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Wissenspolitik im Kontext der internationalen Klimaverhandlungen

Der IPCC-Synthesebericht wird die COP28 und den Global Stocktake prägen

SWP-Aktuell 2023/A 28, 21.04.2023, 8 Pages

doi:10.18449/2023A28

Research Areas

Mit der Veröffentlichung seines Syntheseberichts im März 2023 hat der Weltklimarat IPCC sein Arbeitsprogramm im sechsten Berichtszyklus abgeschlossen. Die IPCC-Berich­te, und insbesondere deren politische Zusammenfassungen, liefern eine wissenschaftliche Basis für die Verhandlungen im Rahmen der UN-Klimarahmenkonvention (UNFCCC). Sie sind ein zentraler Orientierungspunkt der globalen Klimadebatte. Der jüngste Synthesebericht (SYR) gilt als eine der wichtigsten Informationsquellen für die im Pariser Abkommen vorgesehene erste Globale Bestandsaufnahme, die auf der UNFCCC-Vertragsstaatenkonferenz in Dubai (COP 28) im Dezember 2023 abgeschlossen werden soll. Die wissenspolitischen Kontroversen, die bei der Verabschiedung der Zu­sammenfassung sichtbar wurden, spiegeln Interessengegensätze wider, die die anste­hende Runde neuer Emissionsminderungs- und Finanzierungszusagen prägen werden.

Der Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) wurde 1988 vom Umweltprogramm der Vereinten Nationen (UN Environmental Programme) und der Welt­organisation für Meteorologie (WMO) ge­gründet. Er soll die Gefährdung durch den Klimawandel untersuchen und gesellschaftliche Reak­tionsmöglichkeiten ausloten. Der IPCC ist ein zwischenstaatlicher Ausschuss der UN und zugleich ein unabhängiges Wissenschaftsgremium. Seit der Veröffentlichung seines ersten Sachstandsberichts im Jahr 1990 setzt er international den Maß­stab für die Bewertung des wissenschaft­lichen Kenntnisstands zum Klimawandel. Seine Berichte spielen insbesondere bei den internatio­nalen Klimaverhandlungen im Kontext der UNFCCC eine wichtige Rolle. Sie liefern wissenschaftliche Erkenntnisse, die als Grundlage für Maßnahmen zur Be­kämpfung des Klimawandels und oft auch als Impuls zu einer Erhöhung der Ambitionen dienen. Die politischen Zusammen­fassungen (Summary for Policymakers, SPM), die einen formalen Zustimmungsprozess durch­laufen, bieten den Regierungen die Möglichkeit, wissenschaftliche Befunde in einen politischen Kontext zu setzen und sich auf gemeinsame, wissenschaftlich ab­gesicherte Sprachregelungen zu einigen, auf die sich die Parteien im UNFCCC-Prozess berufen können. Durch den Aufbau des IPCC und die Orga­nisation seiner Arbeit wird erreicht, dass die Berichte wissenschaft­liche Unabhängigkeit, Validität, Aktualität, Vollständigkeit und globale Gültigkeit für sich in Anspruch nehmen können. Weil jeder einzelne Satz diskutiert wird und das Plenum der Mitgliedstaaten der SPM am Ende zustimmen muss, wird andererseits jene politische co-ownership hergestellt, die für die Verwendung des Wissens im multi­lateralen und nationalen Kontext unabdingbar ist. Dabei gilt das Konsensprinzip, Die IPCC-Autoren müssen Vorschlägen zur Umformulierung ihres ursprünglichen Ent­wurfs zustimmen. So wird sichergestellt, dass die SPM ihre wissenschaftliche Sub­stanz und Integrität behält.

Die SPM liefert evidenzbasierte Zusammenfassungen des Status quo, der Trends und möglicher Szenarien und deren Rah­menbedingungen, aber keine Hand­lungs­empfehlungen. IPCC-Berichte und insbeson­dere die SPM sollen zwar politikrelevant, dürfen aber nicht »präskriptiv« (policy pre­scriptive) sein. Als zwischenstaatliches Gre­mium bewegt sich der IPCC grundsätzlich in einem Spannungsfeld zwischen der akademischen Forschung, die wissenschaftlich abgestützt auch Präferenzen formuliert, und den klima-, wirtschafts- und geopolitischen Prioritäten der Mitgliedstaaten. Bei den Plenarsitzungen zur Verabschiedung der SPM treten dementsprechend wissenspolitische Kontroversen über die angemessene Deutung von Klimawandelfolgen und Klimaschutzoptionen deutlich hervor.

