aus Vietnam für die Alten- und Krankenpflege.118 Seit 2019 wird von der ZAV das Ausbildungsprojekt APAL (»Aus­bildungspartnerschaft mit Lateinamerika«) mit El Salvador und seit 2021 mit Mexiko realisiert. Rekru­tiert werden auch hier Ausbildungsinteressierte für den Gesundheitsbereich, in Kooperation mit dem Goethe-Institut und mit den PASCH-Schulen119 in Mexiko. Das Projekt wird in enger Abstimmung mit dem AA umgesetzt.120

Es gibt zudem neuere Projekte, die wie das von der GIZ seit 2019 durchgeführte Projekt »THAMM« Typ 1 und Typ 2 kombinieren. Bislang vermittelte THAMM 278 Personen an Arbeitgeberinnen und ‑geber im Hotel- und Gaststättengewerbe, in der gewerblich-technischen Industrie und in den Bereichen Elektronik und Sanitär, Heizung und Klempnerei, darunter 234 Auszubildende und 44 Fachkräfte (Stand: Oktober 2022). Das vom Bundesministerium für wirtschaft­liche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) beauf­tragte und von der EU kofinanzierte Projekt sucht dabei die Zusammenarbeit mit nationalen Arbeitsverwaltungen in Ägypten, Marokko und Tunesien.121

Langfristig angelegte Projekte können privaten Anwerbeakteuren wichtige Migrationskorridore eröffnen.

Solche langfristig angelegten Projekte verzeichnen erfahrungsgemäß in den ersten Jahren nur geringe Anwerbezahlen. Sie können aber für private Anwer­berinnen und Anwerber als Türöffner dienen, wie sich etwa bei den vom damaligen BMWi geförderten Modellprojekten zur Rekrutierung von Auszubildenden in der Alten- und Krankenpflege aus Vietnam zeigt.122 Hieraus haben sich zwei Folgeprojekte erge­ben: eines von Vivantes, bei dem die Rekrutierung für die Altenpflege auf Mexiko, die Türkei, Brasilien, die Philippinen und den Kosovo aus­gewei­tet wurde, und das GIZ-Projekt »Triple Win Nurses – Rekrutierung von Auszubildenden aus Vietnam«, das gemeinsam mit der ZAV und dem vietnamesischen Arbeitsministerium im Auftrag von Krankenhäusern und Pflege­heimen Auszubildende für die Pflege nach Deutsch­land vermittelt.123

Zu den neusten Ansätzen zählen Projekte des Typs 3, die durch das Konzept von »Global Skills Part­nerships« (GSP) inspiriert sind und einen hohen Nutzen für die Herkunftsländer sowie für die Migran­tinnen und Migranten selbst schaffen sollen (siehe Info­kasten 5, S. 32). So wurden seit 2021 im Auftrag des BMG und der Bertelsmann Stiftung »Global Skills Partnerships« in Mexiko und auf den Philippinen initiiert, um Pflegekräfte sprachlich und fachlich auf den deutschen Arbeitsmarkt vorzubereiten. In diesen Ländern bestehende Ausbildungsgänge werden unter Beteiligung des Universitätsklinikums Bonn so weiter­entwickelt, dass sie den Anforderungen der deutschen Krankenpflegeausbildung entsprechen. Der Zugang steht allen Studierenden offen, unabhängig davon, ob sie nach ihrem Abschluss nach Deutschland gehen (»Home track«).124 Wie anspruchsvoll solche Unterfangen sind, zeigte sich in dem vom BMZ finanzier­ten GIZ-Projekt »Beschäftigungsperspektiven für die Jugend in Kosovo schaffen«,125 das Jobmöglichkeiten im Bausektor im Kosovo und in Deutschland eröffnen sollte. Die GSP-ähnliche Komponente des Projekts wurde nicht umgesetzt, weil die Kluft zwischen den Qualitätsstandards letztlich so groß war, dass sie sich während der Projektlaufzeit nicht überbrücken ließ. Allerdings wurde schon währenddessen ein replizierbares Modell zur Kompetenzentwicklung und An­erkennung für andere Engpassberufe in Deutschland und im Kosovo entwickelt, außerdem ein Pilotprojekt, das in Zukunft im Bausektor zum Tragen kommen könnte.126

Aufbauend auf den Lehren aus dem Kosovo-Projekt und anderen GIZ-Maßnahmen gibt es zudem seit 2019 das BMZ-geförderte GIZ-Programm »PAM«. Hier werden gemeinsam mit Akteuren aus dem öffent­lichen und privaten Sektor sowie der Zivilgesellschaft Modelle der Mobilität zwischen Deutschland und den Part­nerländern Ecuador (Auszubildende für Indus­trie­mechanik und Elektronik für Betriebstechnik), Nige­ria (Auszubildende für den Bau), Kosovo (Auszubil­dende für den Bau und frühpädagogische Fachkräfte) und Vietnam (Fachkräfte für Zerspannungsmechanik) konzipiert und erprobt.127

Infokasten 5

Global Skills Partnerships

Einer der ambitioniertesten Typ-3-Ansätze ist das Konzept der »Global Skills Partnerships« (GSP), das von Michael Clemens vom Centre for Global Development (CGD) in Washington, D.C., entwickelt wurde. GSP sieht eine bilaterale Vereinbarung vor, die grundlegende Rahmenbedingungen und zwischen dem Her­kunfts- und Zielland zu teilende Kosten festlegt: Im Mittelpunkt steht dabei die Ausbildung von Fähigkeiten im Herkunftsland, die sowohl im Herkunfts- als auch im Zielland benötigt werden. Hierzu ist im Modell eine »Dual-Track-Ausbildung« im Her­kunfts­land vorgesehen: Einige der Auszubildenden entscheiden sich nach ihrer Ausbildung, in das Zielland auszuwandern (»Away track«), andere hingegen, im Herkunftsland zu bleiben (»Home track«). Investitionen aus dem Zielland in die Ausbil­dungsinfrastruktur des Herkunftslands dienen dem Aufbau von Qualifizierungsprogrammen für Berufe, in denen in beiden Län­dern Arbeitskräfte benötigt werden. Durch die Schaffung eines einheitlichen Ausbildungs- und Berufscurriculums sollen die Abschlüsse in beiden Partnerländern anerkannt werden. Dar-

über hinaus umfasst der Away-Track zusätzliche, auf das Ziel­land ausgerichtete Angebote, zum Beispiel Sprach- und Inte­grationsvorbereitungskurse.a

Das Modell nach Clemens fand auch Eingang in den Global Compact for Safe, Orderly and Regular Migration (GCM), um mit Hilfe von GSP das Ziel 18 – Investition in Aus- und Weiter­bildung und GCM-Erleichterung der gegenseitigen Anerken­nung von Fertigkeiten, Qualifikationen und Kompetenzen – zu erreichen.b

Selbst wenn GSP in reiner Form und großem Maßstab in der Praxis noch nicht zu finden sind, werden sie in kleinem Um­fang bereits erprobt.c So haben Belgien und Marokko das Pilot­projekt PALIM (»Pilot Project Addressing Labour Shortages through Innovative Labour Migration Models«) zur Ausbildung von IKT-Fachkräften in Marokko gestartet, von denen ein großer Teil in den marokkanischen Arbeitsmarkt vermittelt werden soll, während ein kleinerer Teil bei der Migration nach Belgien unterstützt wird.d

a Michael Clemens, »Global Skill[s] Partnerships: A Proposal for Technical Training in a Mobile World«, in: IZA Journal of Labor Policy, 4 (2015) 2, S. 1–18.

b Vereinte Nationen, Globaler Pakt für eine sichere, geordnete und reguläre Migration, A/CONF.231/3, Marrakesch, 11./12.12.2018, S. 24f.

c Najim Azahaf, Wie transnationale Ausbildungspartnerschaften in Deutschland vorangebracht werden können, Gütersloh: Bertels­mann Stiftung, 2020, S. 5.

d Enabel, »Pilot Project Addressing Labour Shortages through Innovative labour migration Models«.

