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Der Normalisierungsprozess zwischen Kosovo und Serbien

Wie die EU die Implementierung des »europäischen Vorschlags« absichern kann

SWP-Aktuell 2023/A 17, 09.03.2023, 6 Pages

doi:10.18449/2023A17

Research Areas

Über den Jahreswechsel haben sich die Spannungen zwischen Serbien und Kosovo wieder einmal verschärft. Dies geschah im Kontext der Verhandlungen über einen neuen Vorschlag der EU – den deutsch-französischen oder »europäischen« Vorschlag –, der darauf abzielt, die Beziehungen zwischen Belgrad und Pristina nach dem Vorbild des deutsch-deutschen Grundlagenvertrags aus dem Jahr 1972 zu formalisieren. Am 27. Februar gab es einen Durchbruch in den Verhandlungen: Beide Seiten haben sich auf den Text des Vorschlags geeinigt, der allerdings noch nicht unterschrieben wurde. Auch wurde bislang die Reihenfolge der Punkte in der sogenannten Implementierungsmappe nicht festgelegt, um die es Streit geben könnte. Um eine Verabschiedung und vollständige Implementierung des Abkommens sicherzustellen, sollte die EU Fort­schritte nicht nur im Rahmen der EU-Beitrittsverhandlungen beider Länder bewerten. Darüber hinaus sollte sie auch spezifische Implementierungs- und Monitoring-Mechanismen etablieren, die bescheidenere Zwischenziele für die Umsetzung einzelner Punkte im Abkommen absichern würden. Nur so ließe sich das neue Ab­kom­men erfolgreich umsetzen.

Serbiens Nicht-Anerkennung Kosovos, das sich 2008 für unabhängig erklärt hat, bildet den Kern vieler Probleme im Balkan. Denn sie verhindert Fortschritte beider Länder in ihren EU Beitrittsprozessen, sie sorgt für Destabilisierung im Balkan – auch sichtbar in den jüngsten Spannungen im Nord­kosovo – und sie blockiert regionale wirt­schaftliche Kooperation. Der sogenannte »europäische Vorschlag« – auch als deutsch-französischer Vorschlag bekannt – für die Normalisierung der Beziehungen zwischen Belgrad und Pristina würde die widersprüch­lichen Auffassungen von Kosovos Staatlich­keit aufgreifen und könnte neue Möglichkeiten für die Region erschließen.

Der Vorschlag entstand als diplomatische Initiative Deutschlands und Frankreichs, die Beziehungen zwischen Belgrad und Pris­tina unter dem Eindruck der russischen Invasion in die Ukraine zu normalisieren, um dadurch die unruhige Balkanregion zu stabilisieren. Bundeskanzler Olaf Scholz und Staatspräsident Emmanuel Macron sandten Anfang September 2022 zwei Briefe an Serbiens Präsident Aleksandar Vučić und Kosovos Premierminister Albin Kurti. Darin kündigten sie an, dass sie zwei ihrer Top­berater entsenden würden, um Miroslav Lajčák zu unterstützen, den Sonderbeauftragten der EU für den Dialog zwischen Belgrad und Pristina. Es handelte sich um Jens Plötner und Emmanuel Bonne, zwei Experten für Außen- und Sicherheitspolitik.

Für Kenner des Prozesses der Normalisierung zwischen Serbien und Kosovo waren die Grundprinzipien des Vorschlags keine Überraschung. Der »europäische Vorschlag« sieht ein ähnliches Modell für die Normalisierung der Beziehungen zwischen Belgrad und Pristina vor wie der Grundlagenvertrag, den die Bundesrepublik Deutschland (BRD) und die Deutsche Demokratische Republik (DDR) 1972 unterzeichneten; schon in der Anfangsphase des Normalisierungsprozesses (2011–2013) wurde er als ein mögliches Modell erwähnt. Die BRD hat die DDR völkerrechtlich nie als unabhängigen Staat anerkannt, akzeptierte aber, dass die DDR de facto wie ein souveräner Staat handelte. Mit de facto wird im internationalen Recht ein Zustand benannt, der als allgemein anerkannt gilt, obwohl er formal-rechtlich (de jure) nicht anerkannt worden ist.

