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Vom Nebeneinander zu neuem Miteinander

Die deutsche Lateinamerika-Politik braucht neue Ansatzpunkte

SWP-Aktuell 2021/A 58, 09.09.2021, 8 Pages

doi:10.18449/2021A58

Research Areas

Obwohl die Beziehungen Deutschlands und Europas zu Lateinamerika weithin als sehr eng gelten, hat sich in den letzten Jahren eine wachsende Distanz zwischen den Staaten eingestellt, die sich traditionell als »natürliche Partner« verstehen. Das Beziehungs­muster der »freundlichen Normalität« trägt nicht mehr für ein Mitein­ander in der heutigen Zeit. Dies liegt zum einen an den Prozessen politischer Neu­ordnung in vielen Ländern Lateinamerikas und der daraus folgenden regionalen Fragmentierung, zum anderen an dem nachlassenden Interesse in Deutschland und Europa an der Region. Auch sind neue Akteure wie China in Lateinamerika aktiv geworden, die möglicherweise für die Länder der Region attraktiver erschei­nen und die das deutsche und euro­päische Interessenprofil überstrahlt haben. In dieser Phase interner Suchprozesse und eventueller Verschiebungen im Partnerspektrum muss die deutsche Lateinamerika-Politik Brücken bauen und tragfähige Ansatzpunkte iden­tifizieren. Ein solcher neuer Hand­lungsrahmen muss darauf abzielen, ihr wieder eine Perspektive zu geben.

Lateinamerika bietet dem externen Beob­achter gegenwärtig kein Bild vielversprechender Zukunftschancen. Von Norden nach Süden sind politische Dynamiken zu verzeichnen, die europäische Erwartungen an eine gedeihliche Zusammenarbeit mit dem Subkontinent erschüttern: Mexiko hat sich aus der internationalen Politik weit­gehend zurückgezogen und verfolgt ein Wachstumsmodell aus den 1970er Jahren. In Zentralamerika werden Demokratie und Rechtsstaat von den Regie­rungen sys­tema­tisch ausgehebelt und eine Rückkehr zum Muster der Fassadendemokratien deutet sich an. In Kuba scheint die über 60 Jahre andauernde Herrschaft der Kom­munis­ti­schen Partei durch die Straßen­proteste ins Wanken zu geraten, die Füh­rung des Lan­des vermag nur mit Notmaßnahmen und repressiven Antworten auf die Fragen jun­ger Menschen nach einer neuen Lebens­perspektive zu reagieren. Anhaltende Pro­teste haben in Kolumbien den Frie­dens­prozess erschüttert, in Chile ist das Ver­trauen in das etablierte Parteiensystem mas­siv ge­sunken. In Peru haben die Wahlen im Juni und Juli 2021 mehr Unsicherheit über eine zukunftsfähige politische Entwicklung gebracht, als dass sie Hoff­nung auf einen Neustart des inner­lich zerrütteten Regierungssystems gegeben hätten. Die Verfallsrate der politischen Führer in Peru ist ext­rem angestiegen, das »populistische Modell« können viele Politiker kaum mehr über ihre Amtszeit retten. In Brasilien wird die Demokratie durch die Regierung auf die Probe gestellt, nicht zuletzt wegen der Unfähigkeit des Staates und der Unwilligkeit des Präsidenten, eine effektive Impf­kampagne gegen Covid‑19 durchzuführen. Politische Spannungen dominieren in Ecua­dor und Boli­vien, auch wenn sich hier eine baldige wirt­schaftliche Erholung ab­zeich­net. In Argentinien ist die Wirt­schaft erneut im freien Fall und Vene­zuela befindet sich in einer chroni­schen Krise.

Diese Belastungen für die politische Ent­wicklung in der Region sind Folge struk­tu­reller Schwachstellen wie wachsender Un­gleich­heit und einer prekären Sicher­heits­lage in Gesellschaften, die durch die Pande­mie zusätzlich mit Defiziten in der staat­lichen Gesundheits­fürsorge zu kämpfen haben. Aufgrund dieser Erfahrungen ist die »Entsolidarisierung« gestiegen, es hat sich eine »rohe, unsolidarische« Form des Zu­sam­menlebens und der Bürgerlichkeit (Wilhelm Heitmeyer) aus­gebreitet. Die Kon­fliktdynamik hat an Schärfe gewonnen.

