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Das Schwarze Meer als Mare Clausum

Die Sonderrolle der Türkei in der regionalen Sicherheitsarchitektur

SWP-Aktuell 2023/A 36, 07.06.2023, 8 Pages

doi:10.18449/2023A36

Research Areas

Das Schwarze Meer ist ein Spannungsfeld. Es ist Schauplatz der Russland-Nato-Kon­frontation und Projektionsfläche der russischen und türkischen Vorstellungen einer regionalen Ordnung. Die Sonderrolle der Türkei in der Region ergibt sich in erster Linie aus der Umsetzung des Vertrags von Montreux, der über weite Teile des ver­gan­genen Jahrhunderts einseitige Einflussbereiche und Vormachtstellungen reduzierte. Die Nicht-Anrainer-Staaten sollen dabei außen vor bleiben. Für die Türkei ist der Vertrag von Montreux ein Machtinstrument. Der russische Einmarsch in der Ukraine im Februar 2022 hat es ihr ermöglicht, dieses Instrument noch stärker im Dienste der eigenen strategischen Interessen einzusetzen. Der Handlungsspielraum der Nato dagegen hat sich in der entstandenen Situation verengt. Zwar ist die Türkei ein wesent­liches Element in der kollektiven Verteidigung der Allianz. Seit Ausbruch des russi­schen Angriffskriegs gegen die Ukraine ist die Nato aber nicht mehr im Schwarzen Meer präsent. Damit fehlt ein wichtiger Pfeiler zur Abschreckung und Verteidigung. Insofern gibt es im Schwarzmeerraum einen Dualismus der Ordnungsvorstellungen auf zwei unterschiedlichen Ebenen: der regionalen und der globalen.

Seit dem Ausbruch des russischen Krieges in der Ukraine am 24. Februar 2022 wird vielen Beobachtern wieder das geostrategische Wechselspiel um Einfluss- und Inter­essensphären im Schwarzmeerraum vor Augen geführt, dessen Wurzeln weit zu­rückreichen. Russland verfolgt im Schwarzen Meer seit Jahrhunderten sein Interesse an einem eisfreien und möglichst ganz­jährig warmen Zugang zu den vitalen See­verbindungswegen um Europa herum, der seinen Anspruch als Seemacht unter­mauert. Bereits 1770 nutzte Katharina II. einen Verband der Ostseeflotte, um weite Teile der osmanischen Flotte in einem Über­raschungsangriff in der Ägäis zu versenken und damit den russischen Einflussbereich im Schwarzen Meer auszudehnen. Dank dieses Machtzuwachses sicherte sich Katharina 1772 in Verhandlungen über eine Territorialaufteilung in Osteuropa große Gebiete von Belarus, Litauen und Ostpolen.

Die historischen Kämpfe zwischen dem Russischen und dem Osmanischen Reich im Schwarzmeerraum prägen heute noch die westliche Wahrnehmung des Verhältnisses zwischen Moskau und Ankara. Manche Ex­perten halten deren aktuelle Zusammen­arbeit deshalb für »eine historische Anoma­lie«. Mit einer solchen Sichtweise und den damit verbundenen Erwartungen wird je­doch die Dynamik in den Beziehungen zwischen Moskau und Ankara nach dem Zusammenbruch der beiden Imperien ignoriert und auch die Bedeutung unterschätzt, die der Vertrag von Montreux heute noch für die Türkei hat. Mit dem Vertrag von 1936 sicherte sich die Türkei die Sou­veränität über den Bosporus, das Marmara­meer und die Dardanellen. Das Dokument regelt nicht nur den Zugang durch die Meerengen, sondern auch die Aufenthaltsdauer von Kriegsschiffen – und damit die militärische Balance – im Schwarzen Meer.

Ankara betrachtet den Vertrag von Mon­treux als Instrument der regionalen Sicher­heit, das nicht nur den eigenen Interessen, sondern auch denen der Anrainer- und Nicht-Anrainer Staaten dienen soll. Dies wurde zuletzt erneut in der Art und Weise offenbar, wie Ankara sich am 28. Februar 2022, vier Tage nach dem Kriegsbeginn in der Ukraine, auf das Übereinkommen be­rief. Unter Bezugnahme auf Artikel 19, der die Durchfahrt von Kriegsschiffen krieg­führender Akteure betrifft, erklärte der damalige türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu, dass »alle Länder, ob Anrainer oder nicht, gewarnt wurden, Kriegsschiffe durch die Meerenge zu schicken«. Damit reagierte Ankara auf die Forderung der Ukraine, die Meerenge für russische Kriegs­schiffe zu schließen, und minimierte zu­gleich mit Bedacht ein Eskalationspotential.