Serbien wird im neuen Abkommen eine De-facto-Akzeptanz der Unabhängigkeit Kosovos abverlangt, aber keine De-jure-An­erkennung. Das würde es Serbien ermög­lichen, an seiner Verfassung festzuhalten, in der Kosovo als Bestandteil des serbischen Territoriums verstanden wird. Ähnlich wie bei dem deutsch-deutschen Grundlagen­vertrag heißt es im deutsch-französischen Vorschlag, das Abkommen solle gelten, »unbeschadet der unterschiedlichen Auf­fassungen beider Seiten zu fundamentalen Fragen, inklusive der Statusfrage« Kosovos.

Zusätzlich sollte Serbien seine Obstruk­tion einer Mitgliedschaft Kosovos in inter­nationalen Organisationen aufgeben und bestimmte Merkmale einer Staatlichkeit Kosovos anerkennen, wie zum Beispiel Dokumente, Kfz-Kennzeichen und ein sou­veränes Handeln im internationalen Raum. Die Anerkennung von Staatlichkeitsmerkmalen ohne eine De-jure-Anerkennung ist auch im Grundlagenvertrag in den Artikeln 4 und 6 verankert. Zudem sollten Kosovo und Serbien ständige Vertretungen am Sitz der jeweiligen Regierungen einrichten; das wiederum ist auch in Artikel 8 des Grund­lagenvertrags vorgesehen. Artikel 1 ist in beiden Texten ebenfalls nahezu gleich: Die Rede ist von der Entwicklung normaler, gutnachbarlicher Beziehungen auf Basis der Gleichberechtigung.

Von Kosovo wird verlangt, alle bislang im Rahmen des Normalisierungsprozesses – auch bekannt als Brüsseler Dialog – un­terschriebenen Vereinbarungen zu imple­mentieren. Das bezieht sich primär auf die Etablierung der Assoziation/der Gemeinschaft der Kommunen mit serbischer Mehr­heit (A/GKSM) im Kosovo, die bereits 2013 im Rahmen des sogenannten Brüsseler Abkommens vereinbart worden war und mehr Autonomie für die serbischen Gemein­den im Kosovo bieten würde. Auch der Status der Serbisch-Orthodoxen Kirche im Kosovo sollte formalisiert und ein hohes Niveau an Schutzmaßnahmen für das ser­bische reli­giöse und kulturelle Erbe garan­tiert werden.

Der neue Vorschlag unterscheidet sich von dem Brüsseler Abkommen dadurch, dass Serbien nicht nur Kosovos Autorität innerhalb des Kosovo anerkennen würde (im Brüsseler Abkommen hatte Serbien bereits akzeptiert, dass die Gesetzgebung Kosovos die einzig gültige im Kosovo sein sollte). Serbien würde auch Kosovos Souve­ränität im internationalen Raum anerken­nen und akzeptieren, dass Kosovo auch unabhängig internationalen Organisationen wie den Vereinten Nationen angehören könnte. Dies hat Serbien bisher aktiv zu verhindern versucht.

Widerstand gegen den europäischen Vorschlag

Beide Seiten haben sich zwar auf den Text des Vorschlags geeinigt, nicht aber auf den Annex mit der sogenannten Implementierungsmappe, der sich zu einem ernsten Streitpunkt entwickeln könnte. Die Mappe sollte definieren, welche Punkte zuerst behandelt werden. Serbien möchte zum Beispiel mit der Etablierung der A/GKSM beginnen, Kosovo jedoch nicht. Daher gibt es sowohl in Belgrad als auch in Pristina immer noch Widerstand gegen die Annah­me des neuen Vorschlags, der bislang nicht paraphiert worden ist.

Präsident Aleksandar Vučić hat im Januar 2023 im serbischen Parlament eine hitzige Debatte ausgelöst, nachdem er gemahnt hatte, dass Serbien politisch von der EU isoliert werden und ihr ein ökonomischer Untergang drohen könnte, würde der Vorschlag nicht akzeptiert. Anschließend kündigte er Neuwahlen an, die auch dazu dienen sollen, das potentielle Abkommen zu legitimieren – eine Strategie, die Vučić von der Verantwortung für die Annahme des Vorschlags entbinden würde.

Kosovos Premierminister Albin Kurti wie­derum erklärte, Kosovo habe kein Interesse daran, die A/GKSM zu implementieren. Denn die A/GKSM könnte die Souveränität Koso­vos gefährden, die großserbische Politik fördern und das Land destabilisieren. Zudem verlangte Kurti, im Sinne seiner Politik der Reziprozität, dass Serbien zuerst einen ähn­lichen Verband von Gemeinden mit alba­nischer Minderheit im Presevo-Tal etablieren sollte. Die Rechte der serbischen Gemeinden im Kosovo seien ohnehin durch den multi­ethnischen institutionellen Rahmen Koso­vos geschützt.

