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Belarus: Bedrohte Souveränität

Auswirkungen des russischen Krieges gegen die Ukraine

SWP-Aktuell 2023/A 66, 20.12.2023, 8 Pages

doi:10.18449/2023A66

Research Areas

Die russische Vollinvasion der Ukraine stellte im Februar 2022 auch die Souveränität von Belarus in Frage. Das Land diente als Aufmarschgebiet für den Angriff und wurde damit zum Ko-Aggressor. Doch veränderte sich das Verhältnis zwischen Minsk und Moskau, je länger der Krieg dauerte. Der belarussische Machthaber Lukaschenka trat gegenüber Kremlchef Putin zunehmend als selbstbewusster Kriegsdienstleister auf. Er konnte zugleich eine direkte militärische Beteiligung vermeiden und suchte die Chance auf eine Vermittlerrolle zu wahren. Dennoch nahm die strukturelle Abhängigkeit des Landes von Russland in vielen Bereichen weiter zu. Gegenwärtig ist dieser schleichende Souveränitätsverlust noch umkehrbar. Damit dies so bleibt, dürfen die EU und Deutschland das Land nicht abschreiben.

Nach den belarussischen Präsidentschaftswahlen von August 2020 war der seit 1994 regierende Alexander Lukaschenka gegen­über Kremlchef Wladimir Putin in die Rolle eines Bittstellers geraten. Die Massenpro­teste gegen die Wahlfälschungen erschütterten seine Herrschaft in den Grundfesten. Brutale Gewaltanwendung und Putins Bei­stand sicherten Lukaschenka in dieser Situation das politische Überleben. Die Ge­fahr eines militärischen Eingreifens durch Russ­land verhinderte, dass sich größere Teile des Staatsapparats mit den Protestierenden solidarisierten.

Für den Kreml bot die Krise in Belarus die Chance, seine Kontrolle über das Land auszubauen und Integrationsforderungen durchzusetzen, die zu erfüllen sich Luka­schenka bis dahin stets geweigert hatte. Der abrupte Bruch im Verhältnis zum Westen schränkte den außenpolitischen Handlungsspielraum in Minsk drastisch ein. In­folge der westlichen Sanktionen stieg zu­dem die wirtschaftliche Abhängigkeit des Landes von Russland. Der Kreml nutzte dies, um seine militärische Präsenz in Bela­rus auszubauen und endlich die Roadmaps zur Vertiefung des 1999 gebildeten Unions­staats beider Länder abzuschließen. Ihre 2019 begonnene Erarbeitung war von bela­russi­scher Seite in zentralen Punkten blo­ckiert und vor den dortigen Präsidentschafts­­wahlen faktisch auf Eis gelegt worden.

Schwindende Kontrolle

Im November 2021 wurden 28 der ursprüng­lich 31 geplanten Roadmaps von Lukaschenka und Putin unterzeichnet. Diese Programme zielen auf eine weitestgehende Harmonisierung der Wirtschafts- und Finanzpolitik. Nicht vorgesehen ist hinge­gen, supranationale Strukturen zu bilden oder eine gemeinsame Währung einzuführen. Da die Roadmaps bis zum 31. Dezember 2023 umgesetzt werden sollten, dürfte der Kreml ambitioniertere Ziele auf später verschoben haben. Hierauf deutet zumindest ein im Februar 2023 geleaktes Doku­ment aus der russischen Präsidialadminis­tration hin, dem zufolge Moskau bis 2030 eine diskrete Übernahme von Belarus plant.

Inwiefern es der belarussischen Seite gelang, in den Roadmaps weitergehende russische Forderungen abzuwehren, ist auf­grund des intransparenten Verhandlungsprozesses nur schwer zu beurteilen. In jedem Fall spiegeln die Dokumente nur be­dingt die von Staatschef Lukaschenka defi­nierten »nationalen wirtschaftlichen Inter­essen« wider. Belarus muss seine Gesetz­gebung weitgehend an die russische an­pas­sen. Lukaschenka droht damit an Kon­trolle über die fast planwirtschaftlich ge­steuerte Ökonomie des Landes zu verlieren. Um wirtschaftsliberale Reformen zu verzö­gern, zeigte er sich deshalb bereit, größere Zu­geständnisse in anderen Bereichen zu machen, darunter der sicherheitspolitischen und militärischen Kooperation.