Die geostrategische Bedeutung des Schwarzmeerraums

Die seit Jahrhunderten existierenden Han­delswege durch das Schwarze Meer und an dessen Küsten haben die Region rund um das Binnengewässer zu einem strategisch wichtigen Dreh- und Angelpunkt zwischen dem östlichen Rand Europas und dem Kau­kasus sowie den Ausläufern Asiens ge­macht. Infolge der europäischen Sanktionen gegen­über russischen fossilen Rohstoffen ist der Raum um das südliche Schwarze Meer herum heute zu einem Hauptumschlagplatz für diese für Russland wichtigen Roh­stoffexporte geworden.

Gleichzeitig steht der gesamte Schwarzmeerraum auch im Fokus der chinesischen »Belt and Road Initiative« (BRI), der so­genannten neuen Seidenstraße, denn in der Region treffen sich Handelsrouten nach Europa, zum Mittelmeer und nach Nord­afrika. Insbesondere der Handelsweg nach Europa verläuft entweder durch das Schwarze Meer oder durch die Anrainerstaaten bis nach Osteuropa. Hier kreuzen die Warenverkehrsrouten der BRI zudem die russischen Erdgas- und Erdölpipelines.

Diese geostrategisch bedeutende Region westlich des Schwarzen Meeres, wird auch als Intermarium bezeichnet. Hier, zwischen dem Baltikum und der Adria, liegen kleine­re und mittelgroße osteuropäische Länder, die sich in der Vergangenheit oft zwischen den Großmächten Europas und Russland behaupten mussten. Im Ost-West-Konflikt waren sie mehrheitlich Einflussgebiete der sowjetischen Außen- und Sicherheitspolitik. Heute gehören diese Staaten überwiegend zur Nato und zur EU und streben im Rah­men der Drei-Meere-Initiative ein größeres Mitspracherecht auch in der Schwarzmeerregion an.

Nicht zuletzt ist der Schwarzmeerraum Schauplatz mehrerer territorialer und eth­ni­scher Konflikte. Zu nennen sind hier vorrangig Transnistrien in der Republik Moldau, Südossetien und Abchasien in Georgien und der Streit zwischen Aserbaidschan und Armenien um Bergkarabach. Diese Spannungen existieren bereits seit dem Zerfall der Sowjetunion. Erst über die Jahre spielten diese eine immer größere Rolle im Verhältnis des Westens zu Russ­land. Aus Moskaus Sicht sind diese Regio­nen eine geostrategische Pufferzone, die es durch militärische Präsenz absichert. Der Westen wiederum widmet seine Aufmerksamkeit den postsowjetischen Verwerfun­gen vorwiegend im Kontext seiner Russland-Strategie. Die Konfrontation zwischen Russland und der Nato hat somit eine un­mittelbare Auswirkung auf diese Konflikte, was die Herausbildung einer beständigen Sicherheitsarchitektur verhindert.

Russlands Agieren im Schwarzen Meer

Seit der Annexion der Krim 2014 hat Mos­kau die Halbinsel ganz im Zeichen des Bastion-Konzepts mit militärischen Fähig­keiten hochgerüstet. Das soll Russland in die Lage versetzen, potentiellen Bedrohungen in einem Raum zu begegnen und wir­kungsvoll zu bekämpfen, der seinem Ter­ritorium weit vorgelagert ist. Dazu hat die Russische Föderation nicht nur an Land leistungsfähige Frühwarn- und Waffen­systeme ausgebaut, sondern auch seine Schwarzmeerflotte mit weitreichenden Land- und Seezielflugkörpern ausgestattet. Mit den seit 2014 akkumulierten militärischen Fähigkeiten hat Moskau seinen An­spruch auf eine Vormachtstellung in der Region noch mal mit größerem Nachdruck signalisiert; darüber hinaus übt es damit zugleich auch Druck auf die anderen An­rainer aus.