Mit anderen Worten: Beide Seiten suchen Wege, wie sie einer Annahme des Abkommens ausweichen können. Warum sollte Vučić ein Abkommen akzeptieren, das zwar das Kosovo-Problem lösen würde, in Serbien aber derart unpopulär ist, dass es ihm kei­nen politischen Zuspruch einbringt? Die EU kann Serbien auch keinen schnellen Beitritt im Tausch für die Lösung der Kosovofrage bieten, was für Vučić durchaus attraktiv wäre. Der Beitrittsprozess ist mit Reformen bei Demokratie und Rechtsstaatlichkeit verbunden, an denen dem amtierenden Regime in Serbien nicht gelegen ist, da es seine Macht auf Patronage, Korruption und die Kontrolle der Medien stützt.

Kosovo sieht die EU als unzuverlässigen Partner an. Immerhin fünf EU-Mitgliedstaa­ten haben Kosovo nicht anerkannt (Griechen­land, Rumänien, die Slowakei, Spanien und Zypern), was seine Aussichten auf eine poten­tielle EU-Mitgliedschaft infrage stellt. Dass die EU Kosovo als statusneutralen Partner behandelt, widerspricht dem Streben Koso­vos nach Anerkennung seiner Staatlichkeit und berührt somit Fragen seiner Identität.

All dies beschränkt das Handlungspotential und die Glaubwürdigkeit der EU im Belgrad-Pristina-Dialog. Das zeigt sich auch daran, dass Kosovo sich häufig stärker auf die USA als Vermittlungspartner verlässt.

Gründe für eine rasche Implementierung

Inzwischen wurden alle anderen Optionen ausgeschöpft und abgelehnt – wie zum Beispiel die oft kritisierte Idee eines terri­torialen Tauschs zwischen Nordkosovo und dem Presevo-Tal, die 2018 den Dialog domi­niert hatte. Darum sollten alle Parteien auf den jüngsten Vorschlag setzen. Die Zeit ist reif für eine Lösung, die Serbien mit der Rea­lität des unabhängigen Kosovos konfrontie­ren würde. Das Brüsseler Abkommen hat dafür bereits gute Vorarbeit geleistet. Seit 2013 erkennt Serbien Kosovos Autorität im gesamten Territorium seiner ehemaligen Provinz an. Dass es Kosovo auch de facto als unabhängig anerkennt, wäre insofern kein großer Sprung.

Um nicht noch weitere zehn Jahre auf eine Lösung des Kosovo-Serbien-Disputs warten zu müssen – genau das war das Szenario des Brüsseler Abkommens –, müsste die EU genau jetzt Druck auf beide Seiten ausüben, damit sie nicht weitere Ausreden finden, um vorherige Abkommen nicht zu implementieren und der Annahme des neuen Vorschlags auszuweichen.

Vučićs Ankündigung von Neuwahlen als Mittel zur Legitimation der Annahme des Abkommens sollte man mit Skepsis betrach­ten. Neuwahlen würden nur dem Zeitkauf dienen. Bei den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen im April 2022 haben Vučić und seine Fortschrittspartei (SNS) eine ein­deutige Mehrheit bekommen. Das sollte ihnen bereits die notwendige Legitimität verliehen haben. Außerdem ist das euro­päische Abkommen ein politisches Abkom­men, das kein Referendum verlangt, da es nicht gegen Serbiens Verfassung verstoßen würde. Entsprechend stellte auch das Ver­fassungs­gericht in Serbien fest, dass es sich bei dem Brüsseler Abkommen vom April 2013 um ein politisches, nicht um ein recht­liches Abkommen handele.

Gleichzeitig sollten Kosovos Argumente dafür, die A/GKSM nicht zu implementieren, kritisch gesehen werden. Kurti betont oft, Koso­vos Verfassungsgericht habe die Eta­blierung der A/GKSM als verfassungswidrig beurteilt. Dabei ignoriert er die Tatsache, dass das Verfassungsgericht explizit emp­fohlen hat, die A/GKSM im Sinne des Brüs­seler Abkommens von 2013 zu etablieren. Lediglich ein Abkommen aus dem Jahr 2015, das die Hauptprinzipien und Elemente der A/GKSM festlegen sollte, wurde als nicht gänzlich im Einklang mit der Verfassung stehend gewertet. Kurtis Regierung ist stolz darauf, die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit einzuhalten. Sie würde sich selbst widerspre­chen, wenn sie sich nicht an die Empfehlun­gen des höchsten Gerichts im Lande hielte.