Lukaschenkas Strategie der Geopolitisierung

Die politische Krise in Belarus stellte Luka­schenka von Anfang an in einen geopolitischen Kontext. Den Ausgangspunkt bildet seine Überzeugung, die Proteste gegen die Wahlen im Land seien aus dem Westen ge­steuert worden. Gelänge es diesem, in Bela­rus einen Umsturz herbeizuführen, wäre Russland das nächste Ziel. Indem er die ein­heimische Opposition niederschlug, leis­tete Lukaschenka damit aus seiner Sicht auch einen Beitrag zur Stabilität Russlands, für den er sich Gegenleistungen von Putin er­hoffte.

Gleichzeitig setzte Lukaschenka im Som­mer 2021 die EU mit einem Flüchtlings­ansturm an den Grenzen zu Lettland, Litau­en und Polen unter Druck. Die künstlich geschaffene Migrationskrise war der erfolg­lose Versuch, von Brüssel eine Aufhebung der gegen Belarus verhängten Sanktionen zu erreichen, ohne dafür auf die politischen Forderungen der EU eingehen zu müssen. Im Juli 2021 schloss Belarus die Grenze zur Ukraine mit der Begründung, verhindern zu wollen, dass Waffen zur Vorbereitung eines Umsturzes eingeschleust werden. Russland begann etwa zeitgleich mit sei­nem Truppenaufmarsch an der ukrainischen Grenze und verlangte Ende des Jahres sicherheitspolitische Garantien von USA und Nato. Diese Schritte fügten sich für Lukaschenka nahtlos in die gegen den Wes­ten gerichtete Drohkulisse ein und dienten auch der Sicherheit seines eigenen Regimes.

Im September 2021 absolvierten Belarus und Russland das alle vier Jahr stattfindende Militärmanöver »Sapad« (Westen). Geübt wurden die militärische Abwehr westlicher Umsturzversuche und der Einsatz gemeinsamer Angriffsgruppen in urbanem Gebiet. Letzteres diente offenkundig der Vorbereitung des späteren Einmarschs in die Ukrai­ne, zumal Sapad-2021 die bis dahin größte Übung dieser Art war.

Mit dem Manöver nahm auch das Gemeinsame Ausbildungs- und Gefechts­zen­trum für Luftverteidigung und Luft­waffe im belarussischen Hrodna seine Tätig­keit auf, dessen Einrichtung Lukaschenka im März 2021 zugestimmt hatte. Kurz vor Be­ginn des russischen Angriffs trat die neue Mili­tärdoktrin des Unionsstaats in Kraft, die Putin und Lukaschenka bereits im Novem­ber 2021 angekündigt hatten. Sie erklärt den Westen zum Hauptfeind und sieht unter anderem vor, die Zahl der gemeinsamen Truppenübungen zu erhöhen und die gemeinsame militärische Infrastruktur aus­zubauen.

Kriegsbeginn als Zäsur

Der russischen Vollinvasion der Ukraine ging im Februar 2022 ein weiteres gemeinsames Manöver voraus, das die Präsenz von über 30.000 russischen Soldaten samt Mili­tärtechnik in Belarus ermöglichte. Luka­schenkas Zustimmung zu dieser Übung machte das Land zum Ko-Aggressor. Dabei hatte er in der Vergangenheit stets katego­risch ausgeschlossen, dass von Belarus aus ein Angriff auf das Nachbarland erfolgen könnte. Allerdings waren seine politischen Beziehungen zu Kyjiw deutlich schlechter geworden, seit der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj die Ergebnisse der belarussischen Präsidentschaftswahlen nicht anerkannt hatte.

Unklar ist, ab wann Lukaschenka über die geplante Aggression informiert war oder ob er bis zuletzt dachte, lediglich am Auf­bau einer Drohkulisse beteiligt zu sein. Seine eigenen Äußerungen waren widersprüchlich. Einerseits erklärte er öffentlich, erst kurz vor Kriegsbeginn über Putins Pläne informiert worden zu sein, und wies damit jede Verantwortung für den russi­schen Überfall weit von sich. Andererseits beschuldigte er die Ukraine, einen Angriff auf Belarus vorbereitet zu haben, so dass Russland zum Eingreifen gezwungen ge­wesen sei. Zudem habe die westliche Sank­tionspolitik Belarus keine Alternative ge­lassen. Auf diese Weise legitimierte Luka­schenka den russischen Einmarsch und die eigene Unterstützung dabei.