Diese Auseinandersetzungen sind in den IPCC-Arbeitsgruppen II (Klimawandelfolgen, Anpassung und Verwundbarkeit) und III (Minderung des Klimawandels) besonders ausgeprägt. Im Unterschied zur Arbeitsgruppe I (Naturwissenschaftliche Grund­lagen) bearbeiten diese Fragestellungen, die zum Kernbereich des Regierungshandelns zählen. Sie bewerten unter anderem sozial­wissenschaftliche und ökonomische Fach­literatur zu politischen Instrumenten und zu Technologien zur Emissionsreduktion sowie zur Stärkung der gesellschaftlichen Resilienz. Auch die Integration ver­schiede­ner Wissenssysteme erhöht die Komplexität des Abstimmungsprozesses.

Der IPCC in der Post-Paris-Welt

2015 wurden mit der UN-2030-Agenda mit ihren 17 Zielen nachhaltiger Entwicklung und dem Pariser Abkommen als Instrument der Klimarahmenkonvention multilaterale Zielvereinbarungen mit universeller Gültig­keit verabschiedet. Die Weltgemeinschaft hat sich – gestützt auch auf Erkenntnisse aus dem fünf­ten IPCC-Synthesebericht 2014 – darauf geeinigt, den »Anstieg der durch­schnittlichen Erdtemperatur deutlich unter 2 °C über dem vorindustriellen Niveau« zu halten und »Anstrengungen zu unter­nehmen«, diesen »auf 1,5 °C zu begrenzen«. Zudem sollen die Anpassung an den Klima­wandel gestärkt und die globalen Finanzflüsse in Einklang mit diesen Zielen ge­bracht werden. Die Forschung zur Eindäm­mung des Klimawandels und zur Bewälti­gung seiner Folgen fokussiert seitdem ver­mehrt auf die Operationalisierung der Ziele des Pariser Abkommens. Dabei muss sie sich mit der konstruktiven Mehrdeutigkeit vieler Formulierungen auseinandersetzen und mit der Spannung zurechtkommen, die sich durch die weitgehend globale Per­spektive der IPCC-Berich­te und regional- und kontextspezifisch unterschiedliche Lösungswege ergibt.

Der IPCC ist als Institution unabhängig, hat aber kein Mandat, klimapolitische Ziele zu definieren. Andererseits wird von ihm erwartet, Wissen in einer für Regierungen und auch den UN-Klimaprozess relevanten Form aufzubereiten, etwa mit Aussagen zur Wahrscheinlichkeit gefährlicher Klimawandelfolgen oder zu Erfolgsaussichten ver­schiedener Pfade, die Erwärmung zu be­gren­zen. Aufgrund der Unsicherheiten, die dem Klimasystem und sozioökonomischen Ent­wicklungen inhärent sind, lassen sich diese nur als Bandbreiten beschreiben, was Spiel­raum für wissenspolitische Interventionen bietet. Auch die Beschreibung und Hervor­hebung bestimmter Lösungswege (z. B. ein Zeitplan zum globalen Kohle­ausstieg) hat notwendigerweise immer eine politi­sche Dimension. Dass die vom IPCC veröffent­lichten Abschätzungen möglicher künftiger Verläufe häufig als Anleitung im Kontext der Pariser Klimaziele interpretiert werden, bürdet den Wissenschaftlern eine beson­dere Verantwortung auf und stellt eine zu­sätzliche Herausforderung dar im Hinblick auf die Verabschiedung der SPM im Plenum.

Die Kontroversen entzünden sich dabei in der Regel an der Formulierung politisch sensibler Befunde, etwa an der expliziten Benennung der Hauptverursacher des Klima­wandels, an der Bewertung der Rolle fossiler Energieträger sowie spezifischer Treibhaus­gase wie CO2 oder Methan. Denn damit wer­den immer auch Aussagen zu spezifischen Sektoren oder Ländern getroffen. Auch die regionale Ausprägung der Folgen des Klima­wandels und der Kosten des Klimaschutzes und eines Umbaus der Weltwirtschaft zählen zu den sensiblen Themen. Strittig ist auch die Differenzierung zwischen Länder­gruppen anhand sozioökonomischer Krite­rien und entlang der in der UNFCCC domi­nanten Dichotomie von Entwicklungs- und Industrieländern, insbesondere unter den Aspekten von Gerechtigkeit und historischer Verantwortung.