Darüber hinaus gibt es zwei weitere wich­tige Gründe, warum die A/GKSM etabliert werden sollte. Der erste ist die Notwendigkeit, die serbischen Gemeinden im Norden des Landes zu reintegrieren, die die Insti­tutionen Kosovos Ende 2022 kollektiv ver­lassen haben. Ein Hauptgrund für ihre Boy­kottpolitik ist Kurtis Weigerung, die A/GKSM zu etablieren, die großen Zuspruch in den serbischen Gemeinden im Kosovo findet. Der zweite Grund ist, dass Kosovo mit der Etablierung des Verbands seine Staatlichkeit stärken und nicht schwächen würde, wie Kurti bisher oft suggeriert. Beispielsweise zeigte das »NEWBORN«-Monument, das jedes Jahr an Kosovos Unabhängigkeits­tag am 17. Februar neu gestaltet wird, in diesem Jahr das Wort »NO NEW BR« (für »no new broken republic« – keine neue zerbrochene Republik), um auf die Gefahr der Destabilisierung des Landes aufmerksam zu machen, die mit der Etablierung der A/GKSM verbunden wäre. Doch Kosovo ist schon jetzt eine »broken republic«. Der Nor­den kann nicht wie jeder andere Teil Koso­vos behandelt werden. Indem Serben die Institutionen verlassen haben, wurde Koso­vos Souveränität im Norden faktisch geschwächt. Kurti versucht mit unilateralen Maßnahmen (etwa einer Verstärkung der Polizei-Präsenz im Norden oder der Erklä­rung, dass serbische Kfz-Kennzeichen von Städten im Kosovo illegal seien), die Serben im Norden zu integrieren, doch solche Maß­nahmen werden stets scheitern. Die Integra­tion der Serben im Kosovo steht und fällt mit dem Norden. Dies war offenkundig in der Kosovokrise von 2011 bis 2013, die mit dem Brüsseler Abkommen endete; und das gilt auch für die jüngste Krise von 2022 bis 2023, während der Verhandlungen über das neue Abkommen.

Um den Norden integrieren zu können und eine »unbroken« Republik zu schaffen, muss die Kosovoregierung den guten Wil­len aufbringen, einen ehrlichen Dialog mit den Kosovoserben zu initiieren. Dafür könnte Kurtis Regierung auch die Enttäuschung der Nordkosovoserben über Bel­grads Politik nutzen, die sich als Folge der jüngsten Krise herauskristallisiert hat. Im Norden existiert ein relativ starker zivil­gesellschaftlicher Sektor und es gibt Men­schen, die Belgrads Politik nicht blind fol­gen. Kurtis generalisierende Behauptung, der Norden werde von Kriminellen und Extremisten kontrolliert und bewohnt, ist einem konstruktiven Dialog mit der lokalen Bevölkerung nicht förderlich.

Was die EU tun kann

Angesichts dieser Lage stellt sich die Frage, wie die EU Belgrad und Pristina dazu bewe­gen kann, ein Abkommen zu ratifizieren und anschließend zu implementieren. Auch wenn es keine Perspektive für einen kurz­fristigen EU-Beitritt gibt, die die Im­plementierung des Abkommens gewähr­leisten könn­te, ließe sich dieses Ziel auf anderen Wegen erreichen.

Die EU kann im Gegenzug für einen Ab­schluss des Abkommens Kosovo beispiels­weise dabei unterstützen, Mitglied in inter­nationalen Organisationen wie dem Europa­rat zu werden, und dadurch Kosovos Staat­lichkeit stärken. Zudem sollte sich die EU-Kommission sowie andere im Dialog enga­gierte EU-Länder, wie Deutschland und Frankreich, parallel darum bemühen, dass die fünf EU-Staaten, die Kosovo nicht an­erkennen, ihre Beziehungen mit diesem Land normalisieren. Dies würde die Glaub­würdigkeit der EU in den Augen der Regie­rung Kosovos steigern.