Das Bild eines Krisenkontinents ohne große Perspektiven

Die heutige Situation auf dem Kontinent ist weit entfernt von derjenigen der goldenen Jahre des Roh­stoffbooms im vergangenen Jahrzehnt, als die Armut reduziert wurde und das Brutto­inlandsprodukt (BIP) zwei­stellig wuchs. Die Covid-19-Pandemie traf auf eine Region mit wenig politischem Hand­lungsspielraum, einem schwachen Gesundheitssystem, lee­ren Kassen und stei­gender Armut. Trotz aller nationalen Unter­schiede lassen sich Gemeinsamkeiten aus­machen, nimmt man die Entwicklung der Region als Ganzes in den Blick.

Die Zeit, in der die Länder Südamerikas Rohstoffe und natürliche Ressourcen zu attraktiven Preisen verkauften, dauerte ein Jahrzehnt. Zwischen 2003 und 2013 gelang der Aufstieg einer Mittelschicht, die Zugang zu größeren Beschäftigungschancen und Ein­kommen erhielt; die Regierungen unter­stützten diese Entwicklung mit mehr Mitteln für die Sozialpolitik. Im Jahr 2018 wurde die Mittelschicht zur größten Gruppe in der Region. Doch dann setzte in vielen Ländern eine wirtschaftliche Stagnation ein und die neuen Mittelschichten sahen sich mit einem Status­verlust sowie sozialem Abstieg kon­fron­tiert. Politisch reagieren sie mit hoher Volatilität – Ende 2019 etwa wur­den viele Länder der Region von starken sozia­len Un­ruhen erfasst. Nach dem pandemie­beding­ten Lockdown hat im Frühsommer 2021 vielerorts wieder eine Protest­welle be­gon­nen, die erkennen lässt, dass ungelöste Zukunftsfragen die Bevölkerung weiterhin umtreiben.

Der Verfall gewachsener Staatserzählungen

Das Vertrauen in den Staat und seine Insti­tutionen wird in vielen Ländern der Region nicht nur dadurch erschüttert, dass in der Bevölkerung Unmut über eine Selbst­bedie­nungsmentalität und eine gras­sie­rende Kor­rup­tion in der politischen Elite herrscht. Auch das Leistungsversagen staatlicher Ein­richtungen wird gerade in der Pandemie besonders scharf empfunden. Mit einem Slogan wie »Kampf gegen die Korruption mit harter Hand« lassen sich – wie der Fall Mexiko zeigt – Wahlen gewinnen; über­dies dient er der mexikanischen Regierung als Rechtfertigung dafür, über Jahre gegen auto­nome Einrichtungen, die das Staatshandeln kontrollieren sollen, vorzu­gehen, die Autonomie der Universitäten einzuschränken, unliebsame Widersacher auszu­schalten und sich gegenüber dem Trans­pa­renz­interesse der Bürgerschaft will­kür­lich zu verhalten. Meist verbirgt sich hinter sol­chem Vorgehen aber nur ein neuer Per­so­nalismus, der ebenso wie das Institutionen­handeln die Erwartungen der Bürger nicht zu erfüllen vermag.

Dem Staat und damit auch den Staats­erzählungen in ihren verschiedenen Varian­ten gelingt es immer weniger, Orien­tierung und Identität zu begründen. Ob es das (neo‑)liberale Bild des Vertrauens auf die Marktkräfte ist oder der erneute Ruf nach einer stärker ordnenden Hand des Staates in Wirtschaft und Gesellschaft, beide Mus­ter haben sich – in Argentinien und Chile auf der einen Seite bzw. Kuba und Venezuela auf der anderen Seite – als nicht mehr trag­fähig herausgestellt. Das schnelle Wech­seln von einem zum anderen Wirtschafts­modell und Staatsverständnis in Argentinien, Bra­silien, Ecuador und Mexiko hat den je­wei­ligen Ländern keine besseren Zu­kunfts­chancen gesichert. Werden Ent­schei­dungen der Vorgängerregierung um­gekehrt, erweist sich das für gewöhnlich als wenig tauglich für die Dauer einer Präsident­schaft oder Legislaturperiode; die Legitimitätsressourcen sind schnell erschöpft und es wird versucht, diese mit plebiszitären Elementen wie Refe­renden und Befragungen aufrechtzuerhalten oder über die Zeit zu retten.