Im sechsten Berichtszyklus (2015–2023) ist verstärkt die Frage aufgetreten, wie die Prinzipien Fairness und Gerechtigkeit ope­rationalisiert werden können, etwa in Be­zug auf Ansprüche auf das verbleibende CO2-Budget und die Übernahme von Ver­ant­wortung zur Unterstützung von ärme­ren Ländern oder solchen, die von den Fol­gen des Klimawandels besonders betroffen sind. Die Berücksichtigung des nationalen Kontexts und der Unterschiede zwischen Ländern und Regionen speziell in Bezug auf die Anwendbarkeit technologischer Ansätze, die Ausgestaltung wirksamer Politikinstrumente und finanzielle Kapazi­täten ist vor allem den großen Schwellenländern ein Anliegen. Auch die universale Gültigkeit von sozioökonomischen Annahmen in Szenarien bzw. die Anwendbarkeit von globalen Modellergebnissen im nationalen und regionalen Kontext wird im IPCC seit einigen Jahren kontrovers diskutiert. Glo­bale Modellstudien werden vermehrt als Roadmaps zur Umsetzung politischer Ziele und zur Entwicklung von Benchmarks wie »Netto-Null-Emissionen bis 2050« genutzt. Daher ist die Frage, inwiefern die (Nicht-)Be­rücksichtigung von Aspekten der historischen Verantwortung und der Verteilungsgerechtigkeit in diesen Studien implizit normsetzend wirkt, zu einem Diskussions­punkt zwischen einigen Regierungen und den Wissenschaftlern geworden.

Der sechste IPCC-Synthesebericht

Jeder Synthesebericht bildet den Abschluss eines Berichtszyklus und integriert die Er­gebnisse der Sonder- und Sachstands­berichte, die innerhalb des Turnus erstellt wurden, über alle Arbeitsgruppen hinweg für politische Entscheidungsträger und die Öffentlichkeit. Obwohl die Syntheseberich­te somit keine neuen wissenschaftlichen Daten enthalten und prozessbedingt nicht die aktuellste Datenlage wiedergeben, sind sie die am weitesten rezipierten und poli­tisch einflussreichsten Produkte des IPCC. In der Vergangenheit haben die Syntheseberichte auch im politischen Raum wichtige Konzepte, Narrative und Schwellenwerte be­einflusst. So war zum Beispiel der Synthese­bericht des dritten Berichtszyklus entschei­dend für die Etablierung der sogenannten burning embers, einer ikonischen Grafik, die fünf aggregierte Risiken entlang eines Tem­peraturgradienten zeigt und die seither die von Bericht zu Bericht verschärften Risiko­einschätzungen eindrücklich visualisiert. Im fünften Berichtszyklus (AR5) trug der SYR entscheidend zur Popularisierung des Kon­zepts eines begrenzten CO2-Budgets (carbon budget) bei und damit zu der Erkenntnis, dass CO2-Emissionen global auf Netto-Null redu­ziert werden müssen. Zudem wurde im AR5 SYR auf Druck vor allem der kleinen Insel­staaten, die durch den Meeresspiegelanstieg in ihrer Existenz bedroht sind, eine zusätz­liche Kategorie für Minderungspfade be­rücksichtigt, welche die globale Erwärmung im Jahr 2100 auf 1,5 °C begrenzen, eine wichtige Grundlage für das spätere Lang­frist-Temperaturziel im Pariser Abkommen.

Der Synthesebericht des sechsten Berichts­zyklus (AR6 SYR) ist eine der wichtigsten Informationsquellen für die erste Globale Bestandsaufnahme (Global Stocktake) im Kon­text des Pariser Abkommens, die bei der COP28 in Dubai im Dezember abgeschlossen werden soll. Der Global Stocktake bewertet in einem zweijährigen Prozess den kollektiven Fortschritt in Bezug auf die langfristigen Ziele des Pariser Abkommens, insbesondere das Ambitionsniveau der Gesamtheit aller Nationally Determined Contributions (NDCs) und deren Umsetzung. Neben dem Status und den Trends bei den etablierten Katego­rien – Treibhausgasquellen und ‑sen­ken, An­passung und Finanzflüsse – berück­sichtigt er unter anderem auch Verluste und Schäden, besondere Herausforderungen für Entwicklungsländer, Fragen der inter­natio­nalen Kooperation sowie der Gerechtigkeit und Fairness. Der Global Stock­take soll die regelmäßige Nachbesserung der nationalen Beiträge bewirken und damit ultimativ zum kollektiven Erreichen der Pariser Ziele bei­tragen. Darüber hinaus wird der AR6 SYR auch ein zentraler Bezugspunkt sein bei den Verhandlungen über das Globale Anpas­sungsziel, über ein neues kollektives Klima­finanzierungsziel oder über den bei der COP27 beschlossenen neuen Finanzierungs­mechanismus für Verluste und Schäden. Daher ist es für die beteiligten Regierungen besonders wichtig, dass die im SYR hervor­gehobenen Erkenntnisse der Wissenschaft und die darin verwendete Sprache ihre nationalen Prioritäten und Verhandlungs­positionen im internationalen Klimaprozess möglichst weitgehend reflektieren.

