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Von der Zukunftskonferenz zur Reform der EU

Vier Lehren für eine Union, die wieder mit der Balance von Vertiefung und Erweiterung konfrontiert ist

SWP-Aktuell 2022/A 44, 19.07.2022, 8 Pages

doi:10.18449/2022A44

Research Areas

In der Europäischen Union (EU) verläuft die Debatte über weitreichende Reformen zunehmend kontrovers. Nach Abschluss der einjährigen ›Konferenz zur Zukunft Europas‹ hat das Europäische Parlament (EP) die Initiative für einen Konvent und für Vertragsänderungen ergriffen. Für viele nationale Regierungen hingegen scheint weiterhin die Frage im Mittelpunkt zu stehen, wie die EU im Rahmen der bestehenden Verträge weiterentwickelt werden kann. Ein genauerer Blick auf die Ergebnisse der Zukunftskonferenz zeichnet ein differenzierteres Bild – von Bürgerinnen und Bürgern, die von der EU erwarten, in den großen Transformationsprojekten Verantwortung zu übernehmen, die fordern, dass die EU transparenter wird, und die Vertrags­änderungen nur als Mittel zum Zweck für eine handlungs­fähigere EU sehen. Der Konferenz ist es jedoch nicht gelungen, Befürworter und Gegner von Vertrags­ände­rungen einander näher­zubringen. Poten­tial hierfür hat aber die wiederbelebte Debatte über Vertiefung und Erweiterung.

Im Schatten des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine treffen zwei Debatten über die Zukunft der Euro­päischen Union aufeinander: Auf der einen Seite hat der ukrainische Antrag auf EU-Mitglied­schaft, dicht gefolgt von den Anträgen der Repu­b­lik Moldau und Georgiens, die Diskussion über Erweiterung wiederbelebt. Der Euro­päische Rat hat der Ukraine und der Repu­b­lik Moldau im Juni 2022 den formellen Kandidatenstatus ver­liehen. Auch die lange blockierten Beitritts­prozesse der Staaten des westlichen Balkans sollen wieder aufgenommen werden. Teil dieser Debatte ist zudem die Möglichkeit alternativer und / oder heranführender For­men von Teil­integration in die EU, etwa in Gestalt der vom französischen Präsidenten Emmanuel Macron ins Spiel gebrachten ›Europäischen Politischen Gemeinschaft‹. Unter der histo­ri­schen geo­politischen Wen­dung kehrt da­mit Erweiterung als geostrate­gisches Inst­ru­ment der EU ebenso zurück wie die Frage nach den Gren­zen der EU.

Auf der anderen Seite hat, parallel dazu, die Diskussion über eine wei­tere Vertiefung einschließlich Vertrags­änderungen an Fahrt aufgenommen. So hat die Konferenz zur Zukunft Europas im Mai 2022 nach ein­jährigem Prozess ihren Ab­schlussbericht vorgestellt. Sinnbildlich für die EU hat die Konferenz in den letzten beiden Jahren viele Veränderungen durch­gemacht. Nicht nur, dass sie pandemiebedingt ein Jahr später als geplant begonnen und statt zwei Jahren ein Jahr gedauert hat – ihre Ankün­di­gung im Herbst 2019 erscheint im Rück­blick wie aus einer anderen Epoche. Auf die Agenda gebracht hat die Zukunftskonferenz zunächst der französische Präsi­dent Emmanuel Macron, Ursula von der Leyen hat sie dann als Wahlversprechen an das Europäische Parlament aufgegriffen. Ur­sprüng­lich sollte ihr Fokus auf den demo­kra­tischen Strukturen der Union liegen, etwa der Reform des Spitzenkandidaten­verfah­rens, transnationalen Listen oder einem Ini­tiativrecht für das EP. Die meisten natio­na­len Regierungen begegneten ihr mit Skep­sis – auch wenn die neue deutsche Bundes­regierung mit­unter das Ziel eines ver­fassung­gebenden Konvents mit der Zukunfts­konfe­renz ver­bunden hat. In der Praxis hat die Kon­ferenz eine breite Palette von Fragen rund um die EU abgehandelt, in einem kom­plexen Konstrukt, das sowohl auf Bür­ger­beteiligung als auch eine Balance zwi­schen den EU-Institutionen Parlament, Kom­mis­sion und Rat setzte (siehe SWP-Aktuell 20/2021).