Immer schlechter gelingt es, mit den eta­b­lierten Instrumenten staatlichen Handelns den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu bewahren. Die Erwartungen an das staat­liche Leistungsversprechen im Bereich Wohl­fahrt und Sicherheit können nicht erfüllt wer­den. Dass sich mittlerweile die »Regel stän­diger Regelverletzungen« durch­gesetzt hat, unterminiert das Vertrauen in die Poli­tik und den Staat. Die politischen Akteure ver­suchen Erfolge zu erzielen, indem sie pola­ri­sieren, was jedoch in den meisten Fäl­len eher im Zusammenbruch der be­stehen­den Parteien­systeme endet – die Bei­spiele rei­chen von Chile über Ecuador und Peru bis nach Mexiko und die zentral­amerika­ni­schen Staaten.

Die Volatilität neuer, auch von evangelikalen Kräften getragener poli­tischer Ange­bote hat dabei ebenso zuge­nom­men wie der Verlust an Wählerbindung bei den traditio­nellen Kräften. Der Niedergang christ- und sozialdemokra­tischer Parteien in der Region ist dafür ein deutlicher Beleg. Ihre Staats­erzählung, die noch in der Welle der (Re‑)Demo­kratisierung in den 1990er Jahren zu tragen schien, ist zerfallen und erkennbar nicht wiederzubeleben. Ob man dafür das »popu­listische Gift« oder das staatspolitische Ver­sagen der jeweiligen politischen Eliten ver­ant­wortlich machen will, ist zwar für das Ergeb­nis irrelevant, aber für die Frage ent­schei­dend, wie man heute und in Zukunft mit den Folgen des Ver­falls dieser Staats­erzählun­gen umgeht.

Die Rückkehr zur Nation und einem nationalen Projekt

Orte, wo Solidarität organisiert und auch gelebt werden kann, sind rar geworden. Vielfach müssen kleine soziale Netze, kari­tative Organisationen und selbstorganisierte Suppenküchen einspringen, da staatliche Unterstützung nicht rechtzeitig oder gar nicht eintrifft. Wenn sich Phänomene wie Bürgerwehren verbreiten, um elementare Sicherheit zu gewährleisten, ja wenn der frisch gewählte Präsident Perus Pedro Castillo das Modell der »rondas campesinas« (länd­liche Verteidigungskomitees) zum Bestandteil staatlicher Sicherheitspolitik erklärt und gleichzeitig allen Delinquenten nahe­legt, das Land innerhalb von drei Tagen zu verlassen, wird ersichtlich, wie weit sich der Staat bereits von seinen Bürgern ent­fernt hat. Castillos Aufruf zu einer »Ver­fassungs­gebenden Versammlung«, die neue Grund­lagen des sozialen Zusammenlebens er­arbeiten soll, kopiert nicht nur das Bei­spiel des Nachbarlandes Chile und voraus­gehende fragwürdige Erfahrungen in Boli­vien, Ecua­dor und Venezuela, er ist zugleich ein Ruf nach einer Neubestimmung der Nation.

Hierbei spielen Fragen der Anerkennung nationaler Pluralität, von indigenen und regionalen Identitäten eine wichtige Rolle, es geht aber auch um die Verteilung der politischen Gewichte im Staat, die oftmals merklich in Richtung der Exekutive ver­schoben wurden – zu Lasten eines Systems von »checks and balances«, das gerade für die präsidentiellen Regierungssysteme der Region angezeigt erscheint.

Das Wiedererstarken des Nationalen in der Politik, die Rückbesinnung auf die Nation und die Neuformulierung einer nationalen Erzählung ist ein gesellschaftspolitischer Aushandlungsprozess, der viele Kräfte bindet und beste­hende Muster des Konflikt­austrags her­aus­fordert. Dies wird besonders deutlich am Beispiel Chile, das über Jahr­zehnte als wirt­schaftlicher und politischer Musterknabe der Region galt und sich selbst als Vorbild insze­nierte. Mit den Wahlen zu einer Verfassungs­gebenden Versammlung im Mai 2021 ist eine hetero­gene Mehrheit politischer Kräfte bestimmt worden, die nichts mit den etablierten Par­teien zu tun hat, stark lokal und aktivis­tisch gebun­den ist und einen anderen Politik­stil durchsetzen will. Ob das gelingt und welche Ernüchterungen diesen Prozess be­glei­ten werden, werden die Nach­bar­länder genau verfolgen; das Ergebnis hat Signalwirkung über Chile hinaus.