Erhöhte Risiken und sinkendes Anpassungspotential

Der IPCC hat seine Bewertung der Klimawandelrisiken im Vergleich zum fünften Berichtszyklus erneut verschärft. Schwerwiegende Auswirkungen werden schon bei geringeren Erwärmungsniveaus erwartet als zuvor. Und der SYR bestätigt den Befund des 2018 erschienenen Sonderberichts über 1,5 °C globale Erwärmung, dem zufolge ein mittlerer Temperaturanstieg in besagter Höhe eine bedeutende Risikoschwelle dar­stellt für besonders verwundbare Öko­systeme, Regionen und Gesellschaften. Zu dieser Erkenntnis hat auch eine eingehendere Analyse des langfristigen Meeresspiegel­anstiegs und der Wahrscheinlichkeit beigetragen, dass sogenannte Kipppunkte erreicht werden. Ausgangspunkt dafür waren Resultate, die bereits im Sonderbericht über den Ozean und die Kryosphäre (2019) vor­gelegt wurden. Auch die Beobachtung, dass Klimawandelfolgen und Schäden und Ver­luste durch Extremwetterereignisse zu­genommen haben, bestätigt diese Bewer­tung. Hinzu kommt der Befund, dass die Wirksamkeit vieler Anpassungsoptionen mit zunehmender Erwärmung zurückgeht und für bestimmte Regionen und Ökosyste­me harte Anpassungsgrenzen bereits jetzt erreicht sind bzw. zwischen 1,5 °C und 2 °C globaler Erwärmung erreicht werden.

Diese Ergebnisse des AR6 haben mit dazu beigetragen, dass sich der Schwerpunkt im politischen und öffentlichen Diskurs von der Begrenzung der Erwärmung auf deut­lich unter 2 °C in Richtung 1,5 °C verlagert hat. Viele Regierungen und die Erklärungen von Glasgow (COP26) und Sharm-el Sheik (COP27) verweisen nun auf 1,5 °C als kollek­tives Ambitionsniveau (siehe SWP-Aktuell 81/2021 und 8/2023).

Transformation in dieser Dekade

Spätestens seit dem Sonderbericht über 1,5 °C globale Erwärmung sendet der IPCC die Bot­schaft, dass jede noch so kleine Zunahme der Erwärmung und jedes Jahr und jede Ent­scheidung zählen. Um das Langfrist-Tempe­raturziel des Pariser Abkommens zu errei­chen, sind massive, rasche und anhaltende Reduktionen der Treibhausgasemissionen in allen Sektoren notwendig. Die aktuell vorliegenden NDCs sind völlig unzurei­chend. Der SYR attestiert hier eine große Ambitions- und Implementierungslücke. Um die Erwärmung »mit begrenztem over­shoot« (also temporärem Überschreiten von maximal 0,1 °C) langfristig unterhalb 1,5 °C zu halten, müssen sich die globalen Treib­hausgasreduktionen im Zeitraum 2019–2030 auf 43 Pro­zent, bis 2035 auf 60 Pro­zent belaufen. Insbesondere der im SYR erstmals explizit genannte Minderungswert für das Jahr 2035 dürfte sich bei der Prü­fung der globalen Ambition im Rahmen des Global Stocktake und bei der darauffolgenden Neuformulierung der NDCs mit Zeithorizont bis 2035 als wichtige Orientierungsmarke erweisen.