Überschattet wurde die Zukunftskonferenz von der Covid-19-Pandemie und der russischen Invasion der Ukraine. Erstere hat dazu geführt, dass der für den 9. Mai 2020 anvisierte Start der Konferenz um ein Jahr verschoben wurde. Vor allem konnten sich die Bürgerinnen und Bürger überwiegend nur virtuell beteiligen, die meisten Bürger­foren fanden online oder unter strengen Hygieneauflagen statt. Eine breite mediale Öffentlichkeit hat die Zukunftskonferenz nie erreicht.

Angesichts des russischen Krieges gegen die Ukraine muss(te) die EU in kurzer Ab­folge wegweisende Entscheidungen fällen, die ihre Posi­tion in einer nunmehr kon­fron­tativen europäischen Sicherheitsordnung neu bestimmen. Sie betreffen sowohl die Reform der EU als auch deren Er­weite­rungs­politik.

Die Zukunftskonferenz trifft auf eine Union im Wandel

Pandemie und Krieg verändern die Rahmen­bedingungen der Debatte über die Zukunft Europas. Dementsprechend sollten diese auch in der Dis­kussion über die Reform der EU berück­sichtigt werden, insbesondere wenn es um die Prioritäten europäischer Re­formen geht.

Das Ende der Zukunftskonferenz trifft auf ein sehr schwieriges wirtschaftspolitisches Umfeld. Zwei Jahre Covid-19-Pande­mie haben tiefe wirtschaftliche Spuren hin­ter­lassen, einige EU-Mitgliedstaaten hatten bis zum Frühjahr 2022 noch nicht wieder das Vor-Pandemie-Niveau erreicht. Die Infla­tion in der Eurozone ist auf den bisher höchsten Stand gestiegen und könnte dazu führen, dass Divergenzen zwischen den Euro­staaten und der Druck auf nationale Haushalte wach­sen. Die Aus­wirkungen des russischen Krieges, der EU-Sanktionen und russischen Gegensanktionen sind bereits als enorme Preis­steigerungen im Energiesektor zu spü­ren und werden wei­tere Wirtschafts­berei­che erfassen. Je länger der Krieg an­dauert, desto höher werden die wirtschaft­lichen Kos­ten sein. Wirtschaftskrisen eig­nen sich je­doch nicht als Hintergrund für abs­trakte De­bat­ten über die Reform der EU – viel­mehr ist diese als Solidaritätsanker und zur Stützung der Wirtschaft gefordert.

Gleichzeitig ist festzustellen, dass sich die EU unter dem Druck der Krisen in den letz­ten zwei Jah­ren erheblich weiterentwickelt hat, und zwar los­gelöst von Zukunftskonferenz oder Ver­tragsänderungen. Sie hat neue Verantwortung für öffent­liche Güter über­nommen, etwa indem sie Covid-19-Impf­stoffe beschafft, gemein­same Anlei­hen für den Wiederaufbaufonds heraus­gegeben sowie einen Rechts­staats­mecha­nis­mus ins Leben gerufen hat. Zudem hat die EU in den wenigen Monaten seit dem russi­schen Über­fall auf die Ukraine deutlich mehr Verant­wortung für die euro­päische Sicherheit über­nommen als bisher, zum Beispiel dadurch, dass sie Waffen­liefe­rungen an die Ukraine gemein­sam finan­ziert, dass sie bislang bei­spiellose Sanktionen im Finanzsektor erlas­sen hat und als zentraler Akteur in der inter­nationalen Koordination mit den USA, dem Vereinigten Königreich und ande­ren Part­nern auf­tritt. Perspektivisch will sie eine entscheidende Rolle spielen bei der Diver­sifizierung im Energiebereich, bei gemeinsamen Gas­käufen sowie der Koordination beim Auf­bau militärischer Kapazitäten.

Dabei steht die Union vor einer neuen Debatte über ihre (territorialen) Grenzen, über das Ver­hältnis zwischen Erweiterung und Vertie­fung sowie ihre Aufnahmefähigkeit. Die Beitritts­anträge der Ukraine, der Republik Moldau und Georgiens ebenso wie die auch von Deutschland geforderte Wieder­belebung der Beitrittsprozesse für die Staa­ten des westlichen Balkans eröffnen lang­fristig die Perspektive einer EU mit 35 und mehr Mit­gliedern. Zwar ist ein schnel­ler Beitritt bei keinem der Länder zu erwar­ten; für die Zukunft stellt sich aber dennoch die Frage, wie die EU in einer solchen Größe und Hete­rogenität handlungsfähig bleiben kann.

