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WHO-Initiativen: reformierte inter­nationale Gesundheitsvorschriften und ein Pandemievertrag

Nach Covid-19: Synergien zwischen beiden Handlungssträngen nutzen

SWP-Aktuell 2022/A 77, 09.12.2022, 8 Pages

doi:10.18449/2022A77

Research Areas

In der Weltgesundheitsorganisation (WHO) liegen derzeit zwei wichtige Vorhaben an, die zu einem neuen Pandemievertrag und einer Reform der Internationalen Gesundheitsvorschriften von 2005 führen können. Mindestens zwei große Herausforderungen stehen dabei im Vordergrund: Wie kann bei der künftigen weltweiten Verteilung medizinischer Güter im Krisenfall eine globale Gesundheitsgerechtigkeit (»Equity«) hergestellt werden? Wie können die Anreize erhöht werden, damit Informationen über Krankheitsausbrüche künftig rascher und transparenter ausgetauscht werden? Es ist durchaus möglich, Synergien zu erzeugen, um die beiden Herausforderungen effektiver anzugehen.

Die weltweite Covid-19-Pandemie hat die Frage aufgeworfen, wie sichergestellt wer­den kann, dass die internationale Staaten­gemeinschaft in Zukunft besser und schnel­ler auf die Aus­breitung einer Krankheit wie SARS-CoV-2 reagiert. Zwei Punkte sind da­bei offen und werden kontrovers diskutiert: Wie kann, erstens, weltweit ein gerechter (»equitable«) Zugang zu medizinischen Gegenmaßnahmen, wie zum Beispiel Impf­stoffen, gewährleistet werden; und wie muss künftig der Informations- und Daten­austausch über neue Krankheitsausbrüche gestaltet sein.

Beide Themen sind durchaus miteinander verknüpft. Im Zentrum der Reformen stehen die völkerrechtlichen Normen im Bereich der grenzüberschreitenden Aus­breitung von Krankheiten. Dazu wird in Genf derzeit über eine Novellierung der Internationalen Gesundheitsvorschriften (IGV) von 2005 und die Schaffung eines neuen WHO-Abkommens zur Pandemievorsorge und -bekämpfung (im Folgenden als »Pandemievertrag« bezeichnet) verhandelt. Im Mittelpunkt dieser Bemühungen steht die Überzeugung einiger Staaten und Staatengruppen, wie der G7, der Europäischen Union (EU) und der Mitglieder der sogenannten »Freunde des Pandemie­vertrags«, dass eine regelbasierte inter­nationale Ordnung eine robustere Alter­native zur bisher gepflegten Ad-hoc-Diplo­matie bietet.

Deutschland hat ein Interesse am Erfolg dieser Reformprozesse. Seit der westafrikanischen Ebola-Krise von 2014/15 ist die Bundesregierung bestrebt, sich als Vorreiterin im Bereich Global Health zu positionieren. Diese Bemühungen verstärkten sich noch einmal während der Präsidentschaft von Donald Trump, als der Rückzug der USA aus multilateralen Vereinbarungen zur globalen Gesundheit in der offiziellen An­kündigung gipfelte, aus der WHO auszutreten. Zwar hat das Kabinett Biden diese Ent­scheidung wieder rückgängig gemacht, doch ein er­neuter Austritt ist je nach Aus­gang der Präsidentschaftswahlen 2024 nicht aus­zuschließen.

Wenn Deutschland seine Führungsrolle im Bereich der globalen Gesundheit im All­gemeinen und bei der Steuerung der WHO im Besonderen behaupten will, muss es sich aktiv an den beiden völkerrechtlichen Reformprozessen beteiligen. Das Zeitfenster für eine Mitgestaltung der Projekte, an deren Ende eine gerechtere und kohärentere Reak­tion auf künftige Pandemien stehen soll, ist zwar noch offen, könnte sich aber schließen, wenn sich Deutschland, die EU, die USA und andere führende Akteure im Bereich der globalen Gesundheit neuen Prioritäten zuwenden. Andere Entwicklungen wie der Krieg in der Ukraine und die drohende weltweite wirtschaftliche Rezes­sion könnten die geo­politische Fragmentierung vertiefen. Deutschland sollte die Chance ergreifen, sich durch sein Engagement in den laufenden Reformprozessen der WHO als verlässlicher langfristiger Part­ner der globalen Gesundheitsvorsorge zu er­weisen. Zielführend wäre es, wenn Deutsch­land den Ansatz verfolgen würde, die Aus­arbeitung eines Pandemievertrags und die IGV-Novellierung als komplementäre und nicht als parallele Aufgaben anzugehen.