Die Annahme des neuen Abkommens würde auch die regionale Kooperation im gesamten westlichen Balkan fördern, was vor allem Serbien, der stärksten Wirtschaft der Region, zugutekommen würde. Der eingebrachte Vorschlag wäre ein Baustein für den gemeinsamen regionalen Markt (GRM), der die Länder wirtschaftlich voran­bringen könnte. Bisher konnte der GRM nicht vollständig implementiert werden, weil sich Serbien und Kosovo gegenseitig nicht anerkennen. Die sogenannten vier Freiheiten (freier Waren-, Kapital-, Dienst­leistungs- und Personenverkehr) lassen sich in der Region nicht gewährleisten, solange ein Land die Existenz des anderen leugnet. Dies hat vielfältige negative Folgen: von der Anerkennung von Berufsqualifikationen bis hin zur Stromversorgung. Auch ohne eine volle EU-Mitgliedschaft könnten beide Län­der durch regionale Kooperation und die schrittweise Integration in den EU-Binnen­markt wirtschaftliche Vorteile erzielen. Kurzfristig wäre es wichtig, dass die EU wirt­schaftlich profitable länderübergrei­fende Projekte finanziert, die die Kooperation zwischen Organisationen aus Serbien und Kosovo fördern.

Zusätzlich kann die EU mehr wirtschaftliche Unterstützung (durch das Instrument für Heranführungshilfe [IPA III]) der beiden Länder vorsehen, zum einen für Projekte, die hohe gesellschaftliche Bedeutung haben, und zum anderen für solche, die zur Ver­söhnung beider Gruppen beitragen. Ein Bei­spiel wäre das »Mirëdita, dobar dan!«-Festi­val, das Künstler und Künstlerinnen, Men­schenrechts- und Friedensaktivisten und ‑aktivistinnen sowie Meinungsmacher und ‑macherinnen aus Kosovo und Serbien zusammenbringt und eine Plattform für Ko­operation und friedlichen Dialog bietet. Die Versöhnung zwischen Serbien und Kosovo kann nur durch tiefergehende gesellschaftliche Veränderungen erreicht werden. Dies wird leichter sein, wenn Belgrad und Pris­tina ihre Beziehungen formalisiert haben und sich nicht gegenseitig blockieren und tagtäglich befeinden. Das neue Abkommen wäre ein guter erster Schritt auf dem lan­gen Weg der Versöhnung.

Entscheidend für Serbiens Annahme des Vorschlags ist die Etablierung der A/GKSM, weswegen er auch explizit als einer der ersten Punkte in der Implementierungsmappe zum Vertrag angeführt werden sollte. Für die EU wiederum ist entscheidend, dass beide Seiten zusichern, die einzelnen Punkte des neuen Abkommens auch zu implementieren. Zu diesem Zweck könnte die EU Implementierungs- und Moni­toring-Mechanismen einrichten, denen ein realistischer Rahmen für die Um­setzung ein­zelner Vorhaben des Vorschlags zugrunde liegt. Dementsprechend sollten nicht nur die oben erwähnten wirtschaft­lichen Vorteile genannt werden, die sich aus der Implementierung ergeben, sondern auch jene Maßnahmen, die getroffen wür­den, falls die vereinbarten Vorhaben nicht in der gesetzten Frist umgesetzt werden. Beispielsweise könnte im Annex festgehalten werden, mit welchen Investitionen oder Hilfen in welchem Zeitraum Kosovo rechnen kann, sollte es die Satzung der A/GKSM schnellstmöglich ausbuchstabieren, und welche Maßnahmen ihm drohen, falls es dies nicht tut, zum Beispiel eine fortgesetzte Blockade von Kosovos Mitgliedschaft im Europarat. Wichtig ist dabei, mittelfristige Ziele zu setzen: Würde einzig ein großes Ziel am Ende des langwierigen Prozesses gesetzt – die EU-Mitgliedschaft –, würde dies mit den Jahren an Zugkraft verlieren.

Eine noch einzurichtende unabhängige, EU-finanzierte Kommission sollte den Pro­zess begleiten, um den Fortschritt vor Ort zu verfolgen und an die EU zu berichten. Die Kommission sollte multiethnisch und beispielsweise aus Mitgliedern der lokalen Zivilgesellschaft und juristischen Expertinnen und Experten zusammengesetzt sein. Mechanismen des Monitorings und der Im­plementierung würden alle am Dialog be­teiligten Seiten einer strengeren Rechenschaftspflicht unterwerfen und klare Erwar­tungen an sie kommunizieren. Das sollte eine der »lessons learned« aus der mangelhaften Implementierung des Brüsseler Ab­kom­mens sein, bei dem es solche Mechanismen nicht gab und das auch zehn Jahre nach seiner Verabschiedung noch immer nicht vollständig umgesetzt worden ist.