Festzuhalten ist, dass das Ende der Zu­kunftskonferenz trotz der neuen Rahmenbedingungen mit einem Zeitfenster für europäische Reformen zusammenfällt: Der Abschlussbericht wurde nicht zufällig im Mai 2022 verabschiedet, kurz nach den fran­zösischen Präsidentschaftswahlen. Jetzt bietet sich ein Gelegenheitsfenster bis zu den Europawahlen im Mai 2024, in dem (möglicherweise mit Ausnahme von Italien) keine großen nationalen Wahlen anstehen – dafür aber die großen EU-Gesetz­gebungs­vorhaben dieser Legislaturperiode, etwa zum Green Deal oder der digitalen Regulie­rung. Für die Europawahlen 2024 hat das Europä­i­sche Parlament außerdem einen Vorschlag für trans­nationale Wahllisten einschließlich EU-weiter Spitzenkandidaten vorgelegt.

Das komplexe Konstrukt Zukunftskonferenz

Unter diesen veränderten Rahmenbedingungen infolge von Pandemie und Krieg – schwierige Wirtschaftslage, Übernahme neuer Verantwortung durch die EU, Frage der Handlungsfähigkeit im Falle einer Erweiterung – fand das komplexe Konst­rukt ›Zukunftskonferenz‹ seinen Abschluss. Auf Grund interinstitutioneller Rivalitäten über Ziele, Aufbau und Arbeitsweise der Konferenz war ein komplexes Gebilde ent­standen, bestehend aus drei Ebenen (siehe SWP-Ak­tuell 20/2021). Diese Struktur sollte bei der Analyse und dem Follow-up zur Konferenz mit in Betracht gezogen werden:

Die erste Ebene bildete die Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger. Dies war der innovativste Aspekt der Zukunftskonferenz und sollte über umfassende Möglichkeiten der Teilnahme europaweiten Input zur Weiterentwicklung der EU sammeln. Hierzu hatte die EU zum einen eine multi­linguale Konsultationsplattform eingerichtet, auf der Bürge­rinnen und Bürger Ideen ein­brin­gen und kommentieren konnten, wie die Union fortentwickelt werden könnte. Die Betei­ligung war allerdings eher mäßig, mit knapp 19.000 Vorschlägen von insge­samt etwas mehr als 50.000 aktiven Nutze­rinnen und Nutzern aus der ganzen EU. Schaut man genauer auf die Vorschläge, so hat die Platt­form vor allem Personen angesprochen, die klar ›pro‹ bzw. ›kontra EU‹ eingestellt sind. Eine breite, repräsentative europäische Öffent­lich­keit konnte damit nicht er­reicht werden, so dass sich aus der Platt­form auch kaum Legitimation für oder gegen politi­sche Entscheidungen ableiten lässt.

Zum anderen haben europäische und nationale Bürgerforen stattgefunden. Hier wurden Bürgerinnen und Bürger aus allen Mitgliedstaaten zusammengebracht, zufäl­lig aus­gewählt nach einem repräsentativen Schlüssel. Gemein­sam haben sie Vorschläge für die Weiterentwicklung der EU in vier Bereichen ausgearbeitet: ›Wirtschaft, soziale Gerechtigkeit und Beschäf­tigung‹, ›Demokratie in Europa, Rechtsstaatlichkeit und Sicherheit‹, ›Klimawandel, Umwelt und Gesundheit‹ sowie ›Europa in der Welt / Mig­ration‹. Thematisch wurden in den Bürger­foren also sowohl institutionelle als auch Fragen aus ganz verschiedenen Politikfeldern diskutiert. Auch diese Bürger­foren haben nur wenig Widerhall in den Medien gefunden. Aber sie bieten, anders als die Online-Plattform, wegen ihrer reprä­senta­tiven Zusammenstellung und des pan­euro­päischen Ansatzes einmalige Einblicke in die Erwartungen und Forderungen europä­ischer Bürgerinnen und Bürger.

Die zweite Ebene der Zukunftskonferenz war das Konferenzplenum, in dem die unter­schiedlichen Institutionen der EU direkt ver­treten waren. Es ähnelte vom Aufbau her einem Konvent zu EU-Vertrags­ände­run­gen. Das Plenum setzte sich zusam­men aus je 108 Ab­geordneten des Europäischen Parla­ments und der nationalen Par­lamente, 54 Vertretern und Vertre­terinnen der Mitglied­staaten aus dem Rat und 3 der EU-Kommis­sion sowie 108 Bürgerinnen und Bürgern aus den Bürgerforen. Darüber hinaus waren die beratenden EU-Gre­mien, die Sozial­part­ner und die Zivil­gesellschaft vertreten. Die knapp 450 Personen haben sich in 9 Arbeits­gruppen organisiert, die sich jedoch nach Widerstand aus dem Rat erst spät kon­sti­tu­iert haben. Erst gegen Ende der Kon­fe­renz hat die Arbeit in den Arbeitsgruppen Fahrt auf­genommen und ist mit den Emp­feh­lungen der Bürgerforen in die Abschluss­ergebnisse eingeflossen.