In Kolumbien ist eine ähn­liche Tendenz zu beobachten: Selbst Monate nach Beginn der Unruhen im Juni 2021, die auf dem schlimmsten Höhepunkt der Pandemie aus­brachen, wird das Land weiterhin von Em­pö­rung und Protesten erschüttert. Ob­wohl das nationale Streikkomitee, in dem Gewerk­schafts- und Arbeitszentren zusam­men­ge­schlossen sind, entschieden hat, die Massen­mobilisierung vorübergehend aus­zusetzen, sind immer noch Hunderte jun­ger Men­schen auf der Straße. Indigene Gruppen beteiligen sich mit Straßenblocka­den. Über­griffe, Akte des Vandalismus durch Demonst­ranten, aber auch fragwürdiges Verhalten der Sicher­heitsorgane schaukeln sich gegen­seitig hoch. Die tiefe emotionale Spaltung des Landes und die politische Polarisierung weisen Kolumbien als extrem zersplit­tertes Land aus, ein Jahr vor den Präsidentschafts­wah­len, die zusätzliche Spannungen mit sich bringen werden. Auch wenn die Massen­aufmärsche nachlassen mögen, ist nicht erkennbar, wie diese innere Entfremdung großer Teile der Bevölkerung gegenüber den tra­di­tionellen Eliten politisch überwun­den wer­den kann. Diese müs­sen daher ihre bis­he­rige »Erzähl­verweigerung« für ein neues nationales Projekt auf­geben und For­men und Formate finden, um den Dialog mit der Gesellschaft zu gestalten.

Die Wirtschaft ist, wieder einmal, Argentiniens größtes Hindernis. Zwar erlebt das Land weder solche sozialen Spannungen wie etwa die Nachbarn Brasilien und Kolum­bien noch eine politische Unsicherheit, die der­jenigen in Peru oder Chile vergleichbar wäre. Aber steigende Inflation, Ar­beits­losigkeit und Armut setzen das emp­findliche Gleich­gewicht, das die Straßen bisher friedlich gehalten hat, unter maxi­malen Stress. Argen­tiniens Wirtschaft sank im Jahr 2020 um 9,9 Prozent, der drittgrößte Rückgang in Südamerika nach Venezuela und Peru. Das Land kann seine Aus­lands­schulden in Höhe von 341 Milliarden Dollar, die fast 90 Pro­zent seines BIP ent­sprechen, nicht mehr abzahlen. Es schuldet den multilateralen Gläubigern die 44 Mil­liarden Dollar, die der frühere Präsident Mauricio Macri 2018 als Finanzspritze er­hal­ten hat. Um den Haus­halt zu finanzieren und angesichts eines be­grenzten Zugangs zu inter­nationalen Märk­ten ist die Regierung Fernández ge­zwun­gen, die Geldmenge massiv auszu­wei­ten, was zu Druck auf die Infla­tion führt. Ein nationaler Konsens, um diese wiederkehrende Krise zu überwinden, ist in Anbetracht der poli­ti­schen Polarisierung nicht in Sicht.

Außenpolitische Folgen der Binnenorientierung

In der Region sind vielfältige Suchprozesse zu erkennen, um die Nation, das Entwicklungsmodell und eine neue integrative Form des Zusammenlebens zu »erfinden«. Diese »Denkbewegungen« vollziehen sich jedoch bislang überwiegend jenseits der traditionellen politischen Kräfte und etab­lier­ten Eliten, so dass entsprechende Span­nungen nicht ausbleiben bzw. harte Aus­handlungsprozesse unausweichlich werden. Dies fordert herkömmliche Mechanismen zur Abfederung sozialer Konflikte in beson­derem Maße heraus, seien es Sozialsysteme, Parteien oder andere intermediäre Agen­tu­ren. Zudem werden diese Klärungsprozesse Zeit brauchen und – in einigen Ländern – in eine neue Konfiguration der politischen Eliten münden.

