In New York treffen sich Ende September viele Staats- und Regierungschefs der Welt, um zur Eröffnung der 74. UN-Generalversammlung über drängende Fragen des Überlebens der Menschheit zu diskutieren: nachhaltige Entwicklung, Klimaschutz, globale Gesundheit und die dazugehörige Finanzierung. Doch was können diese Gipfel angesichts der geopolitischen Situation überhaupt bewirken? Eine Analyse mit Fokus auf den SDG-Gipfel zeigt Möglichkeiten und Grenzen.
Der vielbeschworenen Krise des Multilateralismus zum Trotz beginnt die Generalversammlung der Vereinten Nationen (United Nations, UN) Ende September mit einem Trommelwirbel. Gleich mehrere Gipfel (siehe Tabelle 1, S. 2) bieten den anwesenden Staats- und Regierungschefs jenseits der Generaldebatte die Möglichkeit, ihre Bekenntnisse oder Vorbehalte zu den Themen Klimaschutz, Gesundheit, nachhaltige Entwicklung oder Finanzierung kundzutun.
Multilateralismus unter Druck
Die politische Großwetterlage ist zurzeit kaum so, dass große Fortschritte erwartet werden dürfen. In New York erläutern erfahrene Diplomaten, es gehe aktuell eher darum, »to push back on the pushback« – also darum, Rückschritte zu vermeiden. Selbst vermeintlich gesicherte Errungenschaften und Kompromisse, gern in Form von fein austarierten Formulierungen in Konsensdokumenten, seien nicht mehr gewiss. Momentan berge jede neue Verhandlungsrunde das Risiko, dass man am Ende mit weniger dastehe. So sind viele Diplomaten schon froh, wenn es gelingt, in UN-Dokumenten zu wiederholen, was bereits zuvor vereinbart wurde.
Im Juli, beim jährlichen Hochrangigen Politischen Forum zu Nachhaltiger Entwicklung der UN (High-level Political Forum on Sustainable Development, HLPF), waren die USA erstaunlich wenig präsent. Zur Eröffnung der Generalversammlung dürfte die neue UN-Botschafterin der USA, Kelly Craft, im Gefolge von US-Präsident Donald Trump die Eckpunkte ihrer UN-Politik verdeutlichen. Gegenwärtig hat sie noch keine politische Erfahrung mit UN-Prozessen. Vor dem US-Senat hat sie angekündigt, sich in klimapolitischen Fragen für befangen zu erklären – vor dem Hintergrund des Kohle-Vermögens ihrer Familie. Sie wolle sich dafür einsetzen, dass alle Staaten einen fairen Beitrag leisten. Bisher bedeuteten solche Aussagen der Trump-Administration vor allem, andere sollen mehr tun, wohingegen die USA selbst ihr globales Engagement zurückfahren.
Schon seit einigen Jahren sind Verfechter des Multilateralismus auf der Suche nach neuen effektiven Formaten. Club-Formate wie die G7/G8 oder G20 haben bislang nicht vermocht, entscheidende politische Impulse in der Klima- und Nachhaltigkeitspolitik zu setzen. Nun plant die Bundesregierung zusammen mit Frankreich, während der Generalversammlung die »Allianz für den Multilateralismus« zu präsentieren. Mit diesem Netzwerk solle der »schweigenden Mehrheit« der Staaten eine Stimme verliehen werden, die die Vereinten Nationen unterstützen. Die Mitglieder dieser Allianz wollen die multilaterale Zusammenarbeit zu Themen wie Abrüstung, neuen Technologien, humanitärer Hilfe oder Klimawandel fördern – als flexible Koalitionen der Willigen, die voranschreiten, wo weiterführende Konsense in der UN-Generalversammlung aktuell nicht möglich sind. Allerdings: Wie genau hier Mehrwert geschaffen werden soll, ist noch weitgehend unklar. Das birgt die Gefahr, dass außer informellem Austausch und einigen Absprachen nicht viel herauskommen könnte.