Die maßgebliche Entscheidungsebene war die dritte, in Form eines Exekutiv­ausschus­ses. Hier wurde die Konferenz gesteu­ert von den zentralen EU-Organen, das heißt vom Rat (vertreten durch die rotierenden Ratspräsidentschaften, also in der entscheidenden Phase Frankreich), der Kommis­sion und dem Parlament. Es ist dieser Exekutivausschuss, der konsensual den Abschlussbericht zur Konferenz for­mu­liert und am 9. Mai den drei EU-Insti­tu­tio­nen formell übergeben hat. Der Abschlussbericht greift vornehmlich die Empfehlungen der Bürgerforen auf und ergänzt sie durch einzelne Punkte aus der Online-Platt­form und aus den Beratungen der Arbeitsgruppen des Konferenzplenums. Insgesamt umfasst er 49 Aspekte mit 320 detail­lierten Vorschlägen, die das ge­samte Spektrum der EU-Politiken abdecken.

Nun sollen alle drei Institutionen »gemäß ihren Kompetenzen und im Einklang mit dem EU-Vertrag« ihre Schlussfolgerungen aus dem Bericht ziehen. Die politisch wichtigste Phase der Zukunftskonferenz steht somit noch bevor – die politische Verarbeitung der Vorschläge in tatsächliche Reformen der EU, ob auf sekundärrecht­licher Ebene oder sogar mit Vertragsänderungen. Auf diese Umsetzung kommt es an; hier entscheidet sich, ob das Experi­ment Zukunftskonferenz einen Beitrag zur Weiter­entwicklung der EU leistet oder ob der Ab­schlussbericht lediglich zur Kenntnis genom­men wird und ohne große Wirkung in Ver­gessenheit gerät.

Institutionelles Ringen um die Ergebnisse der Zukunftskonferenz

Die Konferenz zur Zukunft Europas hat weder in der Öffentlichkeit noch in der euro­päischen Politik die Zugkraft eines star­ken Reformmoments der EU entfaltet. Den­noch – oder auch gerade deswegen – las­sen sich drei sehr unterschiedliche Schluss­folge­run­gen aus der Konferenz ziehen.

Bürger erwarten eine EU, die Verantwortung übernimmt

Die Bürgerinnen und Bürger aus allen EU-Ländern, die sich an den Bürgerforen betei­ligt haben, fordern von der EU, mehr Ver­ant­wortung zu übernehmen und dabei deut­lich transparenter zu agieren. Das originärste Ergebnis der Konferenz ist in den Empfehlungen zu finden, die diese repräsentativ ausgewählten Personen erarbeitet haben und die den Hauptteil des Abschlussberichtes ausmachen. Eine Auswertung dieser Emp­fehlungen ergibt ein eindeutiges Bild: Von den insgesamt 178 betreffen 66 die Marktregulierung, einen klassischen Kom­petenzbereich der EU. Die Bürgerinnen und Bürger wünschen sich, dass die EU mit ihrer Regulierungsmacht Europa zukunftsfähig(er) macht, indem sie die Energietransformation vorantreibt, Anreize schafft für eine nach­hal­tigere Landwirtschaft, den Schutz der Arbeit­nehmenden stärkt, Daten­schutz ver­bessert, Konvergenz in Europa fördert sowie höhere und nachhaltigere Importstandards einführt. Darüber hinaus nennen die Emp­fehlungen als weitere wichtige An­liegen die engere Einbindung der Bürgerinnen und Bürger (18), Migration (17), Bildung (15), eine erweiterte EU-Gesetz­gebung und die Gesundheitsunion (jeweils 11).

Aus allen Bürgerforen kommt zudem der Wunsch, dass die EU ihre öffentliche Kom­munikation zu Politik­inhalten und laufen­den Gesetzgebungsprojekten ver­bessern und dass allgemeines Wis­sen über die EU ver­ständlicher dargestellt werden solle. Zum Bei­spiel haben die Bürgerforen in ver­schie­de­nen Zusammenhängen vorgeschlagen, ein EU-betrie­benes Online-Tool zu etablieren, das Folgendes anbieten sollte: allge­meine Infor­mationen über EU-Institu­tio­nen und EU-Politikfelder, verifizierte Infor­ma­tio­nen über Politikinhalte und Des­infor­ma­tions­bekämpfung, Faktenchecks, Online-Abstim­mungen sowie Austausch mit Politi­kerin­nen und Politikern. Den Bür­gerinnen und Bürgern ist dabei wichtig, dass die ver­mit­telten Inhalte für alle leicht zu ver­stehen sind. Auch der Wunsch nach einer stär­keren Beteiligung an den politi­schen Pro­zessen der EU wird ausdrücklich geäu­ßert und eine Weiterführung der Zukunftskonferenz als permanentes Bürger­forum angeregt. Offensichtlich empfanden die Teilnehmenden die Möglichkeit, sich bei der Zukunftskonferenz einzubringen, als eine willkommene und auch gelungene Chance, EU-weite Diskussionen mitzugestalten.