Um das Entwicklungspotenzial der im EU-Asyl- und Migrationspaket vorgesehenen »EU-Talentpartnerschaf­ten« zu heben, haben das BMZ und das International Centre for Migration Policy Development (ICMPD) die auf zwei Jahre angelegte Pilotinitiative »INSPIRE« gestartet. Mit dem Projekt sollen länderspezifische Multistakeholder-Plattformen für den Dialog über GSP geschaffen werden, um öffentliche und private Akteure aus Europa und den Partnerländern zusam­men­zubringen. Das Projekt wird in der östlichen Part­nerschaftsregion, im Westbalkan und in Afrika umgesetzt.128

Nichtstaatliche Anwerbeprojekte

Neben staatlich geförderten Projekten gibt es zahl­reiche Projekte, die von nichtstaatlichen Akteuren organisiert werden, mal von Unternehmen, mal von Bildungsträgern, kirchlichen Wohlfahrtsverbänden, gemeinnützigen Organisationen oder Stiftungen. Teils werden sie von staatlicher Seite mitfinanziert und in enger Kooperation mit der BA und der GIZ umgesetzt.

In der Privatwirtschaft bestehen bereits zahlreiche Ausbildungsinitiativen deutscher Arbeitgeberinnen und ‑geber, insbesondere von global agierenden Un­ternehmen, die in der Regel für den eigenen Bedarf nach deutschen Berufsstandards am ausländischen Produktionsstandort ausbilden. So hat zum Beispiel Porsche eigene Ausbildungszentren für Mechatronikerinnen und Mechatroniker in Südafrika und auf den Philippinen eingerichtet, deren Absolventen welt­weit in Porsche-Niederlassungen angestellt werden können (Elemente des Typs 3).129

Da KMU bei der Rekrutierung oft auf die Unterstüt­zung durch die Kammern und Berufsverbände ange­wiesen sind, initiierten beispielsweise die Kreishand­wer­kerschaft Fleischer-Innung Lörrach und die Hand­werkskammer Freiburg das Pilotprojekt »Aus Indien nach Südbaden – Auszubildende fürs Handwerk«. Im Rahmen dieses Projekts werden in Indien Menschen für eine Ausbildung zur Fleischereifachverkäuferin oder zum Fleischer für Metzgereien im Landkreis Lör­rach angeworben (Typ 2). Dazu rekrutiert eine indi­sche Personalagentur vor Ort junge Menschen und bereitet sie mit einem Intensivsprachkurs auf die Aus­bildung in Deutschland vor. Die Teilnehmenden müs­sen die Kosten für den Deutschkurs, die Betreuung durch die indische Personalvermittlungsagentur und die Unterbringung während des Sprachkurses in In­dien tragen, die deutschen Betriebe übernehmen die Reisekosten und stellen Wohnraum zur Verfügung.130

Wohlfahrtsverbände hingegen konzentrieren sich meist darauf, junge Menschen im Ausland für eine Berufsausbildung in der Kranken- und Altenpflege in Deutschland zu gewinnen. Im Rahmen eines Aus­bildungsprogramms des Diakonischen Werks Würt­temberg werben beispielsweise seit 2014 mehr als 18 Träger von Diakonie und Caritas aus Baden-Württem­berg junge Menschen aus dem Kosovo, Bosnien-Herze­gowina, Albanien, Serbien, der Ukraine und Arme­nien für eine dreijährige Pflegeausbildung in Deutsch­land an (Typ 2). Die Projektkosten werden größtenteils von den zukünftigen Arbeitgeberinnen und ‑gebern getragen.131

Mit transnationalen Qualifizierungs- und Mobilitätspartnerschaften (im Sinne von Typ 3) beschäftigt sich die Bertelsmann Stiftung seit 2014 im Rahmen des Projekts »Migration fair gestalten« intensiv. Unter anderem initiierte sie gemeinsam mit der GIZ das oben angesprochene BMG-Projekt »Global Skills Part­nerships« mit Mexiko und den Philippinen. Zudem wird derzeit eine Plattform zum Wissens- und Erfah­rungsaustausch deutschsprachiger Akteure aus Poli­tik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft aufgebaut, um gemeinsam Hürden bei der Umsetzung und Aus­weitung solcher Projekte in Bereichen mit hohem Fachkräftemangel zu identifizieren und Lösungen dafür zu entwickeln.132

Staatliche und nichtstaatliche Akteure arbeiten an entscheidenden Schnittstellen noch nicht ausreichend zusammen.

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die zuständigen staatlichen und nichtstaatlichen Akteure im Bereich der Anwerbung von Arbeitskräften aus Drittstaaten an entscheidenden Schnittstellen noch nicht ausreichend zusammenarbeiten. In einzelnen Fällen wurden gute Erfahrungen mit der migrationspolitischen Koordination der Bundesregierung gemacht; ein strategischer Gesamtregierungsansatz, der auch entwicklungs- und außenpolitische Kriterien berücksichtigt, fehlt aber. Die mangelnde Kohärenz wird auch bei den zahlreichen und zum Teil parallel laufenden Pilotprojekten deutlich, die verschiedene Ministerien mit Partnerländern zur Ausbildungs- und Arbeitsmigration nach Deutschland durchführen. Das Fachwissen darüber, welche Ansätze bei der An­werbung von Fachkräften und Auszubildenden aus Drittstaaten erfolg­versprechend sind, liegt wiederum häufig bei der GIZ, die an fast allen staatlichen An­werbeprogram­men beteiligt ist. Für die Weiter­entwicklung und Ausweitung der Programme sollten diese Erfahrungen besser genutzt werden. Wichtig wäre auch, die Kapazitäten der BA für die Zustimmung zur Beschäftigung und Aushandlung bilateraler Ver­mittlungs­absprachen auszubauen. Eine kohärente Anwerbe­strategie muss zudem die Perspektiven nicht­staatlicher Anwerbeakteure, vor allem von Arbeit­geberinnen und ‑gebern und Gewerkschaften, aber auch aus der Diaspora und von NGOs, stärker berück­sich­tigen, soll sie erfolgreich sein.

Problemfelder und Handlungsempfehlungen

Anerkennung ausländischer Berufserfahrungen

Wesentliche Hindernisse für die Arbeitskräftegewin­nung stellen nach wie vor die Anerkennung von Qua­lifikationen und die Sprachkenntnisse der Zugewanderten dar. Die Anerkennungsverfahren dauern oft zu lang, und die Ansprüche an die Sprachkenntnisse entsprechen häufig nicht den beruflichen Erforder­nissen. Gerade in Kombination führen diese Probleme für viele Drittstaatsangehörige zu einem Ausschluss vom deutschen Arbeitsmarkt.

Das deutsche Arbeitsmarkt- und Berufssystem ist stark formalisiert. Die Anwerbung und Zulassung von Drittstaatsangehörigen ist in der Regel nur möglich, wenn ausländische Qualifikationen als gleichwertig mit deutschen Standards anerkannt werden. Das An­erkennungsverfahren ist wiederum zeitaufwändig und kostenintensiv.133 Es mehren sich Stimmen aus Wirt­schaft, Politik und Wissenschaft, die einen flexibleren Umgang mit dem Kriterium der beruflichen Gleich­wertigkeit (oder sogar dessen Abschaffung) fordern.134

Hier wird nach neuen Ansätzen gesucht. So befas­sen sich unter anderem das Bundesinstitut für Berufs­bildung (BIBB) und die Bertelsmann Stiftung schon seit längerem mit Instrumenten zur Potenzial- und Kompetenzerfassung und schlagen neue Verfahren zur Anerkennung von Kompetenzen vor, die auf in­formellem Weg erworben wurden.135 Die Bundes­regierung selbst hat in ihrem Eckpunktepapier an­gekündigt, in Abstimmung mit den Ländern und Kammern die Verfahren zur Anerkennung auslän­discher Bildungs- und Berufsabschlüsse vereinfachen zu wollen, unter anderem durch den Ausbau der Unterstützungs- und Qualifizierungsangebote.

Einige Probleme bei der Anerkennung ausländi­scher Qualifikationen resultieren aus fehlenden Vorqualifizierungs- und Vorintegrationsangeboten. Auch diese Defizite sind nicht neu: So wird seit vielen Jahren über eine Ver­besserung der (digitalen) Infor­mationsmöglichkeiten für künftige Arbeitsmigrantin­nen und ‑migranten diskutiert. Offensichtlich ist, dass die bisherigen Angebote – etwa über das Internet­portal »Make it in Germany«136 – nicht ausreichen und zu stark auf Fachkräfte ausgerichtet sind, um eine größere Zahl von Arbeitskräften zur Zuwande­rung nach Deutschland zu bewegen. Ein zentrales Informationsportal für Arbeitskräfte aller Qualifika­tions­stufen und für Ausbildungsinteressierte steht bislang aus.