In seiner maritimen Doktrin vom 31. Juli 2022 deklariert Russland das Schwarze Meer und das angrenzende Asowsche Meer als wichtiges nationales Interessengebiet. Die Region hat damit den gleichen Rang wie die Ostsee und das Mittelmeer. Diese Einstufung bezieht sich auf sämtliche mili­tärische und zivile Politikfelder, also so­wohl auf Aspekte der Sicherheit wie auch auf Fragen des Wohlstands, der wirtschaftlichen Entwicklung etc. Speziell der rus­sischen Schwarzmeerflotte kommt eine besondere Bedeutung als Instrument der russischen Außen- und Sicherheitspolitik und Vollstreckerin der maritimen Doktrin zu. Die Schwarzmeerflotte ist eine von vier Flottenverbänden. Ihr Auftrag ist die regio­nale Machtprojektion. Sie ist auch ein wesentlicher Ausgangspunkt für das mili­tärische Agieren Russlands im Mittelmeer und im Nahen Osten. Jenseits des Bosporus erhält sie regelmäßig Unterstützung von Einheiten der Ostseeflotte, der Nordflotte und gelegentlich auch der Pazifikflotte. Diese Interaktion der russischen Flotten­verbände macht deutlich, dass der Kreml den geografischen Raum von der Arktis und dem Nordatlantik über den Ostseeraum bis hin zum Schwarzen Meer als ein einheit­liches geostrategisches Gebilde betrachtet. Der Einsatz verschiedener Ressourcen, egal ob politischer, diplomatischer, militärischer oder wirtschaftlicher Art, ist hier Teil eines gemeinsamen strategischen Kontexts.

Durch den Krieg in der Ukraine hat sich auch die Bedrohungs- und Gefahrenlage im Schwarzen Meer deutlich verändert. Neben der fortgesetzten Militarisierung der Region insbesondere durch Russland, sind es vor allem die Auswirkungen der völkerrechtswidrigen Aggression, die neue Gefahren und Konfliktlinien erzeugen. Der zivile Schiffs- und Handelsverkehr konzentriert sich nun auf das Dreieck zwischen dem Bosporus, dem rumänischen Donaudelta und der russischen Hafenstadt Novorossiysk. Nur vereinzelt sind Schiffe im Bereich der südlichen Ukraine oder dem Zugang zum Asowschen Meer unterwegs. Die wich­tigen Seeverbindungswege innerhalb des Schwarzen Meeres sind infolge des Krieges deutlich bedrohter und fragiler. Über weite Teile des Jahres 2022 hinweg waren auch die Schiffsbewegungen entlang der rumä­nischen und bulgarischen Schwarzmeerküste wegen gelegentlich gesichteter Treib­minen stark eingeschränkt. Dabei handelte es sich um losgerissene Ankertauminen aus den ukrainischen Küstengewässern. Streit­kräfte beider Parteien sollen solche Minen dort gelegt haben. Aufgrund ihres Alters, mangelnder technischer Wartung und widri­ger Witterungsbedingungen haben sich Minen losgerissen und sind vereinzelt bis zum Eingang des Bosporus getrieben. Sie stellten für die zivile Seefahrt eine un­berechenbare Bedrohung dar und mussten in einer gemeinsamen Anstrengung türki­scher, bulga­rischer und rumänischer Streit­kräfte geortet und entschärft werden.

Relevanz für die Nato

Seit der Verabschiedung ihres neuen Strate­gischen Konzepts auf dem Gipfel in Madrid im Juni 2022 betrachtet die Nato Russland ausdrücklich als größte Bedrohung der euroatlantischen Sicherheit. Insbesondere die von Moskau betriebene Militarisierung maritimer Räume ist aus Sicht der Allianz Anlass zur Besorgnis. Der Schwarzmeerraum ist für die Sicherheit der Bündnispartner von herausgehobener strategischer Bedeutung.