Pandemievorsorge und ‑bekämp­fung: Relevanz des Völkerrechts?

Warum brauchen wir rechtsverbindliche internationale Regeln für den Umgang mit solchen Bedrohungen? Hierfür gibt es zwei wesentliche Gründe. Erstens: Folgt man einer klassisch funktionalistischen Argu­men­tation, erfordert das Erreichen be­stimmter Ziele, die für einen einzelnen Staat unerreichbar sind, die aktive Betei­ligung verschiedener Staaten. Dies wurde bei der Entstehung der Covid-19-Pandemie deutlich. Der Ort des Ausbruchs, das chine­sische Wuhan, lag weit außerhalb der recht­lichen Zuständigkeit der Behörden in Deutsch­land und der EU. Da künftige Pan­demien überall auf der Welt auftreten kön­nen, ist es wichtig, dass es Bestimmungen gibt, die eindeutig festlegen, was Staaten tun dürfen und was nicht. Zweitens können rechtliche Regeln im Gegensatz zu einer Kooperation, die von diplomatischen Er­wägungen ab­hängig ist, für mehr Kon­tinuität sorgen. Die Lähmung der Fähigkeit, auf eine Pandemie zu reagieren, weil sich die politischen Prioritäten der Regierenden geändert haben, erlaubt es nicht, den Kreis­lauf von »Panik und Nachlässigkeit« zu durch­brechen.

Pandemievertrag und Internatio­nale Gesundheitsvorschriften: Der Weg zur Verabschiedung

Nach Artikel 19 bzw. 21 der Verfassung der WHO kann die Weltgesundheitsversammlung rechtsverbindliche Konventionen und Vorschriften erlassen. Die Versammlung wiederum setzt sich aus Vertreterinnen und Vertretern der Staaten − häufig Gesundheitsministerinnen und -minister − zusam­men, die regelmäßig einmal im Jahr tagen und über Resolutionen und Beschlüsse abstimmen. Daher liegt die end­gültige Entscheidung darüber, was an­genom­men wird, bei den Mitgliedstaaten selbst.

Gemäß Artikel 60 der WHO-Verfassung gelten für die Annahme von Vorschriften, Kon­ventionen oder Verträgen durch die Weltgesundheitsversammlung unterschiedliche Abstimmungsquoten (siehe Tabelle). Für die Verabschiedung von Ver­trägen oder Ab­kommen ist nach Artikel 60 (a) der WHO-Verfassung eine Zweidrittelmehrheit der in der Versammlung anwesenden und ab­stimmenden Mitgliedstaaten erforderlich. Vor­schriften können gemäß Artikel 60 (b) mit einfacher Mehrheit angenommen wer­den, es sei denn, die Staatenvertreter stufen sie ad hoc als »wichtige Fragen« ein, so dass die besagte Zweidrittelmehrheit erforderlich wird. Trotz der Unterschiede in den Vorgaben, was die notwendigen Mehr­heiten und Verfahren für das Inkrafttreten betrifft, werden Abkommen und Vorschriften in den Plenarsitzungen der Weltgesund­heitsversammlung in der Praxis (grundsätzlich) durch Konsens entschieden.

Realisierung eines neuen Pandemievertrags

Tabelle 1

Vergleich der WHO-Abkommen und -Vorschriften

Art des Instruments

Genehmigungsverfahren

Gegenstand

Präzedenzfälle

WHO-Abkommen

  • Qualifizierte Mehrheit (2/3) in der Weltgesundheits­versammlung.

  • Anschließende Genehmigung durch nationale Gremien (falls vereinbart) und Ratifizierung.

  • Alle Angelegenheiten, die in den Zuständigkeits­bereich der WHO gemäß Artikel 2 ihrer Verfassung fallen.

  • Rahmenübereinkommen zur Eindämmung des Tabakgebrauchs (2003).

WHO-Vorschriften

  • Einfache Mehrheit in der Weltgesundheitsversammlung, sofern nicht anders vereinbart.