Für den politischen Prozess sind solche quantitativen Abschätzungen zu Reduk­tionszielen, ‑fristen und ‑potentialen maß­gebliche Vorlagen und speziell für einzelne Sektoren, Technologien oder Energieträger entsprechend umstritten. Konkrete Angaben zu Ausstiegsjahren oder Reduktionszielen für Kohle, Öl und Gas, zu einem Stopp der Entwaldung oder auch zu erforderlichen Ausbauraten für erneuerbare Energien fin­den sich in der SYR nicht. Die zunehmende Kosteneffizienz der Wind- und der Solar­energie und deren hoher potentieller Bei­trag zu den »Paris-kompatiblen« Emissions­reduktionen bis 2030 lassen sich nur einer Grafik entnehmen. Konsensfähig waren hingegen die Aussagen zur wichtigen Rolle von Maßnahmen zur Methanreduktion. Dies dürfte ein Hinweis auf einen Schwerpunkt der COP28 sein.

Die Zukunft fossiler Energieträger

Während in wissenschaftlichen, zivilgesellschaftlichen und nationalen politischen De­batten in Industrieländern von der Prä­misse ausgegangen wird, dass der weitgehende Ausstieg aus fossilen Energieträgern eine Bedingung für effektiven Klimaschutz ist, sind im multilateralen Rahmen Formulierungen, die sich auf die Produktion, Finan­zierung und Subventionierung von Kohle, Öl und Erdgas beziehen, schwer durchsetzbar. Tatsächlich war der bei der COP26 ver­abschiedete Glasgow Climate Pact das erste UNFCCC-Beschlussdokument, das eine ex­plizite Referenz zu fossilen Energieträgern enthielt. Die beim Punkt Kohleverstromung in letzter Minute erzwungene Änderung der Formulierung »phase out« zu »phase down« ließ in Glasgow fast die Verhandlungen platzen.

Mit einigen Formulierungen in der poli­tischen Zusammenfassung des Berichts der Arbeitsgruppe III (2022) wurde hier Neuland betreten. Diese finden sich im SYR wieder. Beide Dokumente zeigen, dass Finanzflüsse für fossile Infrastruktur und Subventionen global diejenigen für Klimaschutz und Anpassung übersteigen und weisen darauf hin, dass allein die Emissionen aus der Weiternutzung der existierenden Anlagen zur Energieversorgung das verbleibende CO2-Budget für 1,5 °C bereits sprengen. Emis­sionen aus geplanten Anlagen würden – ohne zusätzliche Minderungsmaßnahmen wie CO2-Abscheidung und -Einlagerung (Carbon Capture and Storage, CCS) – selbst das CO2-Budget für 2 °C ausreizen.

Bei Aussagen zur Notwendigkeit einer Reduzierung der Nutzung fossiler Energieträger steht regelmäßig der Zusatz »ohne CCS«. Die Nutzung fossiler Energieträger mit CCS wird ungeachtet der damit verbun­denen hohen Kosten, begrenzter Einsatz­möglichkeiten und eines geringen kurzfristigen Minderungspotentials in der SPM des SYR als wesentliche Technologie gelistet. Eine Fußnote weist indes auf die Begrenzungen des CCS-Verfahrens hin. Diese hohe Bewertung begründet sich einerseits damit, dass CCS in vielen der Emissionsminderungs­szenarien der Arbeitsgruppe III, insbesondere bei der Kohleverstromung, eine promi­nente Rolle spielt, was für stark kohle­abhän­gige Länder politisch relevant ist. Ande­rer­seits wird mit der Betonung des Potentials von CCS für fossile Energieträger allgemein auch deren Zukunftsfähigkeit insinuiert, was für viele öl- und gasproduzierende Länder wichtig ist, die auf einen CCS-Pfad bzw. auf CO2-Abscheidung und ‑Verwendung (Carbon Capture and Utilization, CCU) setzen.

Temporäres Überschreiten von 1,5 °C und CDR als neue Normalität

Der SYR enthält eine unbequeme Wahrheit, die mit ungewohnter Deutlichkeit aus­gesprochen wird: Die Schwelle von 1,5 °C wird erwartbar selbst bei sofortigen und strengen Klimaschutzmaßnahmen weltweit zumindest vorübergehend überschritten werden, und zwar wahrscheinlich schon Anfang der 2030er Jahre.

Damit ist einer der zentralen Widersprüche der Klimapolitik ins Scheinwerferlicht gerückt: Die politischen Bekenntnisse zu 1,5 °C sind mit der Realität der seit Paris un­verminderten Emissionen nicht vereinbar. Das verbleibende CO2-Budget für 1,5 °C wäre laut SYR bei gleichbleibenden Emissionen bis Ende dieses Jahrzehnts aufgezehrt. Eine drastische Reduktion der globalen CO2-Emis­sionen um 48 Prozent bis 2030 gegenüber dem Niveau von 2019 und das Erreichen von Netto-Null-CO2-Emissionen bis Anfang der 2050er Jahre würde es immerhin ermög­lichen, den Temperaturanstieg auf 1,6 °C zu begrenzen. Nur wenn weltweit die kumu­lierte Entnahme von CO2 aus der Atmosphäre (Carbon Dioxide Removal, CDR) die Menge verbleibender CO2-Restemissionen in der zweiten Jahrhunderthälfte deutlich über­schreiten würde, könnte der Temperatur­anstieg wieder auf 1,5 °C gedrückt werden.