Bereits als direkte Antwort auf die Krim-Annexion 2014 erhöhten die Nato und ein­zelne westliche Alliierte unilateral ihre Prä­senz in der Region. Als Teil der Nato-Mission »Air Policing« patrouillieren seitdem alli­ier­te Flugzeuge im Luftraum über dem Schwar­zen Meer, Rumänien und Bulgarien. Nach dem Nato-Gipfel in Warschau im Jahr 2016 wurde in Rumänien und Bulgarien an Land die sogenannte »Tailored Forward Presence« etabliert. Mit den Beschlüssen des Gipfels von Madrid im Jahr 2022 bilden diese Ele­mente den Grundstock für die neu ein­gerichteten Battle Groups der Allianz in Rumänien, Bulgarien und Ungarn. Unter der Flagge der Nato sollen diese multinatio­nalen Truppenkontingente den Kernauftrag des Bündnisses – Abschreckung und Ver­teidigung – stärken. Damit hat sich unter anderem in Rumänien die Zahl der US-Trup­pen von etwa 1.000 Soldaten im Januar 2022 auf heute etwa 3.000 verdreifacht. Die Amerikaner haben mit den Truppenkontin­genten der leicht beweglichen 101. Fall­schirm­jägerdivision nicht nur hoch ein­satzbereite und kampfstarke Verbände in das besonders exponierte Rumänien ver­legt, sondern nutzen deren Präsenz und Nähe zum Kampfgeschehen in der Ukraine auch zur kontinuierlichen Aufklärung und Informationsgewinnung. Dazu werden auch regelmäßig Drohnen im internationalen Luftraum über dem Schwarzen Meer ein­gesetzt. Rumänien ist derzeit zum Dreh- und Angelpunkt der alliierten und amerika­nischen Präsenz in der Schwarzmeerregion und der dort eingeleiteten Maß­nahmen zur Erhöhung der Abschreckungs- und Ver­teidigungsbereitschaft der Nato geworden.

In der maritimen Domäne ist die Präsenz der Allianz in der Region seit Ausbruch des Angriffskriegs und dem Inkrafttreten der von der Türkei verhängten Einschränkungen der Passage des Bosporus weitestgehend zum Erliegen gekommen. Neben den im Schwarzen Meer stationierten Einheiten Bulgariens, Rumäniens und der Türkei gibt es keine externen alliierten Marinestreitkräfte mehr im Schwarzen Meer, so wie es seit 2014 nahezu kontinuierlich der Fall war. Auch Manöver und Übungen des Bündnisses finden auf See nicht mehr statt.

Dabei war es eines der Kernanliegen der Nato nach den Beschlüssen des Gipfels von Wales im Jahr 2014, den Schwarzmeerraum stärker in den eigenen Planungen zu be­rücksichtigen und dort militärische Sicher­heitsstrukturen zu etablieren. Im maritimen Hauptquartier der Allianz in North­wood, Großbritannien, sollte zur Koordi­nie­rung der Maßnahmen und des Übungs­geschehens eigens eine »Black Sea Coordi­nation Function« eingerichtet werden. Da­durch sollten auch die Voraussetzungen für die kontinuierliche Erstellung eines Lage­bilds über die Schiffsbewegungen geschaffen und ins­gesamt ein besseres Verständnis für die Entwicklungen in der Region gewon­nen werden. Im Jahr 2016 schlug Bulgarien vor, diese maritime Koordinierungsfunktion von Northwood auf eine »Regional Naval Co­ordination Presence« in Varna zu über­tragen. Der Vorschlag fand breite Unterstützung unter den Mitgliedstaaten, einzig die Türkei lehnte die Initiative ab, so dass die Entscheidung weiter aussteht. Ankara hat ein Interesse daran, den Einfluss ex­terner Akteure auf die Region, vor allem den der nicht zur Region gehörenden Alli­ierten und der Allianz als Organisation, zu begrenzen und damit ihre eigene Position im Schwarzmeerraum zu stärken.

Interessenlage der Türkei

Die Türkei hat im Schwarzmeerraum zwei Hauptanliegen: Erstens ist die Regierung in Ankara darauf bedacht, mit ihrer Politik Russland nicht zu provozieren. Zweitens geht es ihr darum, die Führungsrolle des eigenen Landes in der Region gegenüber der Nato zu sichern. Als die USA im Jahr 2005 die Nato-Seeraumüberwachungsoperation »Active Endeavour« vom Mittelmeer auf das Schwarze Meer ausdehnen wollten, stießen sie auf großen Widerstand der Führung in Ankara. Diese argumentierte, die Nato sei bereits mit der Türkei als Bündnispartner in der Region ausreichend vertreten.