Zentrale Konstante in seinen Auftritten war die Versicherung, dass Belarus sich nicht mit eigenen Soldaten am Krieg betei­ligen werde. Damit trug er insbesondere der Haltung der belarussischen Bevölkerung Rechnung, die der Invasion mehrheitlich ablehnend gegenüberstand. Lukaschenka musste befürchten, eine direkte Kriegsbeteiligung würde die mühsam unterdrückten Konflikte im Land erneut aufflammen las­sen. Dementsprechend stellte er es stets als sein persönliches Verdienst dar, dass keine belarussischen Truppen eingesetzt wurden – auch um den Eindruck abzuwehren, er habe die Souveränität des Landes vollständig an Russland abgegeben. Allerdings gehen unabhängige Militärexperten davon aus, dass der Kreml überhaupt keine aktive Teilnahme belarussischer Streitkräfte am Krieg plante, da ihnen jede internationale Kampferfahrung fehlt. Stattdessen spiele Belarus genau die Rolle, die ihm Putin zugedacht habe, indem es als logistischer Stützpunkt für die russischen Truppen diene.

Auf internationaler Bühne unterstützte Lukaschenka vorbehaltlos die russische Position. Im März 2022 war Belarus einer von fünf Staaten, welche gegen die Resolu­tion der UN-Vollversammlung zur Verur­teilung des Angriffskriegs stimmten. Alle anderen Staaten der Eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft enthielten sich oder blieben der Abstimmung fern. Vor diesem Hintergrund konnte Belarus nicht erneut wie im Fall des 2014 begonnenen Kriegs in der Ost-Ukraine eine neutrale Vermittler­rolle beanspruchen. Nach drei Treffen, die Ende Februar und Anfang März 2022 im belarussischen Grenzgebiet stattgefunden hatten, verlagerten sich die Verhandlungen über eine Einstellung der Kriegshandlungen nach Istanbul bzw. in Online-Formate, bevor sie im Mai des Jahres abgebrochen wurden.

Neujustierung der Beziehungen

Im ersten Kriegsjahr intensivierten sich die belarussisch-russischen Kontakte deutlich. Auf Ebene der Staatschefs gab es zehn direkte Begegnungen. Dabei trat Lukaschen­ka immer selbstbewusster auf. Zudem reiste Putin im Dezember 2022 erstmals seit drei Jahren wieder nach Minsk. Für diese Ver­schiebung in den Beziehungen gibt es meh­rere Gründe. Zum einen war sie dadurch bedingt, dass Lukaschenka nach dem Ver­fassungsreferendum vom 27. Februar 2022 den Umbau des politischen Systems in Bela­rus erfolgreich vorantrieb. Er war daher überzeugt, die innere Situation wieder voll im Griff zu haben und ohne Widerspruch des Kremls bei den Präsidentschaftswahlen 2025 antreten zu können. Zum anderen schufen die westlichen Sanktionen, die nach der Invasion verhängt wurden, mit zu­nehmender Kriegsdauer ein neues Gleichgewicht zwischen Putin und Lukaschenka. Denn nun waren beide Herrscher interna­tionale Parias. Da die Wirtschaftssanktionen gegen ihre Länder unterschiedlich aus­fielen, konnte Belarus partiell die russische Nachfrage an bisher aus dem Westen importierten Gütern befriedigen. Zudem pro­duziert Belarus militärisches Gerät (dar­unter optoelektronische Sensoren und Fahr­gestelle für Raketen), das nicht in Russland hergestellt wird. Dadurch stieg der russi­sche Bedarf an Kooperation mit Belarus und an Unterstützung von dort.

Wirtschaftliche Verflechtung und Scheinerholung

Wie sehr die Bedeutung der belarussischen Wirtschaft für Russland zugenommen hat, zeigt der wachsende Anteil von Belarus am russischen Export. Dieser erhöhte sich 2022 von etwa 5 Prozent in den Vorjahren auf rund 9 Prozent. Gleichzeitig waren die Importe aus Russland rückläufig. Dadurch hatte Belarus erstmals seit 1992 eine posi­tive Handelsbilanz gegenüber dem Nach­barland. Die Gesamtbilanz von Belarus war dennoch leicht negativ (minus 99 Millionen US-Dollar), da im Handel mit der EU die Exporte stärker einbrachen als die Importe. Der Rückgang des belarussischen Brutto­inlandsprodukts (BIP) fiel mit 3,7 Prozent geringer aus, als dies angesichts der west­lichen Sanktionen und des Wegfalls des bedeutenden ukrainischen Markts von vie­len erwartet worden war. In den ersten neun Monaten des Jahres 2023 wuchs das BIP nach offiziellen Angaben wieder um 3,5 Prozent.