In dieser politischen Konjunktur nimmt sich die lateinamerikanische Realität als stark auf sich selbst bezogen und nach innen gerichtet aus. Dies deckt sich mit der exter­nen Wahrnehmung, dass der Sub­kontinent sich weitgehend aus der globalen Politik und damit ebenfalls aus der globa­len Ver­antwortung zurückgezogen hat. Geradezu paradigmatisch gilt dies für Brasilien, das zu Zeiten des außenpolitischen Akti­vismus unter Präsident »Lula« da Silva quasi eine internationale Sprecherrolle für Süd­amerika innehatte bzw. sie ihm zugeschrieben wurde, während sich das Bra­silien von Prä­sident Jair Bolsonaro fast vollständig aus der internationalen Politik verab­schiedet hat. Ähnliches lässt sich für Mexiko unter Präsident Andrés Manuel López Obrador sagen, dessen Regierung zu internationalen Verbindlichkeiten weiter auf Distanz ge­gan­gen ist. Auch gemeinsames Handeln etwa im Rahmen der Gemeinschaft lateinamerikanischer und karibischer Staaten (CELAC) findet wegen der Kon­flikte um Venezuela und des Rückzugs Bra­siliens nur auf sehr geringem Niveau statt.

Mexiko und Brasilien haben sich weit­gehend von der globalen Politik (G20 etc.) abgekehrt, nationale Prioritäten stehen im Vordergrund. Damit ist für deutsche und europäische Politik die An­schlussfähigkeit verlorengegangen, beide Staaten – aber ebenso Lateinamerika ins­gesamt – sind für gemeinsame multi­laterale Initiativen in den letzten Jahren als Partner ausgefallen, jenseits symbolischer Bekundungen sind keine Initiativen zu erkennen. Manche Be­ob­achter sprechen bereits von einer tiefen »Beziehungskrise« zwischen Lateinamerika und Europa. Das gleiche Bild ergibt sich in wirtschaftlicher Hinsicht: Die Region – sieht man von Mexiko ab – ist großenteils nicht an globalen Wertschöpfungsketten beteiligt und weist einen geringen Grad der Integration in die globale Wirtschaft auf, so dass auch auf diesem Feld wenig Anknüpfungspunkte gegeben sind.

Fehlgeleitete Erwartungen, frustrierte Partner

Das überkommene Verhältnis zwischen Deutschland und Lateinamerika ist diesen aktuellen Herausforderungen offenbar nicht mehr gewachsen, auf beiden Seiten reagiert man mit Rückzug. Ein Beispiel dafür ist die Zukunft des EU-Mercosur-Abkom­mens, dessen Verabschiedung in immer weitere Ferne rückt. Es erscheint erforderlich, das traditionelle Repertoire der Zusammenarbeit zu überdenken.

In Lateinamerika wird beklagt, dass die deutsche Wirt­schaft weniger Interesse an den Ländern der Region hat als noch vor zehn Jahren. Das gemeinsame Fundament ist schmaler geworden. Weder das letzte Lateinamerika-Konzept der Bundesregierung aus dem Jahr 2010 noch die Lateinamerika-Initiative des Aus­wärtigen Amts vom Mai 2019 konnten ihren eigenen Ansprüchen gerecht werden. Beide gingen von der Erwartung aus, gemein­same Werte und eine gewisse Inter­essenkonvergenz würden in eine von allen Beteiligten getra­gene Option für den Multi­lateralismus »natür­licher Verbündeter« münden.

Der Versuch, Gewachsenes zu festigen und zu einer inten­siveren Koopera­tion zu verdichten, ist allein schon an der eingeschränkten Bereit­schaft vieler Regie­rungen gescheitert, sich regional oder glo­bal in multilateralen Stra­tegien zu enga­gieren. Die Mehrzahl der lateinamerikanischen subregionalen Inte­grationsbünd­nisse stag­niert oder ist handlungsunfähig, weil natio­nale Prioritäten keinen Platz lassen oder bilaterale Konflikte ein Zusammen­wirken verhindern. Diese frag­mentierte Lage ist aber ebenso Ausdruck dafür, dass die Regie­rungen der Region sich nur be­grenzt an einer multilateralen Politik orien­tieren, wenn es um globale öffentliche Güter geht.