Um für Sicherheit im Schwarzen Meer zu sorgen, hat die Türkei eigene Strukturen und Kooperationsangebote initiiert. Bereits 2001 rief sie einen regionalen ständigen Kooperationsverband, die BlackSeaFor, ins Leben. Hauptaufgabe dieses Verbands, dem alle sechs Schwarzmeer-Anrainerstaaten angehören, sind gemeinsame Marineübungen und die Durchführung von Rettungsoperationen und humanitären Einsätzen. Im Jahr 2004 startete die Türkei die natio­nale Operation Black Sea Harmony, die dazu dienen soll, ein besseres maritimes Lagebild innerhalb der eigenen Schwarzmeergewässer zu erstellen und etwaige terroristische Bedrohungen abzuwehren. Die türkische Regierung hat seither allen Anrainerstaaten, auch Russland, eine Beteiligung an dieser Mission und den dafür eingerichteten Strukturen angeboten. Offiziell nimmt Russland seit 2006 an Black Sea Harmony teil. Mit der multinationalen Öffnung der Operation erklärte man in den begleitenden Protokollen die Vertrauensbildung und die Erhöhung der maritimen Sicherheit im Schwarzen Meer zu den Hauptaufgaben des Kooperationsformats.

Neben dem Streben, sich eine Führungsrolle als Nato-Mitglied im Schwarzen Meer zu sichern, ist es ein weiteres Anliegen der türkischen Regierung, der Präsenz der USA entgegenzuwirken. Besonders problematisch für Ankara ist somit nicht die Präsenz der Nato in der Region als solche, sondern die Auswirkungen der US-amerikanischen Politik. Dies hat mit den sicherheitspolitischen Erfahrungen der Türkei im Nahen Osten zu tun. Als Folge der US-Intervention in Irak 1991 haben die irakischen Kurden im Norden des Landes ein autonomes Ge­biet etabliert, das aus türkischer Sicht ein Sicherheitsproblem darstellt. 2003 verwei­gerte Ankara den USA im Zusammenhang mit dem zweiten Krieg in Irak die Nutzung von Militärstützpunkten durch amerikanische Einheiten. Die Türkei sieht in der US-amerikanischen Politik im Nahen Osten eine Quelle der Instabilität nicht nur für sich selbst, sondern auch für den Südkaukasus. So verhinderte Ankara im August 2008, nach dem Ausbruch des Krieges zwi­schen Georgien und Russland, dass die zur US-Navy gehörenden Krankenhausschiffe USNS Mercy und USNS Comfort ins Schwar­ze Meer gelangen konnten. Auch aktuell ist das bilaterale Verhältnis zwischen der Tür­kei und den USA stark belastet. Sowohl Ankara als auch Washington betrachten sich gegenseitig als Widerpart der eigenen regionalen Interessen, ob im Nahen Osten, im öst­lichen Mittelmeer oder auch im Schwarzmeerraum. Nicht zuletzt deswegen verfolgt die Türkei einen Sonderweg unter den Nato-Staaten, der auch im Schwarzmeerraum sichtbar ist.

Nach der Krim-Annexion 2014 hat die Türkei sich zwar den west­lichen Sank­tionen gegen Moskau nicht angeschlossen, aber gleichwohl eine militärische Zusammenarbeit mit der Ukraine angebahnt. Ihr Ziel war es nicht nur, die Lücken bei den eigenen Produktionskapazitäten zu schlie­ßen, sondern auch, die militärischen Fähig­keiten der Ukraine zu erhöhen. Im türki­schen Idealbild der regionalen Ordnungsstruktur spielt die Ukraine eine wesentliche Rolle zur Einhegung russischer Hegemonial­ansprüche. Vor diesem Hintergrund hat sich eine für beide Seiten wichtige Handels- und Rüstungskooperation herausgebildet. 2015 lieferte die Türkei erste militärische Munition in die Ukraine. 2016 wurde ein Abkommen über strategische Zusammenarbeit in der Verteidigungsindustrie unter­zeichnet. Und 2019 schlossen beide Seiten einen Deal über die Lieferung türkischer Drohnen an die Ukraine.

Vor dem Beginn des Krieges in der Ukraine am 24. Februar 2022 entsprach die Politik der Türkei weitgehend dem Ansatz der Nato gegenüber Russland, nämlich Ab­schreckung und Dialog. Im Unterschied zur Allianz hält Ankara auch heute noch an diesem Konzept fest. Im Dialog mit Russ­land zu bleiben hat es der Türkei ermöglicht, sich als Vermittler zwischen Moskau und Kiew zu etablieren. Besonders mit den Bemühungen um die Schwarzmeer-Getrei­de-Initiative im Sommer 2022 verknüpfte Ankara die Hoffnung, dass damit ein Schritt Richtung Waffenstillstand gemacht werden könne. Das Festhalten an dem Balancieren zwischen Abschreckung und Dialog gegen­über Russland erklärt sich nicht nur mit den spezifischen bilateralen Beziehungen zu Moskau.