Die Unvermeidbarkeit einer großskaligen CO2-Entnahme aus der Atmosphäre, um die Erwärmung nach einem temporären over­shoot wieder auf 1,5 °C zurückzuführen, wird im SYR klar benannt. Im Report werden auch die dadurch entstehenden bzw. damit verknüpften Risiken angesprochen, sowohl in Bezug auf die potentiellen Konsequenzen einer vorübergehenden Überschreitung von 1,5 °C als auch in Bezug auf die technische Umsetzbarkeit, die Kosten und die mög­lichen ökologischen und sozialen Folgen einer solchen großskaligen CO2-Entnahme, die zusätzlich zu CDR zum Ausgleich von schwer vermeidbaren Restemissionen (z. B. aus der Landwirtschaft) erfolgen müsste.

Dieser Schritt in Richtung Normalisierung und Versachlichung einer notwendigen Debatte beruht auch auf wissenschaftlichen Fortschritten seit dem AR5. Zu nen­nen wären hier etwa die systematische Untersuchung von Umwelt-, Sozial- und Kostendimensionen verschiedener CDR-An­sätze, die Berücksichtigung möglicher Flächenkonkurrenzen und anderer Nach­haltigkeitskriterien bei der Modellierung ökosystembasierter CDR-Technologien wie Bioenergie mit CCS (BECCS) oder Aufforstung zur Vermeidung von Zielkonflikten und die hieraus resultierenden Erkenntnisgewinne im Hinblick auf die nachhaltigen Potentiale von CDR. Hohe Dynamik ist auch bei der praktischen Umsetzung zu verzeich­nen: von Pilotanlagen für BECCS und Direct Air Carbon Capture and Storage (DACCS) über umfassende staatliche Innovationsprogramme, zum Beispiel in den USA und UK, bis zur konkreten politischen Rahmensetzung auf EU-Ebene, wo der Rat der Fach­minister und das Europäische Parlament derzeit über die Regulierung der Zertifizierung von CDR-Methoden verhandeln.

Diese Entwicklungen zeigen deutlich, dass eine durchgängige Berücksichtigung von CDR Teil der neuen Normalität im Klimaschutz sein wird. CDR wird dabei allerdings nicht anstatt, sondern zusätzlich zu ambitionierter Emissionsreduktion be­trieben werden müssen, damit das Tempe­raturziel des Pariser Abkommens eingehalten werden kann und sich die zu neutralisierenden Restemissionen und der tempo­räre overshoot auf handhabbare Größen­ordnungen begrenzen lassen.

Welche Effekte das absehbare Überschrei­ten der 1,5 °C-Schwelle für die UNFCCC-Verhandlungen haben wird, ist offen. Es könnte die Stimmen derjenigen stärken, die einen engeren Fokus auf die Marke »deut­lich unter 2 °C« unterstützen. Es ist auch denk­bar, dass 1,5 °C als »Überlebensgrenze« ins­besondere der kleinen Inselstaaten eher noch an Bedeutung gewinnt, und der Fokus sich darauf verschiebt, wie das Ausmaß und die Dauer des overshoot möglichst gering­gehalten und der notwendige Einsatz von CDR auch politisch organisiert und finan­ziert werden können, ohne nachhaltige Entwicklungsziele zu gefährden.

Klimafinanzierung, Verluste und Schäden

Klimarelevante Investitionen müssten in naher Zukunft erheblich aufgestockt wer­den, um die Ziele des Pariser Abkommens zu erreichen. Die Finanzflüsse für die Trans­formation sind aktuell mehr als un­zureichend, und im Bereich Anpassung ist die entsprechende Lücke noch größer als beim Klimaschutz. Erstmals wird im SYR im Kontext der Anpassungsthematik auch ex­plizit darauf verwiesen, dass sich die finan­ziellen Spielräume gerade der ärms­ten Ent­wicklungsländer durch die wirtschaftlichen Folgen des Klimawandels vermindern.