  • Fünf Themenbereiche, die in Artikel 21 der Verfassung der WHO ausdrücklich genannt sind.

  • Nomenklaturvorschriften (1948, revidiert 1967)

  • Internationales Sanitäts­reglement (1951).

  • Internationale Gesundheitsvorschriften (1969)

  • Internationale Gesundheitsvorschriften (2005).

WHO-Abkommen (in Form von internationalen Verträgen) und WHO-Vorschriften (wie die IGV und ihre Reformen) haben einen unterschiedlichen Anwendungs­bereich in Bezug auf das, was sie regulieren können. Abkommen oder Verträge können gemäß Artikel 19 der WHO-Verfassung »über jede innerhalb der Zuständigkeit der Organisation liegende Frage« verabschiedet werden, und Artikel 2 der genannten Ver­fassung zählt 22 Aufgaben auf, die sich die WHO zu eigen macht. Mit der ersten er­mächtigt sich die Organisation, die »leiten­de und koordinierende Stelle des internatio­nalen Gesundheitswesens« zu sein. Arti­kel 19 der WHO-Verfassung ist zwar eine Regelung mit gro­ßer Reichweite; in der Praxis stößt die darin formulierte Maßgabe aber auch an gewisse Grenzen, was beson­ders deutlich wird, wenn sich die WHO mit Fragen befasst, die in den Zuständigkeits­bereich anderer völkerrechtlicher Regelungen fallen. Themen wie der Zugang zu Arzneimitteln (wegen der Rechte an geis­ti­gem Eigentum) oder die Umwelt­gesundheit (in Verbindung mit dem One-Health-Begriff) sind Beispiele dafür.

Nach der Abstimmung in der Welt­gesund­heitsversammlung müssen die Beschlüsse der WHO in der Regel noch von innerstaatlichen Organen, wie Parlamenten, genehmigt werden. Wenn diese Zustimmung er­folgt ist, übermitteln die Staaten eine Rati­fizierungsurkunde, in der sie sich auch zur legalen Verbindlichkeit des Rechtsakts be­kennen. Die Abkommen werden also erst dann verbindlich, wenn das gesamte Rati­fizierungsverfahren durchlaufen wurde, und nur für jene Mitgliedstaaten, die dies hinter sich gebracht haben.

Die Idee, einen Pandemievertrag zu schließen, wurde erstmals vom Präsidenten des Europäischen Rates, Charles Michel, vor­getragen. Begründet wurde der Vorschlag mit einer Reihe von Vorteilen, die mit einem Vertrag verknüpft sind: Er zwingt die natio­nalen politischen Entscheidungsträger und ‑trägerinnen zu einem ständigen En­gagement in der globalen Gesundheitspolitik, er zurrt die Grund­sätze und Ziele einer multilateralen Pan­demievorsorge fest und er kann in verbindlicherer Weise für »Equi­ty« bei der Verteilung medizinischer Güter sorgen und in stärkerem Maße den One-Health-Ansatz voranbringen. Der General­direktor der WHO erklärte seine Zustimmung zu der Initiative.

Nach dem Vorbild des Rahmenüberein­kommens zur Eindämmung des Tabak­konsums wurde im Dezember 2021 ein »Intergovernmental Negotiating Body« (INB) eingerichtet, das den neuen Pandemie­vertrag ausarbeiten soll. Es setzt sich aus Vertretern und Vertreterinnen der Mitglied­staaten zusammen und hält regelmäßige Sitzungen ab, um über den Stand des Gesetz­gebungsverfahrens zu informieren. Kürz­lich hat das INB einen »Conceptual Zero Draft« in Umlauf gebracht, der die Basis für die Diskussion der nächsten Meetings bil­den wird. Das Dokument ist das Ergebnis mehrerer Feedback-Runden von Delegationen der WHO-Mitgliedstaaten, Nichtregierungsorganisationen (NROs) und einzelnen Experten zu einer Reihe von Themen. Der Text enthält jedoch naturgemäß noch nicht den finalen Wortlaut der Bestimmungen, sondern soll vielmehr als Grundlage für Verhandlungen über eine Reihe von über­greifenden Problemen dienen.