Nach dem 24. Februar 2022 näherte sich die Türkei nicht etwa dem Westen wieder an, sondern sie baut seither ihre Beziehungen zu Russland weiter aus. Der Krieg in der Ukraine hat den Wert Ankaras auch für Moskau zweifelsfrei erhöht. Dies gilt vor allem für die Handelsbeziehungen und den Energiebereich. Im Oktober 2022 hat Putin zum Beispiel Erdogan beim Treffen in Astana angeboten, in der Türkei eine Gas­drehscheibe auf­zubauen. Ob diese Idee, von der Ankara seit langem träumt, realisierbar ist, bleibt zwar unklar, die türkische Seite ist sich ihres eigenen Wertes für Russland aber durchaus bewusst. So darf die Erdogan-Regierung mit der Verschiebung von Gas­zahlungen in Höhe von 20 Milliarden US-Dollar an Gaz­prom auf 2024 und mit einem 25 Prozent-Rabatt auf den Gaspreis rechnen. Insbesondere die Zusammenarbeit im Be­reich der Kernenergie ist zu einem der wich­tigsten Pfeiler in den türkisch-russi­schen Beziehungen geworden. Das Interesse Ankaras an dieser Energiequelle reicht bis in die 1960er Jahre zurück. Die Einweihung des von Rosatom gebauten Kernkraftwerks Akkuyu am 27. April 2023 wurde in der Türkei als »Schritt in die globale Atomliga« gefeiert. Das Atomkraftwerk Akkuyu soll 10 Prozent des türkischen Strombedarfs bereitstellen.

Die oppositionellen Parteien in der Türkei kritisieren zwar die wirtschaftliche Abhängigkeit ihres Landes von Russland, doch auch sie sehen eine funktionierende Beziehung mit Moskau als unerlässlich an, »wenn nicht aus freien Stücken, dann aus Verpflichtung«. Diese Ansicht spiegelt sich in der öffentlichen Meinung in der Türkei wider. In einer vom European Council on Foreign Relations beauftragten Umfrage betrachten 55 Prozent der Befragten in der Türkei Russland als notwendigen Partner, 14 Prozent als Verbündeten mit geteilten Werten und Interessen, 18 Prozent als Riva­len und 8 Prozent als Gegenspieler.

Türkisch-Russische Ordnungs­vorstellung für den Schwarzmeer­raum

Seit dem 24. Februar 2022 ist in vielen euro­päischen maritimen Räumen jede Form der Kooperation zwischen dem Westen und Russland zum Stillstand gekommen. Nicht nur stellen wirtschaftliche und politische Sanktionen eine Antwort des Westens auf den russischen Bruch des Völkerrechts dar, vielmehr ist auch jegliches Vertrauen gegenüber Russland auf Jahrzehnte hinaus erschüttert. Das betrifft sowohl Herausforderungen durch den Klimawandel, wirt­schaftliche Kooperation, Fischereischutz, territoriale Streitigkeiten, Aspekte der Sicher­heit des zivilen Seeverkehrs, aber auch Fra­gen der Rüstungskontrolle und der sicher­heitspolitischen Verständigung in institu­tionellen Strukturen und in bilateralen Vereinbarungen. Weder in der Arktis noch in der Ostsee werden auf absehbare Zeit die genannten Aufgaben gemeinsam mit Russ­land, dem flächenmäßig größten Land im eurasischen Raum, einer gemeinsamen Bearbeitung zugeführt werden.

Im Schwarzen Meer ist die Lage eine andere. Hier treffen Großmachtambitionen auf regionale Ordnungsvorstellungen. Aus Sicht westlicher Analysten ist das Schwarze Meer ein »Schwarzes Loch« oder auch ein »trübes Gewässer«. Für Ankara und Moskau hingegen stellt der Schwarzmeerraum eine Art von informellem Kondominium dar. So herrscht hier seit dem Ende des Ost-West-Konflikts ein Einvernehmen zwischen den beiden darüber, wie die regionale Ordnung aussehen soll. Das Schwarze Meer zählt sowohl für Russland als auch für die Türkei zu den Zonen privilegierten Interesses. Ex­terne Akteure möchte man gern außen vor halten. Diese Sichtweise erinnert an Carl Schmitt und seine Ausführungen zu »Groß­raumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte«. In einem zumindest nicht offiziell, aber erkennbar abgestimmten Agieren haben die Türkei und Russland im Schwarzen Meer zusammen eine regio­nale Kontrolle errichtet, die das Gewässer de facto zu einem (gemeinsamen) Mare Clausum macht. Im gegen­seitigen Einvernehmen und in einem stän­digen Wechselspiel der Vertretung eigener Interessen ist das Schwarze Meer zu einem von Russland und der Türkei kontrollierten, dominierten und geschlossenen Raum geworden.