Im Kontext der UN-Nachhaltigkeitspolitik erinnert das an die Hochrangige Gruppe der neun Staats- und Regierungschefs, die 2015 anlässlich der Verabschiedung der 2030-Agenda und der Ziele für nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals, SDGs) von Schweden ins Leben gerufen und von Deutschland unterstützt wurde. Sie hatte damals »hochrangiges« Engagement versprochen, aber keinen großen sichtbaren Mehrwert geliefert. In dieser Gruppe waren immerhin noch mehr als die Hälfte der Mitglieder Länder aus dem globalen Süden (Brasilien, Kolumbien, Liberia, Südafrika, Tansania, Timor-Leste und Tunesien). Inwieweit diese Länder sich nun für ein Netzwerk begeistern können, bei dem Frankreich und Deutschland »Motor und Drehkreuz« sein wollen, ist offen. Vielleicht wäre ein Viertakter die bessere Variante, wenn also ein Entwicklungs- und ein Schwellenland in zentraler Funktion hinzukämen. Um sie zu einer Teilnahme zu ermuntern, sollte sich die Allianz um die für diese Länder wichtige Frage kümmern, wie multilaterale Institutionen repräsentativer und inklusiver gestaltet werden können. Das wäre auch im Sinne der in den SDGs festgeschriebenen Absicht, die Teilhabe der Entwicklungsländer an den globalen Lenkungsinstitutionen zu verstärken – das heißt unter anderem das Thema Stimmrechte in internationalen Organisationen anzugehen.
Tabelle 1 Gipfel zur Eröffnung der UN-Generalversammlung 2019 |
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17.9. |
Eröffnung der 74. UN-Generalversammlung |
21.9. |
UN-Jugendklimagipfel |
23.9. |
Klimaaktionsgipfel des UN-Generalsekretärs |
23.9. |
Hochrangiges Treffen zu allgemeiner Gesundheitsfürsorge |
24.9. (15 Uhr) |
SDG-Gipfel |
26.9. |
Hochrangiger Dialog zu Entwicklungsfinanzierung |
27.9. |
Hochrangige Zwischenbilanz zum Samoa Pathway (kleine Inselstaaten) |
24.9. bis 30.9. |
Generaldebatte |
Derweil sollen im September die Gipfel richten, was im Alltagsgeschäft in New York nicht gelingt: sichtbar und wirksam politische Akzente zu setzen. UN-Generalsekretär António Guterres betonte kürzlich im Interview mit dem Time Magazine, dass die Aufgabe des Schutzes globaler Gemeinschaftsgüter eine Chance für den Multilateralismus sei – die UN seien geradezu verpflichtet, hier eine globale Führungsrolle zu übernehmen und alle zum Handeln zu mobilisieren. Bei den Gipfeln geht es mithin nicht darum, Konsensdokumente zu verhandeln. Vielmehr soll jedes Land ambitionierte konkrete Beiträge nach New York mitbringen, sowohl Regierungen als auch Wirtschaft und Gesellschaft. Diese Logik zieht sich durch alle Gipfel. Doch sind die typischen Formate der UN-Gipfeltreffen überhaupt geeignet, diese Akteure verlässlich zum Handeln zu bewegen?
Der SDG-Gipfel …
2015 haben die Staats- und Regierungschefs aller Mitgliedstaaten die »2030 Agenda für nachhaltige Entwicklung« verabschiedet. Laut Titel und Präambel zielt die Agenda auf nichts weniger als eine Transformation unserer Welt. Das jährlich stattfindende Hochrangige Politische Forum zu Nachhaltiger Entwicklung (HLPF) soll »eine zentrale Rolle« in einem »Netzwerk von Weiterverfolgungs- und Überprüfungsprozessen« zur Umsetzung der SDGs spielen. Delegationen aller UN-Mitgliedstaaten tagen dazu jedes Jahr im Juli für acht Tage unter der Schirmherrschaft des Wirtschafts- und Sozialrats, alle vier Jahre zusätzlich für zwei Tage im September unter der Schirmherrschaft der Generalversammlung – so wie dieses Jahr beim sogenannten »SDG-Gipfel«.