In diesem Zusammenhang ist anzumerken, dass die EU im Gegensatz zu anderen Politikfeldern wie dem internationalen Han­del keine ausschließliche oder gemischte, son­dern nur eine ergänzende Zuständigkeit im Bereich der (globalen) Gesundheit be­sitzt, so dass das Inkrafttreten eines Pan­demievertrags in der Kompetenz jedes ein­zelnen EU-Mitgliedstaats läge. Dies hindert die EU jedoch nicht daran, an den Verhandlungen teilzunehmen, da ihre Kommission vom Rat der EU ein entsprechendes Mandat erhalten hat. Dennoch stimmen die Positio­nen Deutschlands und der EU zum Pan­demie­vertrag seit Beginn des Prozesses voll­ständig überein.

Reformen der IGV

Die Weltgesundheitsversammlung kann jedoch jenseits eines Pandemievertrags in fünf Bereichen rechtsverbindliche Regelungen erlassen: 1) Gesundheits- und Quarantänevorschriften und andere Ver­fahren zur Verhinderung der inter­natio­nalen Aus­breitung von Krankheiten; 2) Nomenklaturen von Krankheiten, Todes­ursachen und Praktiken des öffentlichen Gesund­heits­wesens; 3) internationale Nor­men für Dia­gnoseverfahren; 4) internationale Handelsnormen für die Sicherheit, Reinheit und Wirksamkeit biologischer, pharmazeutischer und ähnlicher Produkte; und 5) Nor­men für die Werbung und Kenn­zeich­nung biologischer, pharmazeutischer und ähn­licher Produkte, die dem internationalen Handel unterliegen. Der erste dieser Be­reiche bildet die Grundlage für die Inter­nationalen Gesundheitsvorschriften (IGV) von 2005. Die IGV sind derzeit das rechts­verbindliche Instrument zum Umgang mit grenzüberschreitenden Krankheiten.

Nach Artikel 21 der WHO-Verfassung kann die Weltgesundheitsversammlung Vorschriften annehmen, die für die Staaten rechtlich bindend sind, es sei denn, diese lehnen sie ab (»opt out«). Sobald die in den Vorschriften festgelegte Frist für die Ableh­nung oder die Anmeldung eines Vor­behalts verstrichen ist, sind die betreffenden Rege­lungen für alle Staaten, die keine Einwände geäußert haben, verpflichtend. Das Haupt­merkmal der WHO-Vorschriften besteht da­rin, dass in ihrem Fall die Betei­ligung der natio­nalen Gesetz­geber nicht nötig ist. Hinzu kommt, dass die Vorschriften eine niedrigere Abstimmungsschwelle erfordern als Kon­ventionen. Dies haben die WHO-Mitgliedstaaten akzeptiert, als sie die Ver­fassung der Organisation ratifiziert haben – möglicherweise ein Beweis für das große Vertrauen, das die Regierungen in ihre De­legierten in der Weltgesundheitsversammlung setzen.

Im Januar 2022 hat die Regierung der USA einen Vorschlag zur Änderung von dreizehn Bestimmungen der IGV (2005) vor­gelegt. Die Delegierten der 75. Welt­gesund­heitsversammlung im Mai 2022 akzeptierten jedoch nur die Anregung, den Zeitraum für die Ablehnung von Änderungen gemäß Artikel 55 bzw. 59 IGV (2005) von 18 auf 10 Monate und die Frist bis zum Inkrafttreten solcher Änderungen von 24 auf 12 Monate zu ver­kürzen. Die übrigen Initiativen der US-Regie­rung betrafen unter anderem die Möglich­keit für die WHO, eine gesundheitliche Notlage von internationaler Tragweite auszurufen, ohne die betroffenen Mitglied­staaten zu konsultieren, und die Schaffung eines neuen Mechanismus zur Notfallerklärung auf mitt­lerer Ebene. Hier waren die WHO-Mitgliedstaaten der Ansicht, dass mehr Zeit erfor­der­lich sei, um die Reichweite solcher Änderungen zu erörtern.