Einerseits ist den Bürgerempfehlungen eine deutliche Legitimation für bereits lau­fende Großprojekte der EU zu entneh­men, etwa den Green Deal, die Digitalisierung und den Aufbau der Gesundheitsunion. Andererseits lässt sich der Wunsch nach Vertragsänderungen nur bedingt daraus ab­leiten: Lediglich 13 Empfehlungen be­inhal­ten Vor­schläge, die eine Vertragsänderung zwin­gend voraussetzen würden. Diese be­treffen zum Beispiel eine Harmonisierung der Fiskal- und Steuerpolitik innerhalb der EU, europaweite Referenden, EU-Steuern für Großkonzerne, Namensänderungen der EU-Institutionen, die Ausweitung der EU-Kompetenzen auf die Gesundheitspolitik, eine europäische Verfassung, eine Föderalisierung der EU sowie die Ab­schaffung der Einstimmigkeit. Die übrigen Empfehlungen ließen sich im Rahmen von EU-Gesetz­gebungsprozessen umsetzen; es wäre nicht nötig, die Verträge aufzuschnüren.

Das EU-Parlament drängt auf Vertragsänderungen

Die Interpretation des Europäischen Par­la­ments geht in eine andere Rich­tung. Schon als die Zukunftskonferenz eingesetzt wurde, haben die Vertreterinnen und Ver­treter des EP mehrheitlich darauf gedrängt, auch die Option von Ver­trags­änderungen in ihr Man­dat aufzunehmen – anders als die Kom­mis­sion und der Rat. Als der Abschluss­bericht verfasst wurde, haben an der Konfe­renz teilnehmende EP-Abgeordnete darauf hingewirkt, dass Vorschläge, die Vertragsänderungen erfordern, prominenter plat­ziert wurden als in den ursprünglichen Emp­fehlungen der Bürgerforen. Ebenso wie die EU-Insti­tutionen vor der Kon­ferenz über das Mandat gestritten haben, interpretieren sie nun auch deren Ergebnisse unter­schied­lich – und die Fronten haben sich weder durch die Zukunftskonferenz selbst noch durch die Covid-Pandemie oder den russi­schen Angriffskrieg gegen die Ukraine maß­geblich verschoben.

So sieht sich die Mehrheit des EU-Par­la­ments in ihren Forderungen nach Vertragsänderungen bestätigt. In Reaktion auf die Konferenz hat das Par­la­ment deshalb in einem ersten Schritt bekräftigt, dass die im Abschlussbericht aufge­führten Maßnahmen möglichst umfangreich umgesetzt werden sollen, und dabei einen Fokus auf diejenigen Aspekte gelegt, die Vertragsänderungen benöti­gen. In einem zweiten Schritt hat das EP im Juni 2022 von seinem Recht Gebrauch gemacht, selbst die Initiative für Vertragsänderungen zu ergreifen und gemäß Arti­kel 48 EU-Vertrag (EUV) das Verfahren für einen Konv­ent zu eröffnen. Dies ist insofern eine Besonder­heit, als dass alle bisher erfolg­reichen Ver­trags­ände­run­gen von den Mit­gliedstaaten im Europäischen Rat ausgegan­gen sind, de­ren Zustim­mung als ›Herren der Ver­träge‹ weiterhin notwendig ist.

Die Initiative des Europäischen Parlaments bietet damit eine – maximalistische – Idee davon, welche Vertragsänderungen zur De­batte stehen. Das EP macht hierzu fünf konkrete Vorschläge:

Erstens fordert das EP einen weitgehenden Übergang von der Einstimmigkeit zu qualifizierter Mehrheit im Rat, um die Hand­lungsfähigkeit der Union zu erhöhen. Als Beispiel nennt es Beschlüsse über Sank­tionen in der Außen- und Sicher­heits­poli­tik, insbesondere nach den Erfah­rungen mit dem Ringen um das sechste Sanktionspaket gegenüber Russland und den mehr als vier Wochen dauernden inter­nen Ver­handlungen, die nur mit großzügigen Opt-Outs für Ungarn abgeschlossen werden konnten. Den politischen Willen vorausgesetzt, ist eine Überführung in Mehrheitsentscheidungen jedoch auch ohne umfas­sende Ver­trags­änderungen jederzeit mög­lich, nämlich über die so genannte Passe­relle-Klausel (Art. 48 (7) EUV). Dieses Vor­gehen erfordert Einstimmigkeit und bringt etwa in Deutschland erhöhte Bedin­gungen für die nationale Zustimmung mit sich.