Diesen scheinbar positiven Trends steht eine wachsende Abhängigkeit der belarus­sischen Wirtschaft von der ökonomischen Entwicklung Russlands gegenüber. Lag des­sen Anteil am belarussischen Außenhandel 2021 noch bei 49 Prozent, so beträgt er aktuell etwa 70 Prozent. Kalkuliert man ein, dass der Transit belarussischer Güter in Drittländer über russische Häfen und Eisen­bahnen abgewickelt wird, so beträgt der russische Anteil an den belarussischen Ex­porten fast 90 Prozent. Dies lässt erken­nen, wie fragil die ökonomische Stabilisierung des Landes ist.

Parallel zur Ankurbelung der Wirtschaft nahmen 2023 auch die Importe aus Dritt­ländern, die nicht zur Gemeinschaft Un­abhängiger Staaten (GUS) gehören, wieder zu. Dadurch entwickelte sich die Handels­bilanz 2023 mit einem Gesamtminus von 2 Milliarden US-Dollar in den ersten neun Monaten wie in früheren Jahren deutlich negativ. Neben der EU trägt dazu auch China bei, das die Ukraine kriegsbedingt als zweitwichtigsten Handelspartner von Bela­rus abgelöst hat. Für die weitere Modernisierung seiner Wirtschaft ist Belarus dem­nach auf andere Länder als Russland ange­wiesen, zumal der einheimische Sektor der Informations- und Kommunikationstechnologie durch den Braindrain seit 2020 seine Rolle als innova­tiver Wachstumsmotor ein­gebüßt hat. Dies dürfte sich mittelfristig auch auf Russlands Importe aus Belarus auswirken.

Außenpolitisches Bemühen um Diversifizierung

Um die politische und wirtschaftliche Ab­hängigkeit von Russland zu reduzieren, hat Minsk seine Bemühungen deutlich intensi­viert, Kooperationen mit Drittstaaten aus­zubauen, die sich nicht an den westlichen Sanktionen beteiligen. Im Fokus steht dabei vor allem Afrika. Neben dem wirtschaftlichen Nutzen geht es Lukaschenka auch um Bündnisse gegen einen Demokratieexport des Westens. Hierfür bedient er sich wie Putin einer antikolonialen Rhetorik. Dyna­misch entwickelt haben sich vor allem die Kontakte zu autoritären Staaten wie Äqua­torialguinea, Iran und Simbabwe.

Lukaschenkas größter außenpolitischer Erfolg waren seine beiden China-Reisen im März und Dezember 2023. Bedeutung ge­wann der erste Besuch vor allem dadurch, dass Lukaschenkas Treffen mit Staatschef Xi Jinping erfolgte, kurz nachdem China ein Zwölf-Punkte-Papier zur Beendigung des Ukraine-Kriegs veröffentlicht hatte und bevor wiederum Xi nach Moskau reiste. Dieser Statusgewinn relativierte sich aber spätestens, als Putin im Oktober 2023 als Hauptgast am Seidenstraßen-Gipfel in Peking teilnahm. Zudem kann Belarus von China keine signifikante finanzielle Unter­stützung erwarten.

Ein weiterer Fokus der Minsker Außenpolitik liegt darauf, sich stärker an regiona­len Kooperationsstrukturen außerhalb des westlichen Einflussbereichs zu beteiligen. Belarus ist dabei, vollwertiges Mitglied der Shanghaier Organisation für Zusammen­arbeit (SOZ) zu werden. Es bewirbt sich zu­dem um eine vollwertige Mitgliedschaft in der Staatengruppe BRICS (Brasilien, Russ­land, Indien, China und Südafrika). Dahin­ter steht nicht zuletzt das Interesse, den künftigen Absatz von belarussischem Kali-Dünger in Brasilien und Indien zu sichern. Ebenso erhofft sich Belarus, bei der Forde­rung nach einem Ende entsprechender EU-Sanktionen von diesen Staaten unterstützt zu werden.