Für die Anerkennung von Abschlüssen sind auch Kammern und Verbände verantwortlich. Nach dem Berufsqualifikationsfeststellungsgesetz (BQFG) obliegt den Kammern die Gleichwertigkeitsprüfung bei Aus­bildungsberufen im dualen System (nichtreglementier­te Berufe), außerdem die für die ihnen jeweils zuge­ordneten Berufe; die regionalen Handwerkskammern sind für Handwerksberufe zuständig, die zentrale Stelle IHK Foreign Skills Approval (IHK FOSA) für die mehr als 250 von der IHK reglementierten Ausbildungsberufe.137 Die Kammern und Verbände könnten aber noch aktiver werden und die Arbeitsverwaltung mit gut begründeten Einschätzungen zu praktischen Erfahrungen und beruflichen Fähigkeiten (»skills«) unterstützen. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass die Ausbildungssysteme anderer Länder nicht unbedingt schlechter sind, sondern oft einfach nur anders. Häufig ist das Wissen darüber in der deutschen Arbeitsverwaltung unzureichend. Ein weiteres Problem besteht darin, dass vorliegende Jobangebote bislang nicht als ausreichender Nachweis für die erforderlichen Qualifikation gewertet werden.

Empfehlung 1

Die Anerkennung beruflicher Qualifikationen stellt eine zentrale Hürde bei der Fachkräftegewinnung dar. Die Bundesregierung sollte die rechtlichen Anforderungen für die Anerkennung von ausländischen Qualifikationen realistisch gestalten und die Anerkennungsverfahren, wie in ihrem Eckpunktepapier zur Fachkräfteeinwanderung vom November 2022 angekündigt, erleichtern und be­schleunigen. Die Zwei-Jahres-Frist zur Anerkennung von Qualifikationen sollte verlängert, die Anerkennungs­verfahren in den Bundesländern sollten zudem verein­heitlicht werden. Auch wäre es sinnvoll, die geplante Chancenkarte und das dazugehörige Punktesystem so aus­zugestalten und anzuwenden, dass Arbeitserfahrungen als Arbeitsmarkttest dienen und individuelle Quali­fika­tionsnachweise und -überprüfungen ersetzen können.

Sprachkenntnisse

In der Regel müssen potenzielle Arbeitsmigrantinnen und ‑migranten ausreichende deutsche Sprachkennt­nisse nachweisen. Dies wirkt oft als Zuwanderungs­barriere. Gleichwohl besteht nach ersten Ergebnissen einer OECD-Online-Umfrage unter knapp 30.000 internationalen Fachkräften eine hohe Bereitschaft (3 von 5 Teilnehmenden), vorab Deutsch zu lernen. Weitere wären dazu bereit, wenn das Kursangebot verbessert, die Kosten für Deutschkurse gesenkt oder mehr Kurse angeboten würden.138

Auch die Bundesregierung betrachtet den Sprach­erwerb vor der Einreise als wichtiges Element der Vor­integration, die insgesamt auf das Leben in Deutsch­land vorbereiten soll. Die Beauftragte der Bundes­regierung für Migration, Flüchtlinge und Integration hat im Rahmen der Weiterentwicklung des Natio­nalen Aktionsplans Integration (NAP-I)139 bei Bund, Ländern und Zivilgesellschaft eine Abfrage zu An­geboten zur Vorintegration durchgeführt. Danach gibt es zwar auch für Fachkräfte und Bildungsmigran­tinnen und ‑migranten aus Drittstaaten zahlreiche Angebote für den Spracherwerb. Diese sind aber meist auf bestimmte Herkunftsländer begrenzt, und sie sind weder flächen- noch bedarfsdeckend. Zudem sei die vielfältige Akteurslandschaft nicht ausreichend vernetzt. Notwendig seien zudem die Erprobung neuer Ansätze in der Vorintegration sowie die Aus­weitung bestehender Projekte auf weitere Zielgruppen, Herkunftsländer und ‑regionen.140

Im NAP-I wird darauf hingewiesen, wie wichtig es ist, die Sprachkurse im Herkunftsland besser mit den Angeboten im Inland abzustimmen, die Aus­bildung und Rekrutierung von Deutschlehrkräften im Aus­land voranzutreiben, die Betreuungsinitiative Deutsche Auslands- und Partnerschulen (BIDS) zur Vorbereitung auf ein Studium in Deutschland zu un­ter­stützen und Deutsch als Fremdsprache im öffent­lichen Schulsystem der Herkunftsländer zu stärken. Grundsätzlich soll der Spracherwerb in den Her­kunfts­ländern ausgeweitet werden. Hierfür ist in der Bundesregierung das AA federführend. Von zen­traler Bedeutung wäre laut NAP-I eine engere Koope­ration des Bundesamtes für Migration und Flücht­linge (BAMF) mit dem Goethe-Institut, dem Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) und dem Pädagogischen Austauschdienst (PAD).

Der zentrale Akteur für den Spracherwerb im Aus­land ist und bleibt auf absehbare Zeit das Goethe-Institut, das sich seit langem auch für die Qualifizie­rung und Beratung von Fachkräften aus dem EU-Ausland und Drittstaaten sowie von deren Ehegattin­nen und Ehegatten engagiert. Das Institut ist in allen relevanten Zielregionen für Fachkräfteinitiativen mit Sprach- und Beratungsangeboten präsent und bietet gemeinsam mit öffentlichen und privaten Partnerin­nen und Partnern141 sprachliche und interkulturelle Qualifizierung an. Aufgrund der vielen Standorte im In- und Ausland ist das Goethe-Institut ein Akteur, der Arbeitskräfte über den gesamten Einwanderungs- und Integrationsprozess begleiten kann, von der Qua­lifizierung im Herkunftsland bis zur Weiterbildung in Deutschland.

Dafür ist das Institut derzeit aber finanziell und personell nicht ausreichend ausgestattet, trotz der für 2023 beschlossenen Erhöhung der institutionellen Förderung durch das federführende AA um 15,1 Mil­lionen Euro (auf 239 Millionen Euro).142 Ausbaufähig sind außerdem die Vernetzung der digitalen und ana­logen Angebote sowie die Abstimmung der Auslands- mit den Inlandsprogrammen. Darüber hinaus werden Sprachkurse in den Anwerbeländern oft nur am jeweiligen Sitz des Goethe-Instituts offeriert und sind insgesamt unzureichend; das gilt auch für die Ko­ope­ration mit lokalen Anbietern.

Um die Anwerbung von Arbeitskräften anzukurbeln, müsste diesen bereits vor ihrer Einreise der Erwerb von Deutschkenntnissen auf der Niveaustufe A2 des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für Sprachen (GER)143 ermöglicht werden. Die Sprach­kurse müssen berufsvorbereitend ausgelegt sein, in ausreichender Anzahl, mit angemessener Dauer, zu vertretbaren Kosten zur Verfügung stehen und gut zu erreichen sein. Dies erfordert die Ausbildung zu­sätzlich benötigter Lehrkräfte und einen zweiteiligen Zugang: zum einen digital durch den Ausbau ent­sprechender Unterrichtsmöglichkeiten, zum anderen durch Sicherung räumlicher Kapazitäten für den in vielen Fällen immer noch unverzichtbaren Präsenz­unterricht im Herkunftsland.

Empfehlung 2

Deutsche Sprachkenntnisse sind für die Integration von Arbeitsmigrantinnen und -migranten in Deutschland von zentraler Bedeutung. Das gilt für Hochqualifizierte und Fachkräfte, aber auch für geringer qualifizierte Arbeits­kräfte. Sprachkenntnisse sind in vielen Berufen eine Vor­aussetzung für Erfolg und beeinflussen zudem die Bei­träge, die Migrantinnen und Migranten durch Geldüber­weisungen oder Wissenstransfer zur Entwicklung ihrer Herkunftsländer leisten können. Deshalb sollte die Sprachvermittlung für Arbeitsmigrantinnen und ‑migran­ten vor und nach der Einreise massiv ausgebaut werden, auch im Hinblick auf fach- und berufsspezifische Sprach­kenntnisse. Dies erfordert eine erhebliche Ausweitung der finanziellen und personellen Kapazitäten sowie der Möglichkeiten digitalen Unterrichts (insbesondere der Goethe-Institute), außerdem eine bessere Einbeziehung privater Sprachkursanbieter.