Letztendlich sollte der europäische Vor­schlag als eine Art Auftakt zur vollen Nor­malisierung der Beziehungen zwischen Belgrad und Pristina dienen. Er hat also eher den Charakter eines Übergangsinstruments als den eines finalen Abkommens. Ein finales Abkommen könnte es eventuell in zehn oder zwanzig Jahren geben, bevor Serbien oder sogar beide Länder kurz vor einer EU-Mitgliedschaft oder einer Mitgliedschaft im EU-Binnenmarkt stehen. Solange Serbien und Kosovo gegensätzliche Auf­fassungen über den Status Kosovos haben, werden sich ihre Beziehungen nicht nach­haltig normalisieren. Um die in Serbien dominierende Ansicht zu überwinden, nach der Kosovo Teil seines Territoriums ist – eine Ansicht, die identitätsstiftend wirkt –, braucht es Zeit und schrittweise Verände­rungen. Das muss mit sozioökonomischen Verbesserungen einhergehen, die für die Menschen spürbar sind. Umfragen zufolge sind einer Mehrheit in Serbien wirtschaft­liche und politische Fortschritte wichtiger als die Bewahrung von Serbiens Souverä­nität über Kosovo.

Nicht zuletzt würde das neue Abkommen Chinas und Russlands Einflussvektoren auf Serbiens Politik minimieren. Beide Staaten nutzten die Kosovofrage bislang als Einfallstor, um Einfluss auf die lokale Poli­tik zu nehmen. Umgekehrt nutzt auch Ser­bien Chinas und Russlands Unterstützung im UN-Sicherheitsrat, um Obstruktion gegen die internationale Anerkennung Kosovos zu betreiben. Ein Abkommen könnte Serbiens außenpolitische Zusammenarbeit mit Russland und China ver­ringern, was natürlich realistischer wäre, wenn Serbien Kosovo auch de jure anerken­nen würde. Hätte Serbien sein »Kosovo-Problem« gelöst, wäre es nicht mehr auf die Unterstützung dieser Staaten im UN-Sicher­heitsrat angewiesen.

Fazit

Die Tatsache, dass alle 27 EU-Staaten den »europäischen Vorschlag« in den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates am 9. Februar 2023 befürwortet haben, gibt ihm das notwendige politische Gewicht. Zu den Befürwortern zählen auch die fünf EU-Mitgliedstaaten, die Kosovo nicht anerkannt haben. Die Annahme des Vorschlags würde auch Deutschlands Rolle als einer der wich­tigsten außenpolitischen und wirtschaft­lichen Partner des gesamten Westbalkans stärken und neues Vertrauen in den EU-Beitrittsprozess schaffen. Sollte ein auf dem deutsch-französischen Vorschlag basierendes Abkommen zwischen Serbien und Koso­vo zustande kommen, wäre das auch ein Beleg für die Ernsthaftigkeit von Deutschlands Engagement für die Stabilisierung des Balkans; außerdem würde das Tandem Berlin–Paris in der EU-Außen- und Erwei­terungspolitik gestärkt. Nicht zuletzt wäre dies gegenüber dem Balkan ein dringend nötiges Zeichen dafür, dass sich die EU nach jahrelanger Stagnation im Erweiterungsprozess erneut engagiert.

Als Folge von Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine ist Erweiterung wieder ein wichtiges Instrument der EU-Politik geworden. Im Zuge dessen ist auch der neu-alte Vorschlag einer Normalisierung der Beziehungen zwischen Belgrad und Pristina wieder aufgetaucht. Auch die USA haben ihn bereits ausdrücklich unterstützt und vermitteln im Dialog. Die maßgeblichen Akteure im Westen stehen folglich hinter dem Vorschlag. Jetzt liegt der Ball bei den zwei Balkanländern, die sich diese Gelegen­heit nicht entgehen lassen sollten.

Dr. Marina Vulović ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt »Geostrategische Konkurrenz für die EU im westlichen Balkan«.

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2023

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