Ausbau der sicherheitspolitischen Kooperation

Im Kriegsverlauf haben Minsk und Moskau ihre sicherheitspolitische Zusammenarbeit weiter ausgebaut. Im Oktober 2022 ver­kündete Lukaschenka nach Absprache mit Putin, dass erstmals eine gemeinsame regio­nale Militäreinheit des Unionsstaats auf belarussischem Gebiet aufgestellt werde. Damit aktivierte man einen seit 1997 beste­henden Mechanismus aus dem bilateralen Abkommen über militärische Zusammenarbeit. Begründet wurde dies mit der zu­nehmenden Bedrohung von Belarus durch seine westlichen Nachbarstaaten und die Ukraine. Hintergrund dürfte nicht zuletzt Lukaschenkas Sorge sein, dass belarussische Söldner, die auf ukrainischer Seite im Kali­nouski-Regiment kämpfen, einen militärischen Umsturz gegen ihn vorbereiten könn­ten. Bis Januar 2023 verlegte man bis zu 9.000 russische Soldaten nach Belarus. Allerdings wurden sie bis zum Sommer wieder vollständig abgezogen. Präsent blie­ben bis zu 2.000 russische Soldaten und War­tungspersonal auf den von Russland in Belarus genutzten Flughäfen und in der Radarstation in Wilejka.

Im Sommer des Jahres begann Russland damit, zeitlich unbefristet taktische Nuk­learwaffen in Belarus zu stationieren, wo­durch die sicherheitspolitische Souveränität des Landes erheblich eingeschränkt wird. De facto handelt es sich dabei um einen langgehegten Wunsch Lukaschenkas. Die rechtlichen Grundlagen hierfür wurden gelegt, als Belarus mit dem Verfassungs­referendum im Februar 2022 sein Neutra­litätsprinzip und seinen atomwaffenfreien Status aufgab. Lukaschenka sieht in der Stationierung eine Bestandsgarantie seiner Macht. Niemand greife ein Land an, das über Atomwaffen verfüge – so seine Worte im Juni 2023, offensichtlich bezogen auf eine unterstellte Bedrohung aus dem Wes­ten, insbesondere durch Polen. Gleichzeitig unterstützt er damit aktiv den Ansatz des Kremls, die Sorge des Westens vor einer drohenden nuklearen Eskalation zu schü­ren, damit dieser seine militärische Unter­stützung für die Ukraine nicht ausdehnt.

Der Aufstand von Jewgenij Prigoschin und seinen Wagner-Söldnern am 24. Juni 2023 bot Lukaschenka die einmalige Gele­genheit, sich als »Retter« Russlands und gleichberechtigter Partner Putins zu insze­nieren. Zugleich revanchierte er sich quasi für die politische Unterstützung des Kremls im August 2020. Lukaschenka dürfte die Bedeutung seiner Vermittlungsaktion sicherlich übertrieben darstellen. Wichtig war aber tatsächlich, dass der belarussische Sicherheitsrat am Mittag des 24. Juni ver­kündete, jeder innere Konflikt nütze nur dem feindlichen Westen. Damit gab er die Argumentationslinie vor, die es Putin später erlaubte, Prigoschin und seinen Söldnern Straffreiheit in Aussicht zu stellen, sollten sie die Waffen niederlegen und nach Bela­rus abziehen.

Die Einladung der Wagner-Truppe war für Lukaschenka sowohl Chance als auch Risiko. So sollten die kampferprobten Söld­ner die belarussische Armee trainieren und die militärische Abschreckung verstärken, die sich gegen den Westen und etwaige oppositionelle Umsturzversuche im Inneren richtet. Auch war zu erwarten, dass Prigo­schins Verbindungen nach Afrika den bela­russischen Wirtschaftsambitionen auf die­sem Kontinent nützen. Gleichzeitig konnte die Präsenz Tausender russischer Söldner die politische Stabilität des Landes gefähr­den und dazu dienen, einen neuen Angriff auf die Ukraine von belarussischem Gebiet aus vorzubereiten. Prigoschins Tod am 23. August 2023 beendete den Hype um Lukaschenkas innerrussische Vermittler­rolle. Die Mehrzahl der Wagner-Söldner verließ nun das Land.