Visaerteilung

Die meisten Drittstaatsangehörigen brauchen für die Einreise nach Deutschland ein Visum. Dieses erhalten sie in der Regel, wenn sie eine Arbeitsplatzzusage, einen Ausbildungs- oder Studienplatz nachweisen können. Die Visumerteilung ist oft langwierig, die Wartezeiten sind erheblich und differieren je nach Standort.144 Die Bundesregierung führt selbst aus, dass für die Ausweitung der Personalkapazitäten in Botschaften und Konsulaten mit Blick auf die Visa­bearbeitung eine umfangreichere Rekrutierung und Ausbildung von Visaentscheiderinnen und ‑entschei­dern, ebenso eine Vergrößerung bestehender Liegen­schaften sowie mehr Betriebsmittel für die Beschäftigung von lokal Beschäftigten benötigt werden, und versichert, dass sie sich um Verbesserungen bei allen drei Engpassfaktoren bemüht.145 Wachsende Bedeu­tung bei der Visumbeantragung kommt externen Dienstleistern zu, die gemäß Artikel 43 des EU-Visa­kodex Dienstleistungen in den Visumverfahren über­nehmen können.146 Sie nehmen nach Auskunft des AA bereits über 85 Prozent der Anträge auf kurzfristige Schengenvisa entgegen, aber nur 34 Prozent der lang­fristigen nationalen Visa. Letzteres könnte noch aus­geweitet werden, was die Botschaften und Konsulate entlasten würde.

Das für die Visaerteilung verantwortliche AA erhält Unterstützung vom Bundesverwaltungsamt (BVA) und vom Bundesamt für Auswärtige Angelegen­heiten (BfAA). Das BVA prüft Visaanträge aller Art und dient als Kommunikations- und Serviceschnittstelle zwischen den deutschen Auslandsvertretungen und einer Vielzahl inländischer Stellen; außerdem soll es die Digitalisierung von Verfahren koordinieren. Das 2021 eingerichtete BfAA wiederum ist für die Bearbeitung von Visumanträgen für Fachkräfte im Rahmen des FEG zuständig und soll damit die Visa­stellen im Ausland entlasten. Es bleibt abzuwarten, ob diese neue Verwaltungsstruktur zu einer Be­schleunigung von Visaverfahren für Fachkräfte und ihre Familienangehörigen beitragen wird – auch weil die Personalgewinnung für die Behörde eine Herausforderung darstellt.

Von der Forschung und NGOs wird häufig kriti­siert, dass in den Konsulaten eine zuwanderungs­kritische Haltung herrsche, Visa nur restriktiv erteilt würden147 und insgesamt eine »Abwehrmentalität« zu beobachten sei.148 Dieser Vorwurf ist für die Arbeits­kräftegewinnung relevant, weil inzwischen viele Herkunftsländer eine Zusammenarbeit bei der Steue­rung der Migration davon abhängig machen, dass ihre Forderungen nach erleichterter internationaler Mobilität etwa durch gebührenfreie Visa oder eine generelle Visafreiheit für ihre Bürgerinnen und Bür­ger erfüllt werden – wie beispielsweise die Türkei. Sie drängt seit langem auf Visafreiheit mit der EU.

Tatsächlich wurden im Jahr 2021 laut EU-Kom­mission in den Botschaften und Konsulaten der EU-Mitgliedsländer 2,9 Millionen Anträge auf Schengen-Visa gestellt, 2,4 Millionen davon positiv beschieden. In deutschen Dienststellen wurden in diesem Zeit­raum etwa 350.000 Anträge auf Schengen-Visa gestellt, von denen 288.000 bewilligt wurden. Die Ablehnungsqoute betrug jeweils etwa 17 Prozent.149 Allerdings bieten diese Zahlen nur ein unvollständi­ges Bild der Mobilitätshindernisse, denn sie berück­sichtigen lediglich die bearbeiteten Visumanträge. Weit größer ist die Zahl der abgebrochenen Verfah­ren oder wegen Aussichtslosigkeit gar nicht erst gestellten Anträge. Diese werden in den Statistiken nicht erfasst.150

Die Bundesregierung hat angekündigt, aufbauend auf der Rahmenkooperationsvereinbarung zwischen AA und DIHK weitere Standorte bestimmen zu wol­len, an denen die AHK Antragstellerinnen und ‑steller vor dem Visumverfahren beraten und bei der An­trags­vorbereitung unterstützen können. Auch sei denkbar, ihnen eine größere Rolle im Vermittlungs­prozess und bei der Beratung deutscher Unternehmen einzuräumen. Zudem soll die Bearbeitungszeit von Visaanträgen auf drei Monate verkürzt werden, auch durch die Einstellung weiterer Mitarbeitender.151

Empfehlung 3

Die Visavergabe stellt für die Anwerbung von Arbeits­kräften ein Nadelöhr dar. Die Bundesregierung hat in ihren Eckpunkten die Absicht bekundet, die Visaerteilung weiter zu beschleunigen und zu digitalisieren. Die Bundesregierung sollte dies prioritär umsetzen und dafür Botschaften und Konsulate sowie das BfAA ausreichend ausstatten. Generell sind die AHK für die deutsche Wirt­schaft wichtige Ansprechpartnerinnen im Ausland und daher geeignet, potenzielle Beschäftigte mit Arbeitgeberinnen und -gebern zusammenzubringen. Es wäre des­halb ratsam, sie künftig noch stärker in die Arbeitskräftegewinnung einzuziehen.

Verwaltungs- und Infrastruktur in Deutschland

Die wünschenswerte Digitalisierung der Visaerteilung setzt eine Digitalisierung der Zusammenarbeit mit den Ausländerbehörden voraus. Diese arbeiten häufig noch analog. Beklagt werden zudem immer wieder die Schwerfälligkeit der Verwaltungsstrukturen und Lücken in der Personalausstattung. Die Ausländer­behörden sind für den Vollzug des Aufenthaltsgeset­zes zuständig, entscheiden über Aufenthalts- und Niederlassungserlaubnisse, sind in die Visaerteilung und damit zusammenhängende Aufgaben involviert. Ist die Personaldecke im »Normalbetrieb« schon löch­rig, so hat sich die Lage durch die Fluchtbewegung aus der Ukraine und die Umsetzung des FEG sowie des Aufenthaltsgesetzes noch verschärft. In einer Befragung des Südwestrundfunks (SWR) vom August 2022 gaben 94 Prozent der befragten Behörden­leiterinnen und ‑leiter an, ihre Personalsituation sei angespannt, sie hätten zu wenige Bewerberinnen und Bewerber, Räume und Planstellen, außerdem sei die Entlohnung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter un­zureichend. Das wirke sich negativ auf die Dauer von Entscheidungsfindungen aus. Derzeit liegt die Be­arbei­tungszeit ausländerrechtlicher Entscheidungen bei zwischen drei und zwölf Monaten.152

Tatsächlich sieht das FEG die Einrichtung zentraler Ausländerbehörden in den Bundesländern vor (§ 71 AufenthG). Bislang haben aber nur neun Bundes­länder davon Gebrauch gemacht. Daneben gibt es weiterhin etwa 540 lokale Ausländerbehörden, was eine auf­wändige Abstimmung untereinander und mit ande­ren Verwaltungsstellen erfordert und teilweise auch zu Mehrfachprüfungen mit unterschiedlichen Ergeb­nissen führt.153 Zudem braucht die ZAV mehr Perso­nal, wenn die künftige Arbeitskräftegewinnung nicht überwiegend in den Händen privater Agenturen liegen soll. Informationskanäle, die einwanderungsinteressierte Personen typischerweise nutzen – etwa die Sozialen Medien –, ließen sich ebenfalls stärker in die Öffentlichkeitsarbeit einbeziehen.