Bis zum 30. September 2022 haben – ein­schließlich der USA – 14 Mitgliedstaaten Vorschläge vorgelegt, sowohl im eigenen Namen als auch im Verbund mit regionalen Gruppierungen, darunter die EU, die WHO-Region Afrika, die Eura­sische Wirtschaftsunion und der MERCOSUR. Momentan ist ein sogenannter Prüfungsausschuss damit beschäftigt, die im Zuge der Covid-19-Pan­demie beantragten Änderungen an den IGV (2005) zusammenzufassen und einen Ab­schlussbericht zu erstellen. Dieser soll bis Mitte Januar 2023 vorliegen. Der Bericht des Überprüfungsausschusses wird als Grundlage für die Sitzungen einer künf­tigen Arbeitsgruppe zu Reformen der IGV (2005) dienen, die sich aus ausgewählten Delegierten der Mitgliedstaaten zusam­men­setzt. Das letztgenannte Gremium wird den Rechts­text ausarbeiten und den end­gültigen Änderungsvorschlag schließlich dem WHO-Generaldirektor vorlegen, der ihn dann mindestens vier Monate vor der Welt­gesundheitsversammlung 2024 an alle Mitgliedstaaten weiterleiten soll.

Fallstricke im Blick behalten

Bei beiden Reformprozessen lauern beson­dere Fallstricke. Im Vergleich zu den Ände­rungen an den IGV (2005) werden die Ver­handlungen über den völlig neuen Pan­demievertrag zu hitzigen Auseinander­set­zun­gen führen. Denn für einige der The­men, die darin behandelt werden, gibt es noch keine Vorlage und entsprechend er­gebnisoffen sind die Gespräche darüber. So umfasst der One-Health-Ansatz beispielsweise Aspekte des Umweltschutzes, der Lebensmittel­sicherheit und der Tiergesundheit, bei denen direkte Überschneidungen mit anderen völkerrechtlichen Regelungen mitbedacht werden müssen. Bislang ist nicht klar, wie diese Überschneidungen adressiert werden sollen. Selbst wenn ein künftiger Pandemie­vertrag von der Welt­gesundheitsversammlung angenommen werden sollte, hängt dessen Erfolg aufgrund der erforderlichen Ratifizierung in den 194 Mitgliedstaaten in hohem Maße von den jeweiligen innenpolitischen Gemengelagen dort ab. Es könnte sehr lange dauern, bis eine nennenswerte Zahl von Staaten ihre entsprechenden nationalen Verfahren abgeschlossen hat.

Gleichzeitig bedeutet das vergleichsweise rationalisierte Verfahren für das Inkrafttreten von Ände­rungen der IGV (2005) nicht, dass ein Kon­sens selbstverständlich gegeben ist. Sowohl das Internationale Sanitätsregle­ment von 1951 als auch die IGV von 1969 wurden von einem Teil der WHO-Mitglied­staaten abgelehnt oder mit Einwänden be­dacht. Bei der Verabschiedung der IGV im Jahr 2005 hingegen äußerten allein Indien und die Vereinigten Staaten Vorbehalte. Aber selbst diese akzeptierten die primären Verpflichtungen, die mit den Vor­schriften verknüpft waren. Außerdem wurden Ände­rungsvorschläge für Vorschriften in der Geschichte der WHO nie so intensiv geprüft wie die von den USA 2022 vorgeschlagenen Revisionen. Dies hängt vermutlich damit zusammen, dass angesichts der katastrophalen Dimension der Covid-19-Pandemie viel auf dem Spiel steht.

Das Debakel der globalen Gesundheitsgerechtigkeit (»Equity«) bei Pandemien

Das vielleicht strittigste Thema nach Ansicht zahlreicher Delegationen bei der WHO, vor allem aus dem Globalen Süden, ist die Frage der Gewährleistung eines gerechten Zugangs zu medizinischen Gegenmaß­nah­men während einer Pandemie. Der grassie­rende »Impfstoff-Nationalis­mus«, den wir im Zusammenhang mit Covid-19 erlebt haben, wird gerade den Regierungen der genannten Weltregionen wahrschein­lich noch in frischer Erinnerung sein, denn diese mussten darum kämpfen, genügend Impfstoff­dosen für ihre eigene Bevölkerung zu beschaffen. Dieses Thema ist jedoch bis­her nicht Gegenstand der Diskussion über Änderungen der IGV. Das liegt auch daran, dass sich umfassende Regelungen zu die­sem Punkt mit verschiedenen Aspekten befassen müssten, wie zum Beispiel mit der Frage des geistigen Eigentums an medizinischen Gütern oder der Einrichtung von Finanzierungs- und Beschaf­fungsmecha­nismen für deren Verteilung. »Equity« in Pandemien steht derzeit im Mittelpunkt der Forderungen mehrerer Länder des Globalen Südens. In dem erwähnten »Conceptual Zero Draft« für den Pan­demievertrag werden mit dem Ziel folgende Erwartungen verknüpft: »ein fairer, gerechter und rechtzeitiger Zugang zu erschwinglichen, sicheren und wirk­samen Produkten zur Pandemiebekämp­fung zwischen und innerhalb von Ländern, auch zwischen Bevölkerungsgruppen, un­abhängig von ihrem sozialen oder wirtschaftlichen Status« (Übers. d. Verf.).