Anhaltende Vermittlungs­ambitionen

Seit Februar 2022 verfolgt Lukaschenka er­kennbar eine Doppelstrategie. Einerseits stellt er sich voll auf die Seite Russlands und agiert als aktiver Kriegsdienstleister. Andererseits betont er, Belarus sei militärisch nicht aktiv am Krieg beteiligt, und ver­sucht damit nach außen eine vom Kreml abweichende Position zu signalisieren. Letz­teres unterstreicht auch der Umstand, dass seit Herbst 2022 die Gefahr russischer Rake­tenangriffe von belarussischem Territorium aus deutlich abgenommen hat. Zudem rief Lukaschenka die ukrainische Führung wie­derholt dazu auf, an den Verhandlungstisch zurückzukehren, solange diese Option noch bestehe, und bot Vermittlung an.

Die ukrainische Seite lehnte entsprechende Offerten bisher stets ab, zumal Lukaschenkas Vermittlungsangebote unter anderem darauf zielten, dass die Ukraine ihr Streben nach einem Nato-Beitritt auf­gibt, was erkennbar russischen Interessen diente. Gleichwohl war Kyjiw daran inter­essiert, dass die belarussische Führung ihre relative Zurückhaltung im Krieg beibehält. Vor diesem Hintergrund scheint die Ukrai­ne sich zumindest zeitweise in Brüssel dafür eingesetzt zu haben, keine härteren Sanktionen gegen Belarus zu beschließen. Auch verzichtete sie auf hochrangige Kon­takte zur belarussischen Exilopposition. Die diplomatischen Beziehungen blieben erhalten, und weiterhin fanden informelle Gespräche zwischen beiden Seiten statt.

Die Ambitionen der Minsker Führung beschränken sich nicht auf eine Vermittlungsrolle im Krieg zwischen Russland und der Ukraine. Sie möchte aktiv daran mit­wir­ken, eine neue multipolare Weltordnung zu gestalten. So plädierte der belarussische Außenminister Sjarhej Alejnik vor der Generalversammlung der Vereinten Natio­nen am 25. September 2023 dafür, den Kreis der ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrats um Staaten Afrikas, Asiens und Lateinamerikas zu erweitern. An Groß­britannien, Frankreich und die USA appel­lierte er, »die Realien der Zeit« zu akzeptieren.

Auf der Eurasischen Sicherheitskonferenz, welche die belarussische Führung am 26./27. Oktober 2023 in Minsk mit insgesamt 300 Teilnehmenden ausrichtete, rief Alejnik den Westen auf, sein Nato-zentrier­tes Sicherheitsmodell aufzugeben und zum Prinzip der unteilbaren Sicherheit zurückzukehren. Mit einem überwiegend kon­struktiven Tonfall unterschied er sich deut­lich von seinem russischen Amtskollegen Sergej Lawrow. Allerdings reiste aus der EU lediglich der ungarische Außenminister Péter Szijjártó zu der Konferenz.

Schließlich setzt sich Minsk auch dafür ein, die multilateralen Organisationen im postsowjetischen Raum zu stärken, wie die Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit. Im Juni 2023 regte Lukaschenka unter anderem an, den Krisenreaktions­mechanismus des Bündnisses zu stärken. Dahinter dürfte nicht zuletzt das Kalkül stehen, den Druck des Kremls auf Belarus zu mindern, indem russische Ressourcen zur Konfliktbearbeitung in Südkaukasus und Zentralasien gebunden werden.

Schulterschluss und Abgrenzung

Der anhaltende Krieg hat paradoxerweise die Position des Minsker Regimes gegenüber Moskau gestärkt, denn für Putin ist Luka­schenka der einzige zuverlässige Verbündete. Allerdings hat Belarus damit nur takti­sche Gewinne erzielt, die mit dem Ende der russischen Aggression wieder verloren­gehen dürften. Selbst unter den Kriegs­bedingungen schreitet die Umsetzung der 28 Unionsprogramme voran. Wie von russi­scher Seite im November 2023 verlautbarte, sind sie bereits zu 90 Prozent erfüllt. Aller­dings ist derzeit kaum nachvollziehbar, wie viele der Roadmaps tatsächlich vollständig umgesetzt sind.