Empfehlung 4

Bessere Verwaltungsverfahren für die Anwerbung von Arbeitskräften aus Drittstaaten sind nicht umsonst zu haben. Daher sollten die benötigten Kapazitäten gezielt gestärkt werden: vordringlich durch die Einrichtung zen­traler Ausländerbehörden in allen Bundesländern, eine Revision und Entschlackung der von den Ausländer­behörden und Arbeitsagenturen zu erledigenden Auf­gaben vor der Visumerteilung und durch die Etablierung von Clearing-Stellen für strittige Entscheidungen. Zur Unterstützung der Digitalisierung und Beschleunigung der Antragsverfahren sollte überlegt werden, wie die Weiterentwicklung des AZR zu einer digitalen Plattform, auf die alle am Visumsverfahren beteiligten Behörden zugreifen können, datenschutzkonform gestaltet werden kann. Auch die staatlichen Beratungs- und Informationsangebote im Ausland sollten gebündelt werden.

Zusammenarbeit staatlicher Akteure

Die Arbeitskräfteanwerbung ist eine politische Quer­schnittsaufgabe, die unter anderem ein geordnetes Zusammenspiel der relevanten Ministerien erfordert. Von einem solchen Idealbild ist die deutsche Migra­tionspolitik trotz der jüngeren Reformen noch weit entfernt. Bislang gibt es vornehmlich eine anlass­bezogene Koordinierung wie etwa die Staatssekretärs-Steuerungsrunde zur Erarbeitung der Eckpunkte für die Fachkräfteeinwanderung aus Drittstaaten.

Notwendig wäre stattdessen, dass sich die relevan­ten Ressorts kontinuierlich über die migrations- und fluchtbezogenen Ziele der Regierung im Rahmen eines Gesamtregierungsansatzes abstimmen. Daran wird sich auch die Arbeit des von der Regierungs­koalition geplanten »Sonderbevollmächtigten der Bundesregierung für partnerschaftliche Migrations­verein­barungen mit Drittstaaten«154 orientieren müssen.155

Ergänzt werden sollte dieser Whole-of-Govern­ment-Ansatz durch einen Whole-of-Society-Ansatz, indem die Zivilgesellschaft (einschließlich der Dia­spora), die Privatwirtschaft, regionale und lokale Akteure regelmäßig einbezogen werden.

Empfehlung 5

Die Bundesregierung sollte einen regelmäßigen Aus­tausch zwischen den für Anwerbung und Migrationspolitik rele­vanten Ministerien (AA, BMAS, BMZ, BMI, BMWK, BMBF) einrichten, unter Einbeziehung des neu berufenen Son­derbevollmächtigten für Migrationsvereinbarungen. Dies könnte in Form einer Task Force mit klarer Zuständigkeit erfolgen, die regelmäßig an Kabinett und Bundestag berichtet. Ergänzt werden sollte dieser Whole-of-Govern­ment-Ansatz durch einen Whole-of-Society-Ansatz unter Beteiligung der Zivilgesellschaft – einschließlich der Dia­spora, der Privatwirtschaft sowie regionaler und lokaler Akteure. Auch ein regelmäßiger Erfahrungsaustausch der Anwerbeprojekte untereinander und mit Initiativen zur Förderung der Internationalisierung der dualen Berufs­ausbildung (z. B. GOVET) empfiehlt sich.

Entwicklungsorientierung und ‑wirkungen

Die Migrationspolitik in Deutschland war in der jün­geren Vergangenheit stark innen- und sicherheits­politisch geprägt; der Fokus lag oft auf einer Redu­zierung unerwünschter Zuwanderung und besserer und schnellerer Integration der Zugewanderten. Im Vergleich dazu waren arbeitsmarkt-, außen- und ent­wicklungspolitische Gesichtspunkte häufig von nach­geordneter Bedeutung.

Dies soll sich nach dem Willen der amtierenden Bundesregierung ändern: Die Regierungsparteien haben bereits in ihrem Koalitionsvertrag vom Novem­ber 2021 einen »Neuanfang« in der Migrations- und Integrationspolitik vereinbart, »der einem modernen Einwanderungsland« gerecht werden soll.156 Künftig soll es um praxistaugliche und partnerschaftliche Ver­einbarungen mit wichtigen Herkunftsländern gehen und, wie in den Eckpunkten der Bundesregie­rung ergänzt, darum, eine Abwerbung von Arbeits­kräften aus Partner­ländern der Entwicklungszusam­menarbeit zu vermei­den, die deren Entwicklung hemmt.157

Einen in dieser Hinsicht vielversprechenden neuen Ansatz stellen die aktuellen Pläne des BMZ zur Ein­richtung von »Zentren für Migration und Entwick­lung« dar. Diese sollen zum Teil an die Erfahrungen mit den bestehenden »Beratungszentren für Jobs, Migration und Reintegration« anknüpfen, die das BMZ unter der Vorgängerregierung im Rahmen des Programms »Perspektive Heimat« eingerichtet hatte.158 Die Ausrichtung wird aber grundsätzlich neu gedacht: Die Zentren sollen an die Verwaltungsstrukturen der Partnerländer angedockt werden, etwa an die dorti­gen Arbeits- oder Migrationsministerien, um eine spätere Übernahme in die Strukturen des Partner­landes zu ermöglichen. Geplant sind die Einbindung von Privatwirtschaft und lokalen NGOs, die finan­zielle Beteiligung auch anderer Geberländer sowie die Vernetzung von Organisationen, die vor Ort in der Sprachvermittlung und Berufsqualifizierung aktiv sind und in besonderer Weise Frauen fördern.

Das Aufgabenspektrum ist vielfältig: Beratung von Menschen mit Migrationswunsch, die legal in Deutschland oder in anderen Ländern arbeiten wollen, sowie von Rückkehrenden, die Hilfe bei der Re­integration in ihrem Herkunftsland benötigen; Vermittlung von Migrantinnen und Migranten, die bereits einen Arbeitsvertrag oder ein Arbeitsvisum für Deutschland haben, in passende Sprach- und Orien­tie­rungskurse sowie von Migrationsinteressierten in Berufsbildungs- und Qualifizierungsprogramme; Beschäftigungsförderung im Partnerland und Gewäh­rung von Hilfen für Rückkehrende bei einer even­tuellen Existenz­gründung; psychosoziale Unter­stützung vulnerabler Gruppen; Unterstützung des Part­ner­landes beim Ausbau administrativer Kapa­zitäten, etwa der zuständigen Arbeitsagenturen. Gene­rell sollen die Maßnahmen auch der lokalen Ebene und der Zivilgesellschaft im Partnerland zugute kommen.

In der weiteren Diskussion über diesen Ansatz werden vor allem zwei Fragen zu klären sein: in­wieweit die Zentren auch Aufgaben bei der Gewin­nung von Arbeitskräften wahrnehmen können, ohne in Widerspruch zum entwicklungspolitischen Mandat des BMZ zu geraten, und mit welchen Akteuren – NGOs, Diasporaorganisationen, Unternehmen etc. – eine Zusammenarbeit angebracht ist. Die Antworten werden darüber entscheiden, ob der neue Ansatz tatsächlich eine Alternative zu den bisherigen Rück­kehr- und Reintegrationsberatungsstellen darstellen kann.

Empfehlung 6

Dem BMZ kommt bei der Fachkräftegewinnung die wich­tige Aufgabe zu, auf die Entwicklungswirkungen für das Herkunftsland zu achten. Das BMZ sollte seine Erfahrun­gen aus der Zusammenarbeit mit den Partnerländern systematisch in die Ressortabstimmung einbringen und dafür sorgen, dass die vorgeschlagenen neuen »Zentren für Migration und Entwicklung« organisatorisch und finanziell so ausgestattet und politisch in einem Maße unterstützt werden, dass sie die ressortübergreifende Zu­sammenarbeit in der Arbeitskräftegewinnung vor Ort praktisch unterstützen können. Das gilt vor allem für die Einbeziehung von GIZ und BA. Die von AA und BMZ an­gekündigte feministische Außen- und Entwicklungs­politik legt es außerdem nahe, die Beratungs- und Infor­mationsangebote auch an Gruppen zu richten, die im Migrationsprozess besonders vulnerabel sind, etwa Frauen und Kinder sowie Minderheiten wie LGBTIQ+-Personen und Men­schen mit Behinderungen.