Damit diese Bestimmung mehr als nur ein Wunschtraum bleibt, sollte ein neuer Pandemievertrag oder ein anderes Rechts­instrument die Erkenntnisse berücksichtigen, die sich aus der begrenzten Wirksamkeit des ACT-Accelerators im Allgemeinen und der COVAX-Initiative im Besonderen ergeben. Diese Mechanismen wurden ent­wickelt, um die globale Verteilung von medi­zinischen Maßnahmen gegen Covid-19 zu fördern. Beide Instrumente haben ihre Ziele nicht erreicht, die im Falle von COVAX darin bestanden, bis Ende 2021 2 Milliarden Impfdosen zu verteilen. Tatsächlich wurden nur 50 Prozent dieser Menge distribuiert. Die andere Initiative, der ACT-Beschleuniger, der die Verbreitung von diagnostischen und therapeutischen Pro­dukten fördern sollte, blieb noch stärker hinter den Erwartungen zurück. Das Urteil über die Gründe für das Scheitern steht noch aus. Einige Analysen verweisen auf die Gier der Länder des Glo­ba­len Nordens bei der Bevorratung medizi­nischer Güter zum Schutz ihrer eigenen Be­völkerung. In einer von der WHO beauftrag­ten Evaluierung, die im Oktober 2022 vom Unternehmen Open Consultants ver­öffent­licht wurde, wird unter anderem der über­ambitionierte Auf­bau von COVAX als eine der zentralen Ur­sachen für den begrenz­ten Erfolg der Initia­tive genannt. Der Bericht empfiehlt statt­dessen, andere Programme mit einem fokussierteren Anwendungs­bereich zu entwi­ckeln. Diese sollten sich auf Länder konzentrieren, die nicht in der Lage sind, kritische medizinische Güter während eines Notfalls selbst zu beschaffen. Rechts­verbind­liche Regeln könnten für solch einen Fall sicherstellen, dass sich Staaten un­abhängig von den sich ändernden poli­tischen Ge­gebenheiten dauerhaft zu finan­ziellen Bei­trägen verpflichten.

Politische Hindernisse für die pandemiebezogene Datensammlung beseitigen

Eines der ständigen Probleme beim Auf­treten von Pan­demien ist die frühzeitige Meldung von Krankheitsereignissen, die das Potential zur Grenzüberschreitung haben. Dies ist eine klassische Herausforderung für Gesundheitsbehörden, da diese Ereignisse an Orten auftreten können, die weit außer­halb ihrer territorialen Zuständigkeit liegen.

Das Thema ist insbesondere für Deutsch­land von strategischer Bedeutung, denn das WHO-Zentrum für Pandemie- und Epidemie­aufklärung (WHO Hub for Pandemic and Epi­demic Intelligence, oder kurz: »Pan­demic Hub«) befindet sich in Berlin. Da Informationen über Krank­heitsausbrüche als globales öffentliches Gut betrachtet werden können, sind internationale Regeln das beste Mittel, um Klarheit über die nor­mative Erwartung an Länder zu schaffen, solche Informationen zeitnah und trans­parent zu melden.