Sowohl bei einem russischen Erfolg als auch bei einem Misserfolg im Ukraine-Krieg dürfte der Druck Moskaus auf Lukaschenka wieder steigen. In beiden Fällen verlieren dessen Kriegsdienstleistungen an Relevanz; im zweiten Fall dürfte Putin zudem eine Integration von Belarus als Ausgleich für sein Scheitern sehen. Aus diesem Grund ist es für Lukaschenka von zentraler Bedeutung, an internationalen Verhandlungen zur Beendigung des Krieges beteiligt zu werden. Der Kreml scheint bestrebt, genau dies zu verhindern, indem er die Gräben zwischen Minsk und Kyjiw vertieft. So nötigt er seinen Verbündeten, die Kontakte zu den selbsternannten Volksrepubliken im Donbass zu vertiefen und sich an Kriegs­verbrechen wie der Deportation ukrainischer Kinder zu beteiligen.

Trotz der signifikanten Abhängigkeiten ist es falsch, Lukaschenka nur als einen Handlanger Putins zu sehen. Vielmehr hat er sich aus Eigeninteresse auf die enge Bin­dung an Moskau eingelassen, da sie seinem Machterhalt dient. Die beiden Staatschefs teilen zudem ein antiliberales und anti­westliches Weltbild, wobei Lukaschenka eher sowjetischen Traditionen verhaftet ist, während sich das Russland Putins imperial-nationalistisch orientiert.

Innenpolitisch ist Minsk bestrebt, eine vollständige Gleichschaltung mit dem rus­sischen Informationsraum zu verhindern. Zu diesem Zweck betreibt Lukaschenkas Regime eine nationale Geschichtspolitik sowjetischer Prägung, unter anderem mit der These vom Genozid am belarussischen Volk. Das Vorhaben, eine gemeinsame belarussisch-russische Medienholding zu schaf­fen, wurde bisher nicht umgesetzt. Im Informationsraum von Belarus dominieren russische Kriegsnarrative, denen gegenüber sich die Bevölkerung des Landes bisher jedoch insgesamt als erstaunlich resilient erweist.

Besondere Beachtung verdient der vielfältige horizontale Austausch zwischen belarussischen und russischen Akteuren. Einerseits pflegt Lukaschenka selbst inten­sive Kontakte zu russischen Gouverneuren, wovon er sich eine Garantie erhofft, auch unter einem eventuellen Nachfolger Putins an der Macht zu bleiben. Andererseits hat er offensichtlich die Sorge, dass sich Mit­glieder seines Apparats durch die Kooperation mit Russland seinem Einfluss entziehen könnten. Hierauf deutet etwa hin, dass Lukaschenka per Präsidialdekret vom 10. Oktober 2023 die nationalen Sicherheitsorgane einschließlich des Geheimdien­stes KGB, die bis dahin auch der Regierung und dem Sicherheitsrat unterstanden, aus­schließlich sich selbst unterstellt hat.

Strategische Schlussfolgerungen

Der Deutsche Bundestag hat die Bundes­regierung in einer am 7. November 2023 verabschiedeten Resolution aufgefordert, sich für den Erhalt der staatlichen Souveränität von Belarus einzusetzen. Entsprechen­de Appelle werden auch von der demokratischen Opposition des Landes sowie in anderen Statements europäischer Politikerinnen und Politiker formuliert. Die zen­trale Frage ist jedoch, welche Ansätze und Instrumente der europäischen und deut­schen Politik zur Verfügung stehen, um die Eigenständigkeit von Belarus zu stärken und seiner schleichenden Annexion durch Russland entgegenzuwirken. Insgesamt sind die Einflussmöglichkeiten des Westens beschränkt. Ausgehend von den faktischen Gegebenheiten im Land und den Ergebnissen der westlichen Belarus-Politik in den letzten Jahren lassen sich aber die nach­fol­genden Punkte festhalten.

Belarus ist kein Protektorat Russlands. Auch wenn sich das Land unter Lukaschen­kas Herrschaft immer stärker an Russland bindet, sollte der Westen Belarus nicht ab­schreiben und als russisches Protektorat behandeln. Vielmehr sollte er versuchen, ein eigenes Verhältnis zu Belarus zu defi­nieren, und dieses nicht als Funktion seiner Beziehungen zu Russland begreifen.