Auswahl von Partnerländern und Vermittlungsabsprachen

Die Auswahl von Partnerländern hat für die Arbeits­migrationspolitik zentrale Bedeutung. Sie ist dem­entspre­chend strittig. So hat sich die BA für das Thema engagiert, indem sie eine Bedarfsanalyse für die Auslandsrekrutierung und eine Potenzialanalyse zur Identifikation geeigneter Partnerländer erstellt hat. Im Rahmen dieses Prozesses wurden bislang zwölf »potenzialträchtige Partnerländer« iden­tifi­ziert.159 Die BA erwartet, dass sich aus den prak­tischen Erfahrungen mit neuen Rekrutierungsprojek­ten zusätzliche Erkenntnisse für die Gestaltung von Vermittlungsabsprachen und andere Formen der bilateralen Zusammenarbeit bei der Arbeitskräfte­anwerbung ergeben.160

Solche Potenzialanalysen können politisch heikel sein und bilateral Spannungen verursachen. Die BA-Analysen werden daher nur für interne Planungs­zwecke der Bundesregierung verwendet. Nach An­sicht des BMAS sind sie aber hilfreich bei der Ent­scheidung, auf welche Länder man zugehen sollte, um ihnen begründete Kooperationsangebote zu machen. Das Ministerium weist auch immer wieder darauf hin, dass dadurch andere Drittstaaten nicht von der migrationspolitischen Zusammenarbeit aus­geschlossen würden. Es gelte weiterhin die rechtliche Grundlage, dass Fachkräfte aus Drittstaaten – ganz gleich, aus welchem – kommen dürfen, sofern sie über eine anerkannte Qualifikation und nachgewie­sene Sprachkenntnisse verfügen. Aus entwicklungs­politi­schen Kreisen wird an der bisherigen Potenzial­analyse vor allem kritisiert, dass außen- und entwick­lungspolitische Akteure nicht hinreichend ein­bezogen würden.

Die Auswahl der Partnerländer wirft zudem eine grundsätzliche Frage auf: Bilaterale Partnerschaften erfordern per Definition länderspezifische Ansätze. Die rechtliche Fundierung der deutschen Arbeits­migrationspolitik ist jedoch universell und auf eine meritokratische Auswahl ausgerichtet, bei der die Zuwanderungsmöglichkeiten primär von den indi­viduellen Qualifikationen der Bewerberinnen und Bewerber abhängig sind, nicht von deren Herkunft. Bis zu einem gewissen Grad hat sich dies durch die Westbalkan-Verordnung geändert. Wenn es mehr Länderpartikularismus geben sollte, könnte hier ein Spannungsverhältnis entstehen.161

Ein weiteres Problem der bisherigen Bestimmung der Partnerländer bestand darin, dass kritische Stim­men etwa von Gewerkschaften und NGOs sowie die Positionen der potenziellen Partnerländer nicht syste­matisch berücksichtigt wurden. Eine Auseinander­setzung mit solchen Positionen würde der Bundes­regierung aber bei der Formulierung von Grundsät­zen für eine gut begründete Anwerbepolitik helfen.

In der Vergangenheit gab es zudem häufig Ein­wände gegen eine Anwerbung in afrikanischen Staa­ten, unter Hinweis auf die besonderen Folgen der Anwerbung von Gesundheitsfachkräften für ohnehin schwach ausgebaute Gesundheitssysteme und auf Ver­stöße gegen Grundsätze der ILO, wie sie etwa in der »Fair Recruitment Initiative«162 niedergelegt wur­den. Weniger vehement wurden solche Einwände allerdings gegen eine Anwerbung aus asiatischen Ländern vorgebracht; oft hieß es, Länder wie die Philippinen (bereits Export-Hub von Pflegekräften), Indonesien (erste Vermittlungsabsprache des BA im Rahmen des FEG) und Indien (im Dezember 2021 Ver­mittlungsabsprache mit der staatlichen Partneragen­tur Norka Roots für den indischen Bundesstaat Kerala) hätten nicht nur einen Über­schuss von Arbeits­kräften, sondern auch geeignete Verwaltungsstruk­turen, um eine Zusammenarbeit zu gewährleisten. Ähnliche Argumente sind von Rekrutierungsagentu­ren zu hören: Große Unternehmen, die aktiv um Arbeitskräfte aus Drittstaaten werben, bevorzugten asiatische Staaten – auch aus praktischen Gründen, weil sie dort oft Niederlassungen haben, die sie bei der Arbeitskräfterekrutierung unterstützen. Am afri­kanischen Kontinent hingegen hätten die Unter­nehmen ein deutlich geringeres Interesse. In größe­rem Umfang würde allenfalls noch in Südafrika, Nigeria und in nordafrikanischen Ländern wie Ägyp­ten rekrutiert.

In die Auswahl von Partnerländern sollten alle relevanten Interessengruppen – Arbeitgeberverbände, Forschungseinrichtungen und Ausbildungszentren vor Ort, IHKs und AHKs, Zertifizierungsstellen und Botschaften – einbezogen werden. Dies stellt den Schlüssel zu fairer Migration dar. Als Vorbild könnte das »Joint Monitoring Committee« für die Umsetzung des Triple-Win-Projektes der GIZ dienen, an dem Gewerkschaften, ZAV, Botschaften, GIZ und die ein­schlägigen Ministerien der Partnerregierungen beteiligt sind.

Auch beim Thema Vermittlungsabsprachen zeigen sich die Interessenunterschiede und Zielkonflikte von Arbeitsmarktpolitik und Entwicklungszusammen­arbeit. Aus dem BMAS wird darauf hingewiesen, dass die Vermittlungsabsprachen zwischen der BA und den Arbeitsministerien in den Partnerstaaten ent­wick­lungspolitisch flankiert werden sollten. Dabei stelle sich aber die Frage der konkreten Umsetzung, und die BA sei eben keine Entwicklungsorganisation. Aus entwicklungspolitischer Sicht hingegen wird betont, dass entwicklungspolitische Akteure stärker in die Vermittlungs­absprachen integriert werden müssten. Nur dann ließe sich auch das im BMZ vor­handene Länderwissen hinreichend einbringen und sicherstellen, dass die Gestaltung der Partnerschaft bei­den Seiten nützt. Insgesamt würden entwicklungs­politische Aspekte nicht so stark berücksichtigt, wie dies möglich und geboten wäre.

Bei der Länderauswahl würde eine stärkere Kon­zentration auf afrikanische Staaten Deutschland eine Chance bieten, seine Vorreiterrolle bei partnerschaft­lichen und entwicklungsorientierten Ansätzen in der Arbeits- und Ausbildungsmigration weiter aus­zubauen und auch auf EU-Ebene für ein solches Vor­gehen zu werben.163 In die Gestaltung der geplanten Zentren für Migration und Entwicklung sollten diese Ansätze ebenfalls einfließen.

Empfehlung 7

Die Bundesregierung sollte bei der Auswahl von Partner­ländern stärker als bisher entwicklungs- und migrationsaußenpolitische Kriterien berücksichtigen und dabei auch Länder in den Blick nehmen, die bislang weniger im Fokus internationaler Anwerbung stehen, wie zum Beispiel afrikanische Länder. Grundsätzlich sollten Vermittlungs­absprachen in langfristige und umfassende Migrations­partnerschaften münden, die auch eine kontingentierte und qualifikationsunabhängige Einreise zur Beschäftigung ermöglicht. Für solche Migrationspartnerschaften sollte die im BMZ und in der GIZ vorhandene Expertise stärker genutzt werden.

Übergang von Pilotprojekten zu langfristigen Anwerbemaßnahmen

Eine gesamtwirtschaftliche und arbeitsmarkt­politische Bewertung der Pilotprojekte deutscher Anwerbepolitik ist kaum möglich, da die Fallzahlen nach wie vor gering sind. Es gibt zwar vielversprechen­de Pilotprojekte, doch größer angelegte Programme entstehen daraus meist nicht. Eine Ausnahme ist das seit 2013 bestehende Triple-Win-Programm der GIZ. Die meisten anderen Qualifikations- und Mobilitäts­partnerschaften sind nicht über den Status von Pilot­projekten hinausgekommen.164 Ein Grund liegt darin, dass die Programme – besonders in der Anfangs­phase – meist voraussetzungsreich, teuer und schwer umsetzbar sind. Gleichwohl gäbe es Projekte, die sich für eine Skalierung eignen würden, etwa die oben beschriebenen Projekte PAM und THAMM.