Die bestehenden IGV (2005) bieten Staa­ten keine ausgewogenen Anreize zur Über­mittlung von Informationen an die inter­nationale Ge­meinschaft. Einerseits müssen die Vertragsstaaten gemäß Artikel 6 der IGV (2005) die WHO in­nerhalb von 24 Stunden nach ihrer Ent­deckung über »alle Ereignisse, die in Übereinstimmung mit dem Ent­scheidungs­schema eine gesundheitliche Notlage von internationaler Tragweite in seinem Ho­heits­gebiet darstellen können«, informieren. Andererseits will Artikel 43 der IGV (2005) Anreize für solche Meldungen schaf­fen, indem er Staaten dazu ver­pflichtet, keine unnötigen Reise- und Han­delsbeschränkungen für andere Mitgliedstaaten zu erlassen, sondern die WHO zu benachrichtigen und eine gesundheits­politische Begründung für die Maßnahmen vorzulegen. In der Praxis geben diese Be­stimmungen jedoch seit langem Anlass zur Besorgnis, da die Staaten einen großen Spielraum bei der Festlegung der »Notwendigkeit« solcher Reise- und Handelsbeschrän­kungen haben. Ein krasses Beispiel dafür war die Mitteilung Südafrikas über die Ent­deckung der Omikron-Variante auf seinem Hoheits­gebiet, die unmittelbar zu einer Flut von Reiseverboten aus und in das Land führte. Diese Maßnahmen halten die Staa­ten da­von ab, die WHO und damit die inter­nationale Gemeinschaft bereitwillig über Gesund­heitsbedrohungen auf ihrem Terri­torium zu informieren, die eine grenzüberschreitende Dimension haben könnten.

Genau zu diesem Punkt erklärte der Leiter des Pan­demie-Hubs in Berlin, dass die größte Herausforderung beim Sammeln und Verarbeiten von Daten politischer Natur sei, nämlich die mangelnde Bereitschaft der Be­hörden betroffener Länder, diese zu teilen. Der erstrebenswerte Informationsaustausch könnte sowohl durch einen neuen Pan­demie­vertrag oder ein anderes Rechtsinstrument als auch durch Änderungen der IGV forciert werden. Dabei müsste man gleichzeitig be­müht sein, Überschneidungen und eine Doppelung der Meldepflichten zu vermeiden. Eine erleich­terte und vermehrte Mel­dung von Ereignissen würde der Funktionsfähigkeit des Pan­demiezentrums in Berlin zugutekommen. Dieses könnte dann als echter »Knotenpunkt« für die Ver­arbeitung der Daten agieren, die von den WHO-Mit­glied­staaten gemeldet werden. Gleichzeitig könnte der Pandemie-Hub Staaten dann zu­sätzliche Anreize für die Übermittlung von Informationen bie­ten, wenn rechts­verbind­liche Regeln deren ordnungsgemäße Ver­wendung sicherstellen und die souve­ränen Interessen der Staaten respektieren würden.

Nach Covid-19: das Beste aus dem Völkerrecht machen

Die Weltgesundheitsversammlung hat für den Abschluss eines Pandemie­vertrags und der IGV-Reformen eine Frist bis Mai 2024 gesetzt. Im jüngsten »Conceptual Zero Draft« zieht sich die Fokussierung auf das Prinzip »Equity« durch mehrere Abschnitte des Ent­wurfs. Ein großes Hindernis ist derzeit das Fehlen stabiler Finanzierungsverpflichtun­gen für künftige Initiativen, die an die aus dem ACT-Accelerator gewonnenen Erkennt­nisse anknüpfen könnten. Der aktuelle »Conceptual Zero Draft« enthält einen Ab­schnitt über die nachhaltige und vorher­sehbare Finanzierung (»sustainable and predictable financing«), einschließlich der Mittelzuflüsse aus anderen internationalen Mechanismen. Darüber hinaus schließt er auch die Verpflichtung ein, einen »gerechten und rechtzeitigen Zu­gang« zu medizi­nischen Gütern zu gewähr­leisten, die für die Pandemiebekämpfung notwendig sind. Des Weiteren könnte die Maßgabe mit auf­genommen werden, dass die Mitgliedstaaten bei der Erschließung von Finanzmitteln für die Beschaffung und Ver­teilung kriti­scher medizinischer Güter bei Pandemien kooperieren – analog zu Arti­kel 44 IGV (2005), der eine Verpflichtung zur inter­nationalen Zusammenarbeit bei der Stär­kung der »Kapazitäten zum Schutz der öffentlichen Gesundheit« vorsieht.