Der Umfang der Finanzbedarfe lässt sich wissenschaftlich ermitteln. Ebenso können Aussagen über potentiell wirksame Instru­mente und Mechanismen getroffen werden, die Zugang zu Finanzierung ermöglichen. Die Frage, woher die Mittel kommen sollen und welche Unterstützung die reicheren (historischen) Groß­emittenten leisten sol­len, kann hingegen nicht vom IPCC geklärt werden. Selbst eine grafische Darstellung von Daten, aus denen sich Konsequenzen in Bezug auf Verantwortung oder Haftung ab­leiten ließen, wie zum Beispiel länderspezifischer Emissionen, ist im Rahmen der Er­stellung einer politischen Zusammenfassung kaum durchsetzbar. Die Kontroversen, die über entsprechende Formulierungs­entwürfe oder Visualisierungen entstehen, sind auch vor dem Hintergrund der anste­henden Ver­handlungen über ein neues Finanzierungsziel im Kontext des Pariser Abkommens so­wie über den Finanzmechanismus für Ver­luste und Schäden zu sehen. Die Liste der potentiellen Geber ist bereits über die tradi­tionellen Industrieländer hinaus erweitert worden, aber konkrete Verpflichtungen müssen noch verhandelt werden.

Der SYR nimmt an vielen Stellen und mit großem Nachdruck Bezug auf klimawandelbedingte Schäden und Verluste, die bereits entstanden oder in Zukunft, vor allem bei Überschreiten der 1,5 °C-Schwelle, unvermeidbar sind. Sprachlich klar ab­gegrenzt vom »Loss and Damage«-Konzept der UNFCCC, vermeidet der Text eine regio­nale Differenzierung. Damit spiegelt er den politischen Konsens der COP27 wider, dass besonders betroffene und ärmere Länder Unterstützung zur Bewältigung von zuneh­menden Schäden und Verlusten brauchen, lässt jedoch offen, welche Länder dies sind.

Eine zusätzliche Schwierigkeit bei der Be­arbeitung dieses Themas erwächst aus dem Fehlen einer allgemein gültigen Definition des Begriffs Entwicklungsländer und aus dessen starker Poli­tisierung im UN-Kontext. Dies macht eine Differenzierung entlang anderer, in der Wissenschaft üblicher Kate­gorien (z.B. anhand des Bruttonational­einkommens oder des UN-Index der mensch­lichen Entwicklung) im SYR unmöglich.

Die innerhalb der UNFCCC praktizierte, aus dem Jahr 1992 stammende Zwei­teilung in Industrie- und Entwicklungsländer spie­gelt hingegen nicht die heutige Situation in der Welt in Bezug auf Wirtschaftsstärke, re­lative und absolute aktuelle und histo­rische Emissionen und Kapazität zur Unterstützung anderer wider. Einer der großen Durch­brüche des Pariser Abkommens ist seine universelle Gültigkeit, und die Über­windung dieser Dichotomie unter dem Leit­satz der »gemeinsamen, aber differenzierten Verantwortlichkeit« (common but differen­tiated responsibilities and respective capabilities). Seither wird um die Interpretation dieser differenzierten Verantwortung hart gerun­gen, insbesondere zwischen den klassischen Industrieländern und den großen Schwellenländern wie China, Indien, Brasilien und Saudi-Arabien (siehe SWP-Aktuell 15/2019). Diese Spannung ist an den entsprechenden Stellen im SYR ablesbar, der als Input für den UNFCCC-Prozess dient.

Gerechtigkeit und Fairness

Der Umgang mit dem Klimawandel ist durch­drungen von Gerechtigkeitsfragen: innerhalb und zwischen Generationen und Gesellschaften, zwischen Verursachern und Betroffenen und zwischen ärmeren und reicheren Ländern, insbesondere vor dem Hintergrund des Rechts auf wirtschaftliche Entwicklung und Industrialisierung. Wie schon der AR5 betont auch der AR6 in die­sem Zusammenhang die potentiellen Syn­ergien zwischen ehrgeizigem Klimaschutz, Anpassung und anderen Zielen nachhaltiger Entwicklung. Der SYR hebt zudem hervor, wie bedeutsam eine gerechte und inklusive Gestaltung und Umsetzung klimapolitischer Maßnahmen für deren Effektivi­tät und Akzeptanz ist; auch kontextspezifische Fak­toren von Verwundbarkeit, vor allem armer und marginalisierter Bevölkerungsgruppen, müssten berücksichtigt werden.