Die Skalierung hapert auch daran, dass es noch keinen nachhaltigen Finanzierungsmechanismus für transnationale Qualifikations- und Mobilitäts­partnerschaften und die entsprechenden Anwerbe­programme gibt. Vor allem ist ungeklärt, wie die Pri­vatwirtschaft die Kosten übernehmen könnte. Auch wenn der Einsatz von Mitteln der Entwicklungs­zusammenarbeit für den Anschub von Pilotprojekten notwendig und sinnvoll ist, wäre eine dauerhafte (Ko‑)Finanzierung aus öffentlichen Mit­teln entwick­lungs­politisch nicht begründbar – schließlich geht es bei der Arbeitskräfteanwerbung nicht nur um die Sicherung des nationalen Arbeitskräftevolumens als Fundament von wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit und Wohlstand, sondern auch um das betriebswirt­schaft­liche Interesse von Unternehmen.165 Letzt­lich ist hier wieder ein Zielkonflikt zwischen Arbeits­markt­politik und Entwicklungszusammenarbeit zu erkennen – deutlich wird aber auch, dass Pilot­projekte helfen können, positive Standards für die Anwerbung aus Drittstaaten zu etablieren.

Ein Ausweg aus diesem Zielkonflikt kann in einer frühzeitigen Beteiligung von Arbeitgeberinnen und ‑gebern an staatlichen Projekten bestehen, bei­spielsweise über Private Public Partnerships. Eine weitere Finanzierungsmöglichkeit wäre eine privat­wirtschaftliche Förderung von Vermittlungsakteuren. Die von mehreren Unternehmen gegründete Initia­tive »Labor Migration Partnerships« schlägt dafür drei Modelle vor:

1)

Philanthropische Einrichtungen bieten Vermittlungsakteuren eine Vorfinanzierung zu günstigen Zinssätzen, wenn diese bestimmte Qua­litäts­standards erfüllen.

2)

Größere Arbeitgeberinnen und ‑geber bieten Ver­mittlungsakteuren eine gün­stige Vorfinanzierung für die faire Rekrutierung benötigter Arbeitskräfte.

3)

Kapitalgeber investieren in Vermittlungsakteure, die sich bereits für faire Anwerbung engagieren und dadurch ihre Rekrutierungsbemühungen intensivieren und skalieren können.166

Empfehlung 8

Inzwischen gibt es viele Erfahrungen aus Pilotprojekten zur Arbeitskräftegewinnung. Angesichts des wachsenden Arbeitskräftebedarfs wäre es geboten, diese Erkenntnisse umgehend für größere Projekte zur Fachkräftegewinnung zu nutzen. Die auch im Eckpunktepapier zur Fachkräfte­einwanderung emp­fohlene Skalierung der bestehenden Projekte sollte prioritär verfolgt und neben der Evaluie­rung der einschlägigen Programme und Projekte mit Ana­lysen zu den wirtschaftlichen, arbeitsmarktrechtlichen und entwicklungspolitischen Folgen in den Herkunfts­ländern sowie den Erlebnissen der Migrantinnen und Migranten selbst unterfüttert werden. Eine Skalierung insbesondere der GIZ-Projekte PAM und THAMM bietet sich an. Grundsätzlich ist vor allem die Förde­rung trans­nationaler Partnerschaften zur Arbeitskräfteentwicklung und ‑sicherung empfehlenswert. Zudem wäre es ratsam, die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber frühzeitig im Rah­men von Mischfinanzierungsansätzen (z. B. Public Private Partnerships) einzubeziehen.

Maßnahmen gegen unfaire Anwerbe­praktiken

Ein besonderes Problemfeld stellt der große Bereich nichtstaatlicher Anwerbung dar, dessen entwicklungs­politische Wirkungen sich nur schwer beeinflussen und bewerten lassen. Dies liegt auch daran, dass sich die Forschung bisher vornehmlich auf staatliche Ak­teure konzentriert und der Rolle nichtstaatlicher Akteure weniger Aufmerksamkeit gewidmet hat.

Gleichwohl lassen sich aus den für diese Studie geführten Hintergrundgesprächen einige Erkennt­nisse über das Verhältnis von staatlicher und privat­wirt­schaft­licher Anwerbung und über mögliche Maß­nahmen gegen unfaire Praktiken ableiten:

  • In der Forschung wird auf mögliche Probleme der Aufnahmeländer hingewiesen: Insbesondere kleine und mittlere Unternehmen in Deutschland, die vor allem den heimischen Markt bedienen und nicht über internationale Netzwerke verfügen, hätten oft weder eine ausreichende Personalinfra­struktur noch genügend Wissen über Drittstaaten, um dort aktiv zu rekru­tieren oder potenzielle Migrationsinteressierte zu identifizieren.167

  • Die Anwerbung über staatliche Anwerbestrukturen ist meist teuer, weil bestimmte Standards eingehal­ten werden müssen.168 Das ist wichtig, weil den Be­werberinnen und Bewerbern eigene Kosten weitest­gehend erspart werden sollen. Vor diesem Hinter­grund ist die Beauftragung privater Vermittlungs­akteure aus betriebswirtschaftlicher Sicht oft gün­stiger, da die Unternehmen dann nicht nach dem Prinzip »the employer pays« verfahren müssen.

  • Aus Gewerkschaftskreisen wird beispielsweise mit Bezug auf die deutsche Anwerbung von Pflege­kräften in den Philippinen argumentiert, man hätte mehr Fachkräfte rekrutieren können, wenn man nicht mit der Privatwirtschaft konkurriert hätte. Die Philippinen hätten das vereinbarte Kon­tingent an Pflegekräften nicht eingehalten, wäh­rend die Zahl der nichtstaatlich angeworbenen Arbeitskräfte gestiegen sei. Daraus wird die Forde­rung abgeleitet, dass bilaterale Abkommen und Vermittlungsabsprachen die Grundlage für die Arbeitskräfterekrutierung darstellen und Koopera­tionen mit privaten Vermittlungsagenturen nur im Einzelfall erlaubt sein sollten, und zwar unter Einhaltung eines Gütesiegels.169

  • NGOs und Gewerkschaften beklagen Ausbeutung im nichtstaatlichen Rekrutierungssektor – das gelte insbesondere im großen Graumarkt der am­bulanten Pflege, der im Vergleich zu Kranken­häusern sowie Alten- und Pflegeheimen unüber­sichtlich und schwer zu regeln sei. Die Arbeits­bedingungen seien zum Teil miserabel, die Bezah­lung schlecht, die Pflegekräfte seien Übergriffen und Willkür von Arbeitgeberinnen und Arbeit­gebern häufig schutzlos ausgeliefert. Recherchen zei­gen, dass viele Pflegekräfte aus der EU-Binnen­migration in Abhängigkeitsverhältnissen leben, die Vermittlungsgebühren oft sittenwidrig hoch sind und die Pflegekräfte hohe Rückzahlungsverpflich­tungen im Falle nicht bestandener Prüfungen etc. eingehen müssen. Insgesamt treffe Ausbeutung vor allem geringer qualifizierte Arbeitskräfte.170

Die Forschung hält hier als Gegenmaßnahme ge­mischte Regulierungsmodelle für erfolgversprechend, also eine aus staatlichen Maßnahmen, Marktanreizen und Partizipation von Gewerkschaften und Zivil­gesell­schaft kombinierte Steuerung.171 Dadurch lie­ßen sich Unternehmen auch noch stärker als bisher dazu bewegen, sich für bessere und geschlechter­gerechte Arbeitsbedingungen einzusetzen – zumal wenn zusätz­liche und gezielte Unterstützungs­maßnahmen für die Arbeitsmarktbeteiligung und Zuwanderung weiblicher Arbeitskräfte hinzukämen, etwa hinsichtlich der Vereinbarkeit von Familie und Beruf (z. B. Kinderbetreuung) sowie Sprach- und Weiterbildung.

Empfehlung 9

Insbesondere bei der nichtstaatlichen Anwerbung kommt es immer wieder zur Vermittlung in ausbeute­rische Beschäftigungsverhältnisse. Die Bundesregierung muss weiterhin dagegen vorgehen, die Entwicklung nationaler Gütesiegel für die Fachkräftegewinnung unter­stützen und die Einbeziehung von Unternehmen, Gewerk­schaften und Zivilgesellschaft in die Entwicklung staat­licher Anwerbeprogramme ausbauen.