Die heutige Wahrnehmung der Beziehungen zwischen Ankara und Moskau wird von der Führungsdiplomatie zwischen Erdo­gan und Putin dominiert. Das ist einerseits nachvollziehbar. Durch direkte, persönliche Kommunikation kann man viel regeln, wie zum Beispiel die Telefonate belegen, mit denen sich die beiden Präsidenten im März 2022 auf die Durchfahrt türkischer Schiffe ins Asowsche Meer verständigten, um Eng­pässe an Sonnenblumenöl in der Türkei zu vermeiden. Angesichts der weitgehenden Isolierung Russlands durch den Westen wünscht sich auch Putin eine weitere Ver­festigung des Verhältnisses zur Türkei unter Erdogan, mit dem der Kreml-Chef nach eigenen Worten »nicht nur angenehm, sondern auch sicher« arbeiten kann.

Doch gerade im Schwarzmeerraum lässt sich eine Konstante beobachten, die über die persönlichen Verhältnisse hinaus Be­stand hat. Die Kontrolle über die Meerenge war ein ewiger Streitpunkt in der Geschichte der russisch-türkischen Beziehungen. Seit Anfang des 20. Jahrhunderts geht es zwi­schen den beiden allerdings nicht mehr um den Kampf um Vormacht. Das Konkurrenz­verhältnis gibt es zwar immer noch, prio­ritär ist für beide Akteure jedoch, die durch den Vertrag von Montreux gesicherte Macht­balance im Schwarzmeerraum beizubehalten und die militärische Präsenz der westlichen Akteure zu beschränken. Vor diesem Hin­tergrund ist auch der ukrainische Wunsch, das Schwarze Meer in stärkerem Maße zu einem von der Nato kontrollierten See­gebiet zu machen, auf absehbare Zeit nicht realisierbar. Vor allem die Türkei wird an ihren regionalen Ordnungsvorstellungen für den Schwarzmeerraum festhalten.

Ausblick und Empfehlungen

Die Russland-Türkei-Partnerschaft ist zwar eng, sie ist allerdings keine Allianz. Die Türkei bleibt für Russland in erster Linie ein Nato-Mitglied. Aus Sicht Moskaus ist das Land am Bosporus ein ernstzunehmender Akteur, gerade wegen dessen Nato-Mitglied­schaft. Bei ihrem Balanceakt zwischen Ab­schreckung und Dialog gegenüber Russland ist für die Türkei Ersteres nicht weniger wichtig als Letzteres. Ankara hat zwar eine Tradition, den US-Kriegsschiffen den Zu­gang zum Schwarzen Meer zu verwehren, beliefert aber zugleich US-Flugzeuge in der Region mit Treibstoff. Als die Ukraine im Jahr 2019 zur Stärkung ihrer Flotte Korvet­ten mit Seezielflugkörpern suchte und von den USA und Großbritannien nicht das Gewünschte bekam, war einzig die Türkei bereit, darüber einen Vertrag zu schließen. Vor dem Krieg war man in den USA besorgt, ob die Verteidigungsbeziehungen zwischen der Türkei und der Ukraine über die bloße Abschreckung Russlands hinausgehen und womöglich das Potential haben könnten, Moskau einen casus belli zu liefern. Die Tür­kei selbst nimmt sich auch nach dem rus­sischen Angriff auf die Ukraine nicht als bedroht wahr, dafür überwiegen andere Bedrohungsperzeptionen. Ankara sieht auch das Risiko einer etwaigen Konfrontation Russlands mit der Nato als gering an, hat man doch seine eigenen bilateralen Bezie­hungen zu Moskau.