Die Weltbank hat kürzlich einen Mechanismus zur finanziellen Unterstützung ent­wickelt, der über die WHO hinausreicht, nämlich den »Financial Intermediary Fund (FIF) for Pandemic Prevention, Prepared­ness and Response (PPR)«. Mit einem Beitrag von 68,5 Millionen Euro gehört Deutschland zu den Gründungs­mitgliedern des Fonds, von denen jeweils ein Vertreter einen Sitz im Verwaltungsrat des FIF PPR einnimmt. Bis­lang sind die Beiträge der Weltbank-Mit­glied­staaten zu diesem FIF jedoch freiwillig. Ein Pandemievertrag oder IGV, die ent­sprechende Koope­rationsverpflichtungen auferlegen, könnten künftig einen stabilen Finanzierungsstrom gewährleisten. Letzt­lich liegt es sowohl im Interesse Deutschlands als auch der EU sicherzustellen, dass ihre Investitionen langfristig Früchte tragen. Zu diesem Zweck könnte die Fixierung internationaler Normen im Vertrag oder in den IGV mehr Stabilität bei der Bekämpfung globaler Gesundheitskrisen herstellen. Da die Bundesregierung be­reits eine wich­tige Geberin bei mehreren globalen Gesund­heitsinitiativen ist, könnte sie ihre Position nutzen, um mit anderen Ländern längerfristige finanzielle Verpflichtungen aus­zuhandeln, die ihren jeweiligen Kapazitäten entsprechen. Die rechtliche Aus­gestaltung dieser Verpflichtungen könn­te der des Rahmenübereinkommens der Ver­einten Nationen über Klimaänderungen (UNFCCC) und den damit verbundenen Instrumenten und Protokollen ähneln.

Die Frage des Informations- und Daten­austauschs im Zusammenhang mit Krank­heitsausbrüchen in einer Region dürfte wiederum größtenteils in den Anwendungs­bereich der Artikel 6 und 7 der IGV (2005) fallen. In Anbetracht der Tatsache, dass die reformierten IGV höchstwahrscheinlich zu­mindest anfangs eine größere Anzahl von Vertragsstaaten haben werden als der Pan­demievertrag, wird der primäre Informa­tionsaustausch auch weiterhin auf der Basis der IGV erfolgen. Folglich muss es eine Prio­rität sein, die Einhaltung der Verpflichtungen zum Informationsaustausch im Rah­men der IGV (2005) besser zu über­wachen. Dies würde unmittelbar der Funktionsfähig­keit des WHO-Hubs in Berlin zugutekom­men. Gleichzeitig enthält der »Concep­tual Zero Draft« die Aussage, dass man die »Soli­darität mit den Ländern«, die Public-Health-Notfälle melden, fördern wolle, ohne dass präzisiert würde, wie eine solche Solidarität ausgestaltet und bewahrt werden könnte. Genau dieser Aspekt könnte im Kontext der Meldepflichten der IGV (2005) be­rücksich­tigt werden, nämlich mit Blick auf solche Fälle, in denen die benachrichtigenden Staaten mit unverhältnismäßigen Re­aktio­nen anderer Länder konfrontiert werden.

Ausblick

Deutschland sollte darauf drängen, die Syn­ergien zwischen den beiden laufenden Pro­zessen der Pandemie­gesetzgebung bei der WHO stärker auszuschöpfen. Folgende As­pekte sollten dabei im Vordergrund stehen:

  • Verknüpfung des Konzepts der »Equity« im Pandemievertrag mit den während der Covid-19-Pandemie gewonnenen Er­kennt­nissen zu den Unzulänglichkeiten des ACT-Accelerators im Allgemeinen und der COVAX-Initiative im Besonderen.

  • Nutzung sowohl der IGV (2005) als auch des Pandemievertrags zur Sicher­stellung des Datenaustauschs für den Pandemie-Hub mit Sitz in Berlin. Internationale Regeln sind geeignet, die politischen Hindernisse, die einem transparenteren Austausch pandemiebezogener Informationen entgegenstehen, abzubauen. Es sollten Anreize gesetzt werden, um die Bereitschaft der Staaten zum Datentransfer zu erhöhen. Denkbar ist zum Beispiel die Gewährung eines sofortigen Zugangs zu Finan­zierungsmechanismen, wenn sie Ausbrüche in ihrem Gebiet melden.

Dr. Pedro Alejandro Villarreal Lizárraga ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Globale Fragen. Er arbeitet im Projekt »Die globale und europäische Gesundheitsgovernance in der Krise«, das vom Bundesministerium für Gesundheit (BMG) gefördert wird.

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