Eng verbunden damit ist der zweite Vor­schlag, Artikel 48 (7) EUV dahin­gehend zu ändern, dass auch eine qualifizierte Mehr­heit die Überführung von Einstimmigkeit in Mehrheitsentscheidungen beschließen könnte. Eine solche (wenn auch technische) Änderung hätte das Potential, den Charakter der EU nachhaltig zu verändern. Denn damit könnten perspektivisch in allen Politik­bereichen selbst gegen den Willen einzelner Staaten Mehrheitsentscheide durch­gesetzt und folglich nationale Vetos als Druckmittel entwertet werden. Gleich­zeitig würde die Notwendigkeit euro­pä­ischer demokratischer Legitimation steigen.

Drittens spricht sich das EP dafür aus, die Kompetenzen der EU auszuweiten, konkret in der Gesundheitspolitik – als Reak­tion auf die Pandemie –, in der Energie-, Ver­teidigungs-, Wirtschafts- und Sozialpolitik. Diese For­derung ist am engsten mit den Diskus­sionen der Zukunftskonferenz ver­knüpft, denn auch die beteiligten Bürge­rin­nen und Bürger plädierten für eine Kom­petenzerweiterung, etwa in der Gesund­heits­politik. Der Vorschlag des Europäi­schen Par­laments bleibt indes vage. Für eine sol­che Kompetenzerweiterung wären um­fas­sende Ver­tragsänderungen notwendig; auf einem Konvent und einer anschließenden Regierungskonferenz müsste ver­handelt werden, mit welchen zusätzlichen Kompe­tenzen die Union ausgestattet werden soll.

Viertens beansprucht das EP ein eigenes Initiativrecht und volle Mitentscheidung beim EU-Haushalt. Dies sind langjährige For­derungen und nur implizit aus der Zukunfts­konferenz abgelei­tet. Wird die EU-Integra­tion weiter vertieft, inklu­sive einer Aus­wei­tung von Mehrheitsentschei­dungen und neuer Kom­petenzen für die EU, ist eine Dis­kussion darüber, wie die demokratische Legitimation gestärkt werden kann, durch­aus sinnvoll.

Zuletzt fordert das EP, den Rechtsstaatsmechanismus nach Artikel 7 EUV zu stär­ken, und zwar einerseits das Verfahren selbst, andererseits solle spezifiziert werden, welche Maßnahmen die Union im Falle von Verstößen gegen ihre Grundwerte nutzen kann. Eine derartige Verschärfung der Inst­ru­mente zur Durchsetzung der Rechts­staat­lichkeit bedingt jedoch, dass alle 27 EU-Staaten ihr zustim­men und sie ratifizieren, einschließlich Polen und Ungarn.

Zusammenfassend ist festzuhalten: Die Vorschläge, Mehrheitsentscheidungen aus­zuweiten und die Kompetenzen der EU zu erweitern, sind am ehesten auf die Zukunfts­konferenz zurückzuführen; Ersteres wäre auch ohne umfangreiche Vertragsänderungen und einen Kon­vent möglich. Auf den größ­ten Widerstand dürften diejenigen Ini­tia­ti­ven tref­fen, die anstreben, die EP-Rechte aus­zu­deh­nen, die Rechtsstaatlichkeit mit schär­fe­ren Mitteln durchzusetzen und die Passe­relle-Klausel drastisch zu vereinfachen.

Die Mitgliedstaaten sind gespalten

Bereits vor Beginn der Zukunftskonferenz zeichnete sich ab, dass das Konzept in eini­gen Mit­gliedstaaten kaum Begeisterung auslösen würde. Als die Konferenz begann, plädierte eine Gruppe von 12 EU-Staaten (Dänemark, Estland, Finnland, Irland, Lett­land, Litauen, Malta, die Niederlande, Öster­reich, Schweden, die Slowakei und Tsche­chien) in einem gemeinsamen Non-Paper für ein restrik­tiveres Mandat der Konferenz und dafür, Vertragsänderungen von vorn­herein aus­zuschließen. Zum Abschluss der Konferenz veröffentlichte eine ähnliche Gruppe aus 13 Ländern – weiterhin unter Beteiligung der nordischen und der balti­schen Staaten, darüber hinaus Staaten aus Mittel- und Osteuropa (Bulgarien, Kroatien, Polen, Rumänien, Slowe­nien und Tsche­chien) sowie Malta – ein wei­teres Non-Paper, das sich gegen den maxi­malis­tischen Ansatz des Europäischen Parlaments aus­spricht und Vertragsänderungen zum aktu­ellen Zeitpunkt ablehnt.