Dies wird besonders sichtbar in der Ener­gie- und Klimapolitik: Mexiko, tradi­tio­nell ein Partner Deutschlands in der Klima­politik, hat mit dem Amtsantritt von Präsi­dent López Obrador eine Kehrtwende in der Energiepolitik vollzogen und inves­tiert massiv in die Förderung fossiler Energie­träger. Öl ist zum Zentrum der Entwicklungs­strategie geworden, alternative Ener­gien werden demgegenüber zurückgedrängt und damit natürlich auch die Klimaziele verfehlt. Die vollmundige Ankündigung von Deutschlands Lieblingspartner Costa Rica, bis zum Jahr 2050 gänzlich auf die Nutzung fossiler Brennstoffe zu verzichten und als erstes Land weltweit bis 2021 CO2-neutral zu werden, wird sich nicht um­setzen lassen angesichts der fiskalischen Engpässe des Landes und der dadurch feh­len­den Investitionen. Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro hat zwar jüngst erklärt, nun doch im Pari­ser Klimaschutz-Abkommen verbleiben zu wollen, aber die zunehmenden Abholzun­gen und Waldbrände am Amazonas spre­chen eine andere Sprache – und zeugen eher von einem Konzept der »Freigabe« des Amazonas-Beckens für die wirtschaftliche Nutzung.

Hinzu kommt, dass die von Deutschland betriebenen Sonderformate des politischen Dialogs mit den beiden regionalen Schwer­gewichten, Brasilien und Mexiko, abge­brochen bzw. eingefroren sind. Die deutsch-brasilianischen Kabinettskonsultationen fanden zuletzt 2015 zwischen Präsidentin Dilma Rousseff und Bundeskanzlerin Merkel statt, die Gemeinsame Kommission mit Mexiko ist seit vier Jahren nicht mehr zu­sammengetreten.

Heute muss es um mehr als ein diffuses Interesse gehen, der Region wieder einen erkennbaren und für alle Beteiligten nach­vollziehbaren Stellenwert in der deutschen Außen- und Entwicklungspolitik zu geben. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass sich die Einstellung lateinamerikanischer Länder Deutschland gegenüber geändert hat – diesen Verlust an Vertrauen gilt es auf­zu­fangen, und zwar durch neue, möglicherweise weniger vertraute Initiativen sowie breites Engagement.

China oder wir?

Chinas neue Präsenz in Lateinamerika ist in vielfältiger Weise beschrieben worden. Dabei wird jedoch oftmals übersehen, dass sich auch hier die Präferenzen verschoben haben: Während sich die chinesischen Direktinvestitionen zwischen 2005 und 2009 zu 94,73 Prozent auf den Rohstoff­sektor konzentrierten, insbesondere auf Länder wie Argentinien und Brasilien, haben sie sich seither zunehmend auf die jeweiligen lateinamerikanischen Binnenmärkte ver­lagert. Im Zeitraum 2015–2020 entfielen 62,58 Prozent der chinesischen Direktinvestitionen auf dienstleistungs­orientierte Tätigkeiten und Binnenmärkte, womit das Argument der Rohstoffnachfrage deutlich in den Hintergrund rückt.

Gleichwohl fühlen sich deutsche Akteure durch die chinesischen Aktivitäten unter Druck gesetzt und erwar­ten von ihren latein­amerikanischen Partnern ein klares Bekennt­nis zur Loyalität mit Europa oder zumindest mit europäischen Wertemustern. Dabei übersehen sie indes das pragma­tische Ver­halten vieler Staaten der Region im Umgang mit China, einem Land, das ihnen einfacher, weniger bekenntnisbeladen und konditioniert – und damit also weni­ger kompliziert als Europa – erscheint. Auch wenn diese Einschätzung trügen mag, kann es nicht überraschen, dass die Hin­neigung zum neuen Präferenzpartner sich für viele Länder wirtschaftlich geboten und politisch renta­bel ausnimmt. Die jüngsten Erfahrungen mit der chinesischen Impfdiplomatie schei­nen dies abermals zu bestätigen.

Deutsche und europäische Forderungen, Lateinamerika solle sich explizit für eine Zusammen­arbeit mit Europa aussprechen, verstärken nur lateinamerikanische Emp­find­lichkeiten, Europa wolle dem Partner kein eigenes politisches Gestaltungsprofil zugestehen, und reproduzieren Muster externer Bevormundung. Die Positionen lateinamerikanischer Staaten folgen ja ge­rade dem Interesse, nicht in die System­riva­li­tät zwischen China und den USA hinein­gezogen zu werden, sondern diese durch prag­matisches Handeln zu umschiffen.