Das türkisch-russische Verhältnis lässt sich vor diesem Hintergrund am ehesten als eine funktionale und transaktive Zweck­gemeinschaft verstehen. Diese folgt oft situationsbedingt einer pragmatischen Kooperationsbereitschaft. Das Ziel dieses wechselseitigen Verhältnisses ist es, das Schwarze Meer als geschlossenen Raum, als Mare Clausum, im Sinne eigener regionaler Ordnungsvorstellungen zu erhalten. Dabei bleibt die Nato für die Türkei eine wichtige Rückfallposition um russischem Einflussstreben zu begegnen, und für den Fall, dass die Beziehungen mit Moskau sich deutlich verschlechtern. Innerhalb der Nato nutzt die Türkei ihre besondere Rolle und ihre eigenen Beziehungen, um ihrer Stimme im Westen Geltung zu verschaffen. Die türki­sche Außen- und Sicherheitspolitik gleicht somit am ehesten einem Pendel, das sich zwischen den beiden Polen von Abschreckung und Dialog gegenüber Russland hin- und herbewegt. Das Pendel neigt sich situationsbedingt immer am stärksten in die Richtung, aus der man den größten politischen Gewinn ziehen kann.

Gleichzeitig bietet Russlands Krieg in der Ukraine der Türkei die Möglichkeit, den Vertrag von Montreux im Sinne eigener Ordnungsvorstellungen zu nutzen und zumindest im maritimen Raum die Präsenz der Nato, der USA oder anderer Akteure zu marginalisieren. Westliche Wertvorstellun­gen stehen im sicherheitspolitischen Denken und Agieren der Türkei hinter den eigenen regionalen Ordnungsinteressen zurück. Dies wird sich auch auf absehbare Zeit nicht ändern.

Die Präsenz der Nato im Schwarzmeerraum und damit der Schwerpunkt alliierter Abschreckungs- und Verteidigungs­maßnahmen gegenüber Russ­land wird sich auf Rumänien und Bulgarien konzen­trieren. Die transatlantische Allianz wäre jedoch gut beraten, die Türkei nicht zum Quertreiber zu stigmatisieren und sich deren Ordnungsvorstellung und Interessen zunutze zu machen. Indem der Türkei mehr Verantwortung bei der Ausgestaltung sicherheitspolitischer Strukturen übertragen wird, könnten die Schwarzmeerregion mittelfristig eher stabilisiert und Friktionen minimiert werden. Im Hinblick auf die Nato wäre vorstellbar, dass die Türkei die Führung der regionalen Koordinierungsfunktion übernimmt. Andere alliierte An­rainer wie Bulgarien und Rumänien könn­ten aufgrund ihrer Lage und der derzeitigen Sicherheitsbedrohungen mit Aufgaben zur Räumung von Minen oder der Überwachung der Handelsrouten beauftragt werden. Dies würde den Vorstellungen und Interessen Ankaras in der Region entgegenkommen, die Türkei aber zugleich wieder enger in die Umsetzung der Maßnahmen zur Stärkung der Abschreckungs- und Verteidigungs­fähigkeit der Nato einbinden. Die notwendige stärkere Integration der Ukraine in die europäische Sicherheitsarchitektur, die auf dem anstehenden Gipfel in Vilnius einen Schritt vorankommen könnte in Form einer realistischeren Nato-Beitritts-Perspektive, wird ebenso Auswirkungen auf die künftige regio­nale Ordnung im Schwarzen Meer haben.

Die im Juli 2022 vereinbarte Schwarzmeer-Getreide-Initiative unter Federführung der Türkei verdeutlicht, dass man ohne Ankara in der Region nicht auskommt. Eine auf Minilateralismen basierende Ordnungsstruktur im Schwarzmeerraum – jenseits von Nato oder EU – hat unter Umständen das größere Potential, nach einer Einstellung der russischen Aggression sowohl die Ukraine und ihre Sicherheitsinteressen wie auch Russland einzubinden. Aus den türki­schen Initiativen wie BlackSeaFor oder Black Sea Harmony könnte eine perma­nente regionale Struktur erwachsen, die sich den nicht-militärischen, aber dennoch sicherheitspolitisch relevanten Aspekten im Schwarzmeerraum wie Seenotrettung, dem Kampf gegen organisierte Kriminalität oder den Folgen von Umweltverschmutzungen sowie dem Fischereischutz widmet.

Fregattenkapitän Göran Swistek ist Gastwissenschaftler in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik.
Daria Isachenko ist Wissenschaftlerin am Centrum für angewandte Türkeistudien (CATS).

Das Centrum für angewandte Türkeistudien (CATS) wird gefördert durch die Stiftung Mercator und das Auswärtige Amt.

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