In Reaktion darauf brachten 6 westeuropäische Staaten (Belgien, Deutschland, Ita­lien, Luxemburg, die Niederlande und Spanien) ein eigenes Non-Paper heraus, in dem sie sich für Reformen mit Option auf Vertragsänderungen stark machen. Gemein­sam mit Frankreich, das die Ratspräsidentschaft innehatte und deshalb nicht unter­schrei­ben konnte, repräsentieren diese Staa­ten die Mehrheit der EU-Bevöl­kerung. Die 13 ableh­nenden Länder repräsentieren zusam­men mit Ungarn, das sich klar gegen Ver­tragsänderungen mit dem Ziel der Kom­pe­tenzausweitung positioniert, allerdings die Mehrheit der EU-Mitgliedstaaten. Die Zukunftskonferenz hat also nicht dazu bei­ge­tragen, hinsichtlich Vertragsänderungen einen Kompromiss zu finden; einzig die Niederlande haben – wegen einer neuen Koalition in Den Haag – in dieser Frage ›die Seiten gewechselt‹.

Die Opposition derjenigen, die gegen Vertragsänderungen sind, hat unterschied­liche Ursachen. Generell ist besonders in den nordöstlichen EU-Staaten die politische Bereitschaft für weitere Integra­tion gering. Die mittel- und osteuropäischen Staaten sind nicht willens, mehr Souve­ränität an die EU abzugeben, nach­dem sie ihre Unab­hängigkeit erst vor drei­ßig Jahren wieder­erlangt haben. Für die nordischen Mitgliedstaaten ist es ein zentrales Anliegen, dass EU-Regulierung nicht zu weit in die natio­nale Entscheidungshoheit eindringt, vor allem in der Steuer- und Fiskalpolitik, der Sozialpolitik und anderen für die nordischen Wohlfahrtsstaatsmodelle relevanten Politikbereichen.

Hinzu kommt der Zeitpunkt: Im Zuge des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine haben sich die nord-, mittel- und osteuropäischen Staaten zunehmend zu­sam­mengefunden in ihrer Einschätzung der Lage sowie in ihrer Vision, welchen Kurs die west­lichen Partner der Ukraine ein­schla­gen soll­ten. Für die Staaten in Russlands unmittelbarer Nähe hat Priorität, dass es seine Nach­barn nicht noch einmal angrei­fen kann. Diese här­tere Posi­tion, die eine ein­deutige Niederlage Russ­lands for­dert, steht im Gegen­satz zum vor­sichtigeren deutschen und fran­zösischen Ansatz, nicht alle Brücken nach Russland einzureißen und bereits jetzt darüber nach­zudenken, wie man nach dem Krieg mit Russland um­gehen könnte. Die nordöst­lichen EU-Mitglied­staa­ten halten den jetzi­gen Zeitpunkt, an dem ein Krieg in Europa herrscht, der vor­aus­sichtlich noch lange andauern wird, für beson­ders gefähr­lich und strategisch unklug, um einen insti­tu­tio­nellen Prozess zu Ver­trags­änderungen zu beginnen, wie ihn Frank­reich und Deutsch­land befürworten. So ein Prozess würde in ihren Augen massiv Kräfte binden und Auf­merksamkeit auf sich ziehen, die dringend für die Unterstützung der Ukraine und die Stärkung der europä­ischen Sicherheit benö­tigt werden.

Zurück in die Zukunft

Die Europäische Union steht wieder einmal vor einer Bewährungsprobe. Die weitgehend von den Ereignissen überlagerte Zukunftskonferenz konnte allerdings nur bedingt dazu beitragen, die Frage nach den notwen­digen Reformen der Union zu be­ant­worten. Dafür reicht weder die Legitimationskraft der zufällig, wenn auch repräsentativ zu­sammengesetzten Bürgerforen aus, noch ist es im Rahmen des Konferenzplenums ge­lun­gen, die gegensätzlichen Interessen zwi­schen und innerhalb der EU-Institu­tio­nen zu überbrücken. Insbesondere die Lager der Mitgliedstaaten, die für bzw. gegen Vertrags­änderungen sind, haben sich im Laufe der Zukunftskonferenz kaum verschoben. Dennoch lassen sich aus dem Prozess und dem Abschlussbericht vier Schlussfolge­rungen ziehen, die für die Debatte über die Reform der EU zentral sind:

Erstens zeigen die von den Bürgerforen erarbeiteten Vorschläge, welche Erwartungen die Bürgerinnen und Bürger an die EU stellen, nämlich: Sie solle mehr Verantwortung übernehmen, geeint in der Welt auf­treten und mit ihren Stärken, das heißt ihrer Regulierungsmacht und ihrer Wirt­schaftspolitik, die großen Transformationsprojekte Green Deal und Digitalisierung vorantreiben. Diese Zielmarken sollten leit­gebend sein für die entscheidende zweite Hälfte der aktuellen Legislaturperiode und die großen Vorhaben der EU. Der allergrößte Teil dieser Ziele lässt sich auch ohne Ver­trags­änderungen realisieren. Die Umsetzung der Zukunftskonferenz aus­schließlich auf die Frage von Vertragsänderungen zu konzentrieren würde weder den Anforderungen der EU gerecht noch den Wünschen der Bürgerinnen und Bürger.

Zweitens zieht sich die Forderung durch die Empfehlungen der Bürgerforen, dass die EU transparenter werden und auch jenseits des Experiments Zukunftskonferenz besser kommunizieren und mehr Möglichkeiten anbieten solle, Bürgerinnen und Bürger ein­zubinden. Dies sollte ebenfalls eine Auf­gabe für die Weiterentwicklung der EU sein. Eine konkrete Lehre aus der Zukunftskonfe­renz ist, dass das Modell transeuropäisch und repräsentativ zusammengesetzter Bür­ger­foren eine echte europäische Debatte schaffen und wertvollen Input geben kann. Dieses Modell sollte die EU für große Vor­haben verstetigen, und zwar als Ergänzung – nicht als Ersatz – zu ihren regulären Gesetzgebungsprozessen mit Beteiligung des Europäischen Parlaments. Denkbar wären zum Beispiel spezifische europäische Bürger­foren zu den Initiativen des Green Deal 2023 / 2024. Dies sollte gemeinsam disku­tiert werden mit den Vorschlägen zur Demo­kratisierung der Europawahlen mit­hilfe transnationaler Listen, die das Bürger­forum zu Demokratie unterbreitet hat und die aktuell im Europäischen Parlament erst­mals auf eine breite Mehrheit stoßen.

Drittens ist der Versuch gescheitert, die Frage nach Vertragsänderungen offen­zu­lassen und diese weder explizit ins Man­dat der Zukunftskonferenz zu schreiben noch auszuschließen. Eine Teilantwort hat die Konferenz aber auf die Frage gegeben, wel­che Vertragsänderungen zur Diskussion stehen. Und diese Antwort fällt nicht so voll­umfänglich aus wie bei den großen Vertragsrevisionen der 1990er und 2000er Jahre von Maastricht bis Lissa­bon, sondern konzentriert sich auf die Aspekte Ausweitung von Mehrheitsentschei­dungen / Hand­lungsfähigkeit, be­grenzte Ausweitung der EU-Kompeten­zen sowie, aus Sicht des EP, institutionelle Reformen zur Stär­kung des EP und der Rechtsstaatlichkeit. Zumindest der erste Punkt lässt sich, den notwendigen politischen Willen vorausgesetzt, über die Passerelle-Klausel auch ohne Vertragsänderungen umsetzen.

Viertens ist das Ringen über die strategische Ausrichtung der EU zurückgekehrt. Die nordöstlichen Mitgliedstaaten, die keine Vertragsänderungen wollen, sind ausdrücklich für die EU-Mitgliedschaft der Ukraine und für eine Erweiterung über die Ukraine hinaus, aus geopolitischen Grün­den. Auch und gerade mit Blick auf die geostrategische Transformation Europas sollte Deutschland aber darauf drängen, dass eine neue Erwei­te­rungsrunde nur mit Vertragsreformen und vertiefter Integration, beispielsweise in Form von mehr qualifizierten Mehrheitsentscheidungen, möglich ist. Andernfalls droht die EU ihre Handlungsfähigkeit ganz zu ver­lieren, wenn ihre Heterogenität weiter steigt, was zu erwarten ist. Beides zu vereinen ist die Reformaufgabe der EU in der nächsten Dekade.

Dr. Nicolai von Ondarza ist Leiter der Forschungsgruppe EU / Europa.

Minna Ålander ist Forschungsassistentin der Forschungsgruppe EU / Europa.

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2022

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