Handlungsansätze

Heute eine umfassende Kooperation zwi­schen Deutschland und Lateinamerika zu fordern ist fehl am Platz. Deutschland hat bereits im europäischen Kontext viele Fest­legungen zur Zusammenarbeit getroffen, zudem sind die lateinamerikanischen Län­der gegenwärtig zu stark mit internen Pro­zessen befasst. Es muss also darum gehen, spezifische An­satz­punkte zu finden, die dieser Gemengelage gerecht werden. Es gilt also, eine Aus­wahl zu treffen, die von bis­he­rigen Katego­risie­rungen und Zuordnungen Abstand nimmt und einen realis­tischen Handlungshorizont dessen beschreibt, was eine deutsche Latein­amerika-Politik will und was sie zu leisten im Stande bzw. bereit ist.

Themenbezogene Partnerschaften und Brückenprojekte fördern

Die Pandemie hat Lateinamerika noch immer fest im Griff, die Impfquote steigt nur langsam an. Die Bewältigung der Pan­de­miefolgen ist nicht nur im globalen, son­dern auch regio­nalen Maßstab unter die Devise gestellt worden, diese Krisensituation als Chance für eine wirtschaftliche und soziale Neu­aufstellung zu nutzen. Das be­deutet, all jene Überlegungen aufzunehmen, die sich mit der Frage zukunftsfähiger Tech­nologien und nachhaltigem Wirtschaften beschäftigen. Zu diesem Aufruf zu gemein­samem Handeln konträr verläuft die deut­sche Entwicklungspolitik, genauer gesagt die Prioritäten­setzung in der Entwicklungs­zusammen­arbeit und der Graduierung der Länder Latein­amerikas. Das Reformkonzept »BMZ 2030« ist mit einem Verlust an Mitteln der öffentlichen Entwicklungszusammenarbeit (ODA) verbunden oder wird es in der Zukunft sein. Diese Strategie unterläuft die notwendige Zusammen­arbeit mit vielen Staaten der Region und reduziert die Reich­weite deutscher Politik bzw. ihrer Chancen. Zudem wird damit die Weiterführung der internationalen Koope­ration in Frage gestellt, die die Agenda 2030 umsetzen soll.

Gerade unter dem Gesichtspunkt einer Politik demokratischer Resilienz ist es dringend erforderlich, ein Konzept für die Zusammenarbeit »beyond ODA« zu ent­wickeln, die sich nicht darin erschöpft, einige wenige Länder als »Globale Part­ner« einzustufen oder Kooperationsmodelle regio­nal anzulegen. Um von der »alten« Kooperationsordnung zu einer neuen zu gelangen, sollten flexible Brückenprojekte gefördert werden, die die starre Zuordnung zu Kooperationslinien überwinden und verschiedene Projektlinien verknüpfen. Solche flexiblen Brückenprojekte wären geeignet, um die aktuell in Lateinamerika ablaufenden Suchprozesse zu stützen. Da­mit könnten sie die gegenwärtigen Dyna­miken bei der Rekon­figuration politischer Dis­kurse und Akteure eher voran­bringen, als wenn auf einmal festgelegten For­ma­ten insistiert wird, die jedoch auf ge­ringe poli­tische Resonanz stoßen. Schlüssel­fragen der derzeitigen Debat­ten in der Region zum »Building Back Better« könnten auf diese Weise aufgegriffen und in projektübergreifende Kontexte gestellt werden.

Das soziale Fundament von Demokratie stärken

Vorrechte der Eliten und soziale Asymme­trie sind umfassend dokumentierte Kenn­zeichen der lateinamerikanischen Gesellschaften, die ihre soziale Unwucht weiter verstärken. Unter den Bedingungen der Pandemie haben Gewalt und Ausgrenzung zugenommen, da insbesondere Ange­höri­gen des informellen Sektors die Ein­nahme­quellen wegbrachen und die Sicher­heits­organe mit anderen Aufgaben betraut wur­den. Organisierte Krimi­nalität (inklusive der Gewaltanwendung durch kriminelle Orga­nisationen aus der Drogenökonomie und dem Entführungsgewerbe) und gestörte so­ziale Ordnungen unterminieren be­stehen­de Solidaritätsnetze und die gesell­schaftliche Kohäsion weiter. Diese zersetzenden Wir­kungen verschärfen die ohne­dies vorhandene Symptomatik pre­kärer Sicherheits­verhältnisse.