Internationale Standards für faire Anwerbung

In den Foren der globalen migrationspolitischen Pro­zesse wird seit langem über faire Anwerbung disku­tiert. Dabei wird immer wieder die Verbesserung der internationalen Kooperation gefordert, um zu ver­hindern, dass Arbeitsmigrantinnen und ‑migranten Vermittlungsgebühren aufgebürdet werden, die in langfristige Verschuldung und problematische Ab­hängigkeitsverhältnisse münden können.172 In den Globalen Pakt für Migration der Vereinten Nationen wurde das Anliegen im Jahr 2018 als Ziel 6 unter der Überschrift »Förderung einer fairen und ethisch ver­tretbaren Rekrutierung von Arbeitskräften und Gewährleistung der Bedingungen für eine menschen­würdige Arbeit« aufgenommen.173

Erste Ansätze für freiwillige Verhaltenskodizes zur fairen Anwerbung gehen auf das Global Forum on Migration and Development (GFMD) zurück. Auf dem High Level Dialogue zu Migration und Entwicklung der Vereinten Nationen im Jahr 2013 wurde vereinbart, globale Standards für die Anwerbungspraktiken von Arbeitsmigrantinnen und ‑migranten zu ent­wickeln, was zu unterschiedlichen – teilweise kon­kurrierenden – Initiativen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) und der Internationalen Organisation für Migration (IOM) geführt hat.174 Die ILO startete 2014 eine Initiative für faire Rekrutierung (ILO-FAIR) und formulierte 2016 die (unverbindlichen) »Allgemeinen Grundsätzen und operativen Leitlinien für faire Rekrutierung« im Rahmen von Verhand­lungen zwischen Regierungen, Gewerkschaften und Arbeitgeberinnen und ‑gebern. Die IOM wiederum erarbeitete im Jahr 2014 gemeinsam mit der Inter­national Organisation of Employers (IOE) Grundsätze zur ethischen Rekrutierung und rief das International Recruitment Integrity System (IRIS) ins Leben. Dabei handelt es sich um Standards, für deren Einhaltung sich private Vermittlungsakteure seit 2018 zertifizieren lassen können. Im Rahmen der weltweit ersten internationalen Konferenz zu diesem Thema stellte die IOM zudem einen eigenen Leitfaden für faire Anwerbung vor, die sogenannten Montreal-Empfeh­lungen, die auf eine bessere Überwachung der pri­vaten Anwerbungsindustrie zielen.175

Auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat sich des Themas angenommen und einen Verhal­tenskodex zur Anwerbung internationaler Gesundheitsfachkräfte erstellt.176 Die Mitgliedstaaten sind aufge­rufen, den Aufbau geeigneter regulatorischer Rah­men­bedingungen, den Zugang zu Qualifizierungs­maßnahmen und den Technologie- und Wis­sens­transfer im Hinblick auf die Migration von Gesundheitsfachkräften zu unterstützen.177

Empfehlung 10

In der deutschen Reformdiskussion wird die Notwendigkeit internationaler Zusammenarbeit für faire Anwer­bung und Eindämmung unfairer Praktiken meist aus­geblendet. Umso wichtiger ist es, diese Dimension im Übergang von Pilotprojekten zu langfristigen Anwerbemaßnahmen zu betonen. Die Bundesregierung sollte ihre Erfahrungen mit dem Gütesiegel »Faire Anwerbung Pflege Deutschland«, das sich an IRIS-Standards orientiert, als einen Beitrag zur Umsetzung von Ziel 6 des Globalen Pakts für Migration hervorheben und darüber hinaus die Herausforderung »globaler Sorgeketten« im Hinblick auf die Migration von Pflegekräften in den einschlägigen Foren und Prozessen thematisieren.

Abkürzungsverzeichnis

AA

Auswärtiges Amt

AfD

Alternative für Deutschland

AHK

Auslandshandelskammer

APAL

Ausbildungspartnerschaften mit Lateinamerika

AufenthG

Aufenthaltsgesetz

AZR

Ausländerzentralregister

BA

Bundesagentur für Arbeit

BAMF

Bundesamt für Migration und Flüchtlinge

BDA

Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeber­verbände

BfAA

Bundesamt für Auswärtige Angelegenheiten

BIBB

Bundesinstitut für Berufsbildung

BIDS

Betreuungsinitiative Deutsche Auslands- und Partnerschulen

BMAS

Bundesministerium für Arbeit und Soziales

BMBF

Bundesministerium für Bildung und Forschung

BMEL

Bundesministerium für Ernährung und Land­wirtschaft

BMG

Bundesministerium für Gesundheit

BMI

Bundesministerium des Innern und für Heimat

BMWi

Bundesministerium für Wirtschaft und Energie

BMWK

Bundesministerium für Wirtschaft und Klima­schutz

BMZ

Bundesministerium für wirtschaftliche Zusam­menarbeit und Entwicklung

BQFG

Berufsqualifikationsfeststellungsgesetz

BVA

Bundesverwaltungsamt

CGD

Centre for Global Development (Zentrum für Globale Entwicklung)

DAAD

Deutscher Akademischer Austauschdienst

DeFa

Deutsche Fachkräfteagentur für Gesundheits- und Pflegeberufe

DIHK

Deutscher Industrie- und Handelskammertag

DKF

Deutsches Kompetenzzentrum für internatio­nale Fachkräfte in den Gesundheits- und Pflege­berufen

EMN

European Migration Network

EU

Europäische Union

FDP

Freie Demokratische Partei

FEG

Fachkräfteeinwanderungsgesetz

FES

Friedrich-Ebert-Stiftung

GCM

Global Compact for Safe, Orderly and Regular Migration (Globaler Pakt für sichere, geordnete und reguläre Migration)

GER

Gemeinsamer Europäischer Referenzrahmen für Sprachen

GFMD

Global Forum on Migration and Development

GIZ

Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit

GMF

German Marshall Fund of the United States

GSP

Global Skills Partnerships (Transnationale Aus­bildungspartnerschaften)

HabiZu

Handwerk bietet Zukunft

IAB

Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung

ICMPD

International Centre for Migration Policy Devel­opment (Internationales Zentrum für die Ent­wick­lung der Migrationspolitik)

ICT

Intra Corporate Transfer (Unternehmensinterner Transfer)

IHK

Industrie- und Handelskammer

IHK FOSA

IHK Foreign Skills Approval

IKT

Informations- und Kommunikationstechnologie

ILO

International Labour Organization (Internatio­nale Arbeitsorganisation)

IMIS

Institut für Migrationsforschung und Inter­kulturelle Studien

INSPIRE

Incubating Skills Partnerships Beneficial to Migrants, Countries of Origin and Destination (Aufbau von Qualifikationspartnerschaften zum Nutzen von Migrantinnen und Migranten, Herkunfts- und Zielländern)

IOE

International Organisation of Employers

IOM

Internationale Organisation für Migration

IRIS

International Recruitment Integrity System (Internationales System für die Integrität von Rekrutierung)

IT

Informationstechnik

IW

Institut der deutschen Wirtschaft Köln

KDA

Kuratorium Deutsche Altershilfe

KMU

Kleinere und mittlere Unternehmen

KOFA

Kompetenzzentrum Fachkräftesicherung

LGBTIQ+

Lesbians, Gays, Bisexuals, Transgender, Intersex, Queers (und weitere)

MINT

Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik

NAP-I

Nationaler Aktionsplan Integration

NGO

Non-governmental Organization (Nichtregie­rungs­organisation)

OECD

Organisation for Economic Co-operation and Development (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung)

PAD

Pädagogischer Austauschdienst

PALIM

Pilot Project Addressing Labour Shortages through Innovative Labour Migration Models (Pilotprojekt zur Bekämpfung des Arbeitskräftemangels durch innovative Arbeitsmigrationsmodelle)

PAM

Partnerschaftliche Ansätze für entwick­lungs­orientierte Ausbildungs- und Arbeitsmigration

PASCH

Schulen: Partner der Zukunft

SPD

Sozialdemokratische Partei Deutschland

SVR

Sachverständigenrat für Integration und Migration

SWR

Südwestrundfunk

THAMM

Towards a Holistic Approach to Labour Migration Governance and Labour Mobility in North Africa (Unterstützung regulärer Arbeitsmigration und ‑mo­bilität zwischen Nordafrika und Europa)

tQMP

Transnationale Qualifizierungs- und Mobilitäts­partnerschaften

UKB

Universitätsklinikum Bonn

WHO

World Health Organization (Weltgesundheits­organisation)

WISO

Wirtschafts- und Sozialpolitik

ZAV

Zentrale Auslands- und Fachvermittlung