Gerechtigkeit und Fairness ist ein eigener Abschnitt gewidmet. Ihre Bedeutung als zentrales Konzept im Kontext des UN-Klima­regimes wird herausgestellt und gleichzeitig eingeräumt, dass es »Verschiebungen bei der Differenzierung zwischen Staaten« geben könne und die »Bewertung der fairen Anteile« eine Schwierigkeit darstelle. Der Report weist darauf hin, dass eine ehrgeizige Klimaschutzpolitik potentiell disruptive Veränderungen in der ökonomischen Struk­tur auslösen kann, mit erheblichen Vertei­lungsfolgen innerhalb und zwischen Staa­ten. Das schließe auch die Verlagerung von Einkommen und Beschäftigung ein, beson­ders in Regionen, die wirtschaftlich stark von fossilen Energien abhängen. Im Kon­text dieser auch für die EU und Deutschland aktuellen Frage verweist der SYR auf die Beachtung von »gerechten Übergängen« (just transitions).

Blick nach vorn

Die IPCC-Plenarsitzung im schweizerischen Interlaken war die erste Verabschiedung eines Berichts in Präsenz seit 2018/19. Dass diese zum Erfolg geführt werden konnte, ist im Lichte der Folgen des russischen An­griffs­kriegs auf die Ukraine und der Corona-Krise eine beachtliche Leistung.

Die hierfür notwendige zweitägige Ver­längerung der Beratungen, mit langen Ver­handlungstagen und Nachtsitzungen, macht eine der großen Herausforderungen des multilateralen Klimaprozesses sichtbar: Gerade ärmere Länder mit kleinen Delega­tionen können sich unter solchen Bedingungen kaum gleichberechtigt einbringen. Wich­tige Stimmen einiger Staaten, die vom Klimawandel am meisten betroffen sind, fehlen dann am Ende, weil die Reisekosten ihrer Delegierten von der UN nur für die offiziell geplante Dauer der Sitzungen über­nommen werden und sie die Heimreise wie vorgesehen antreten.

Der IPCC steht vor großen institutionellen Aufgaben. Dem wachsenden Umfang der wissenschaftlichen Literatur und den rasanten technischen und politischen Entwicklungen ist das Gremium mit seinem aktuellen modus operandi kaum gewachsen. Die berechtigten Forderungen nach einer stärkeren Diversität des Autorinnen- und Autoren-Pools sind in einem Kooperationssystem, das auf Frei­willigkeit beruht, und innerhalb einer For­schungslandschaft, die von den Industrieländern dominiert wird, schwierig umzusetzen. Der globale Unter­suchungsrahmen limitiert zudem den Nut­zen der Ergebnisse auf nationaler Ebene. Gleichzeitig wirft das vermehrte Einbringen politischer Perspektiven auch die Frage nach der zukünftigen Funktionsfähigkeit des bis­her etablierten IPCC-Modells auf. Wenn sich der Fokus weiter von den naturwissenschaft­lichen Grundlagen wegbewegt und sich stär­ker auf Implementierung von Klimaschutz, Anpassung und Finanzierung richtet, wer­den nationale Sensibilitäten notwendigerweise mehr in den Vordergrund rücken.

Im Juli 2023 wird in Nairobi die neue IPCC-Führung gewählt – ein neuer Vorsitz, dessen Stellvertreter, die Co-Chairs der drei Arbeitsgruppen sowie das regional aus­gewo­gen besetzte Bureau. Das Arbeits­programm für den anschließenden siebten Berichtszyklus wird auf Grundlage der Er­fahrungen im AR6 voraussichtlich noch 2023 vom Plenum beschlossen. Die Diskus­sionen über eine Angleichung der Berichts­zyklen an den Fünfjahresrhythmus des Global Stocktake oder über die Zusammensetzung und Wahl des nächsten IPCC-Bureaus verliefen zuletzt kontrovers und ohne Be­schlüsse zu sub­stanziellen Neuerungen. Den tiefgreifenden Reformen, welche die Politikrelevanz der Arbeit des IPCC erhalten und die Inklusivität in dessen Prozessen erhöhen könnten, stehen dabei die insti­tutionellen Pfadabhängigkeiten entgegen, wie sie in UN-Organi­sationen nicht selten zum Tragen kommen.

Dr. Gerrit Hansen ist Gastwissenschaftlerin in der Forschungsgruppe Globale Fragen. Dr. Oliver Geden ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe EU / Europa. Geden war an der Erstellung des sechsten IPCC-Syntheseberichts als Leitautor beteiligt, Hansen als beitragende Autorin.

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