Gemeinsame Handlungsansätze müssen sich daher auf den vorpolitischen Raum beziehen, um zwischen­menschliches Ver­trauen (wieder) aufzubauen und die Chan­cen von kollektivem Handeln in Latein­amerika zu erweitern. Deshalb sind Maß­nahmen notwendig, die darauf abzielen, Ungleichheit und Unsicher­heit voneinander zu entkoppeln, insbesondere indem kleine soziale Netze wiederhergestellt werden sowie die damit verbundenen Vertrauensbeziehungen, die eine Gesellschaft zusam­men­halten und zentrifugale Tendenzen reduzieren. Hier kann mit vielen zivil­gesellschaftlichen Ansätzen wie Stadtteilinitiativen, Frauengruppen und Kunstvermittlern gearbeitet werden, um öffentliche Räume wiederzu­beleben, die zur Überwindung von Bindungslosigkeit beitragen und damit gleichfalls das soziale Fundament von Demokratie zu festigen vermögen. Gerade die deutsche Entwicklungszusammenarbeit wie auch die Kulturarbeit kön­nen auf diesem Gebiet viele Erfahrungen einbringen.

Lateinamerika – ein Partner in der globalen Wasserstoff­produktion

Laut der Internationalen Agentur für Er­neuerbare Energien (IRENA) sind in Lateinamerika einige der dynamischsten Märkte für erneuerbare Energien zu finden; immer­hin stammt dort mehr als ein Viertel der Primär­energie aus Erneuerbaren – das ist doppelt so viel wie im globalen Durchschnitt und macht Lateinamerikas Elektrizitäts­matrix zur saubersten weltweit. Die latein­amerikanischen Energiesektoren sind größ­tenteils noch durch eine hohe Abhängigkeit von Wasserkraft gekennzeichnet. Länder wie Brasilien (trotz der aktuellen Dürre), Kolumbien, Costa Rica, Ecuador, Paraguay und Uruguay gewinnen vor allem dank der Wasserkraft über 50 Prozent der installierten Energiekapazität aus er­neuerbaren Ressourcen. Die Kombination mit weiteren erneuerbaren Energiequellen ist ein maß­geblicher Schritt zum Erfolg für alle Länder der Region. Die Ver­füg­barkeit von grünen Energieträgern wie Sonnen-, Wasser- und Windkraft, Geothermie und Biomasse ist eine ideale Basis für die Umsteuerung weg von fossilen Energie­trägern, etwa auch mithilfe von Bio-Kraftstoffen.

Hinzu kommt nun die Energietransition in der Region, bei der die kohlenstoffarme Produktion von Wasserstoff eine zentrale Rolle auch für den Export spielen könnte. Dies bedeutet, dass die bisher hauptsächlich aus fossilen Quellen (meist Erd­gas) gespeiste Produktion von »blauem« Wasserstoff um­gestellt werden müsste auf »grünen« Wasser­stoff, was angesichts der umfassenden Ver­fügbarkeit erneuerbarer Energiequellen eine vielversprechende Option darstellt. Lateinamerika könnte damit ein relevanter Player auf dem glo­balen Wasser­stoffmarkt werden, wenn es den Ländern gelingen würde, in einer gemeinsamen Anstrengung regionale Lieferketten aus­zubauen, wie dies auch die Internationale Energieagentur (IEA) einfordert. Panama rechnet sich neue Mög­lichkeiten aus, in seiner Kanal­zone einen »Hub für grünen Wasserstoff« ein­zurichten. Kolumbien steht nach der An­kündigung internationaler Konzerne, die Kohleförderung in der nächsten Dekade einstellen zu wollen, ebenfalls in diesem Be­reich vor einem massiven Strukturwandel.

Für Deutschland ergibt sich hier ein erfolgversprechender Ansatz für ein neues Miteinander bei einer Zukunftstechnologie. Bestehende industrielle Kooperationen könnten ausgedehnt werden auf ein für Mobilität und kohlenstoffarme Produktion zukunftsträchtiges Gebiet. Brasilien, Chile, Costa Rica, Kolumbien und Uruguay haben hier wichtige Schritte unternommen und sind gleichzeitig langjährige Partner; eine vertiefte Zusammenarbeit mit ihnen bietet große Chancen. Dieses neue Kooperationsfeld könnte Zugänge eröffnen, die in den traditionellen Bereichen der Kooperation und des politischen Dialogs oft verstellt sind. Diesen und andere Wege zu erkunden könnte ein sinnvoller Impuls sein, damit Deutschland und ein sich schnell verändern­des Lateinamerika wieder miteinander ins Gespräch kommen.

Prof. Dr. Günther Maihold ist Stellvertretender Direktor der SWP.

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