Sanktionen sind kein Gamechanger. Die westlichen Sanktionen treffen das Luka­schenka-Regime hart, bringen es aber nicht dazu, auf westliche Forderungen einzu­gehen. Viele Angehörige des belarussischen Staatsapparats sind dabei, sich mit dem Verlust des europäischen Standbeins in der Außenpolitik abzufinden. Sie setzen dar­auf, dass die Bedeutung des Westens in der entstehenden multipolaren Weltordnung ohnehin schwindet. Diese soll aus ihrer Sicht auch die imperialen Ansprüche des Kremls ausbalancieren. Die EU darf daher nicht ausschließlich auf Sanktionen setzen.

(Informelle) Gespräche mit dem Regime dürfen kein Tabu sein. Die demokratische Opposition und die Zivilgesellschaft des Landes umfassend zu unterstützen ist eine notwendige, aber keine hinreichende Vor­aussetzung dafür, dass sich Belarus zukünf­tig frei und selbständig entwickeln kann. Denn von den weiteren Handlungen des Lukaschenka-Regimes hängt ab, ob der fort­schreitende Souveränitätsverlust des Landes unumkehrbar wird. Deshalb sollten punk­tuelle Gespräche mit Vertretern des Re­gimes nicht ausgeschlossen werden, damit es möglich ist, Botschaften zu vermitteln und mehr Informationen zu erhalten. Die belarussische Elite ist in ihren Einstel­lun­gen weniger monolithisch, als es nach außen hin scheint. Nicht nur gegenüber der belarussischen Bevölkerung, sondern auch gegenüber jenen Machtakteuren, die keine repressiven Hardliner sind, sollten euro­päische Zukunftsoptionen kommuniziert wer­den. Dies gilt umso mehr, als sich dem Lukaschenka-Regime früher oder später die Frage einer Nachfolgeregelung stellt.

Grenzen müssen offen bleiben. Der so wichtige gesellschaftliche Austausch kann nur fortgesetzt werden, wenn die Grenzen offen bleiben und Visa nicht allein für humanitäre Zwecke, sondern auch für Be­suchs- und Geschäftsreisen ausgestellt werden. Deshalb hat die EU jegliches Inter­esse daran, dass es nicht zu einer weiteren Eskalation im Verhältnis zwischen Belarus und Polen bzw. den baltischen Staaten kommt. Ein Pokerspiel mit den Einsätzen Grenzschließungen versus Migranten­ströme liegt nicht im westlichen Interesse. Insofern ist es besonders wichtig, sich mög­lichst eng mit Polen und den baltischen Staaten abzustimmen. Der Regierungs­wech­sel in Warschau bietet hier neue Möglich­keiten, die genutzt werden sollten.

Chancen von Konditionalität prüfen. Das Lukaschenka-Regime fürchtet, dass seine Position gegenüber Moskau signifi­kant geschwächt wird, sollte es Verhand­lungen zur Beendigung des Ukraine-Krieges und zur Neugestaltung der europäischen Sicher­heitsordnung geben, an denen Minsk nicht beteiligt ist. In diesem Fall könnte der Wes­ten prüfen, ob sich die belarussische Füh­rung auf eine Konditionalitätslogik einlässt, die sie in der Vergangenheit immer abge­lehnt hat. Dies würde etwa bedeuten, dass Minsk westlichen Forderungen nach Frei­lassung aller politischen Gefangenen nach­kommt, wenn im Gegenzug konkrete Sank­tionen aufgehoben werden. Jedenfalls bleibt der Westen auf absehbare Zeit mit dem Problem konfrontiert, dass das Ziel, die belarussische Eigenstaatlichkeit zu erhal­ten, durch Isolationsstrategien unterminiert wird, die das Land faktisch ganz in Moskaus Arme treiben. Gradmesser westlicher Politik sollte sein, in welchem Maße es gelingt, ein Ende inhumaner repressiver Praktiken in Belarus zu erreichen, die Freilassung der politischen Gefangenen zu bewirken und Spielräume für einen Wandel im Land zu erweitern.

Manfred Huterer war von Juli 2019 bis Juli 2023 deutscher Botschafter in Belarus und ist derzeit Gastwissenschaftler in der Forschungsgruppe Osteuropa und Eurasien. Dr. Astrid Sahm ist Geschäftsführerin der Internationalen Bildungs- und Begegnungswerk gGmbH und seit 2012 Gastwissenschaftlerin in der Forschungsgruppe Osteuropa und Eurasien.

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