Der SDG-Gipfel ist also ein zweitägiges hochrangiges Treffen, das alle vier Jahre zur Eröffnung der Generalversammlung auf Ebene der Staats- und Regierungschefs stattfinden soll. Auf höchster Ebene soll der Gipfel politische Impulse (»political leadership, guidance and recommendations«, A/RES/67/290) für die Transformation in Richtung nachhaltiger Entwicklung geben. Demnach geht es nicht um multilaterale Verhandlungen, sondern um die Mobilisierung politischer Unterstützung für eine entschiedenere Umsetzung der 2015 beschlossenen 2030-Agenda.
… und sein Programm
Wegen der politischen Bedeutung des Gipfels wurden die genauen Modalitäten von einem Fazilitator informell ausgehandelt: Der UN-Botschafter El Salvadors konsultierte auf Bitten der Präsidentin der Generalversammlung alle UN-Mitgliedstaaten zu ihren Vorstellungen mit Blick auf das Programm. Das Ergebnis – ein Mix aus UN-typischen und innovativen Elementen – zeigt das Ringen der UN um effektivere Formate.
Der SDG-Gipfel beginnt mit Eröffnungsreden: des neuen Präsidenten der 74. Generalversammlung (Nigeria), des UN-Generalsekretärs und der neuen Präsidentin des UN-Wirtschafts- und Sozialrats (Norwegen). Sie werden unter anderem auf die Ergebnisse der vier jährlichen HLPF-Treffen seit 2016 und die dazugehörigen Berichte verweisen. Namentlich der »SDG Progress Report« des UN-Generalsekretärs, der auf dem ausführlicheren SDG-Report der Statistischen Kommission der UN basiert, liefert eine Bestandsaufnahme und Analyse der wichtigsten Trends bei der bisherigen Umsetzung der 2030-Agenda und der SDGs. Neben einigen positiven Entwicklungen sei vor allem die Verschlechterung des Zustandes der natürlichen Umwelt besorgniserregend. Besonders dringend werden Aktivitäten im Bereich Klimaschutz eingefordert, da sonst mit desaströsen Effekten auf die Erreichung aller anderen Ziele zu rechnen sei. Daneben konstatieren die Berichte die steigende Ungleichheit zwischen und in Ländern, deren Auswirkungen sich ebenfalls in vielen Zielbereichen nachweisen lassen.
Diese Trends werden durch die Befunde des »Global Sustainable Development Report« (GSDR) ergänzt, der am Ende der Eröffnung in Form eines »Kamingesprächs« vorgestellt werden wird. Der GSDR ist der lang erwartete Bericht einer 15‑köpfigen Gruppe unabhängiger Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Die UN-Mitgliedstaaten haben diesen Bericht 2016 beauftragt; alle vier Jahre soll er wissenschaftliche Analysen auswerten. Zum einen sollen die Forscherinnen und Forscher Trends bei der Umsetzung der SDGs beurteilen und zum anderen wissenschaftlich gestützte Einschätzungen bereitstellen, welche transformativen Pfade hin zu einer globalen nachhaltigen Entwicklung vielversprechend sind, und entsprechende Hinweise zu notwendigen Kurskorrekturen geben. Der Co‑Vorsitzende des Wissenschaftler-Teams, Peter Messerli (Universität Bern), erklärte, es sei nicht sinnvoll, einzelnen Zielen hinterherzulaufen, die Politik müsse im Gegenteil komplexe Wirkungszusammenhänge in den Blick nehmen. Der GSDR 2019 identifiziert sechs mögliche Einstiegspunkte (entry points) und vier Hebel (levers), aber auch Hindernisse (impediments) für die angestrebte Transformation. Im Programm des Gipfels ist keine Zeit für eine zwischenstaatliche Diskussion des Berichts eingeplant.
Vielsagend ist, dass noch während der Eröffnung das Abschlussdokument des SDG-Gipfels angenommen werden soll – die Debatten beim Gipfel also gar keinen Einfluss mehr auf das Ergebnisdokument haben können. Diese »Politische Erklärung« wurde vielmehr bereits im Juni verhandelt. Ihr Inhalt ist für Expertinnen und Experten überwiegend enttäuschend. Sie wiederholt (immerhin) viele frühere Kompromissformeln – was, wie gesagt, nicht selbstverständlich ist –, jedoch sind diese nahezu sinnentleert. Jedes Land kann sie fast nach Belieben deuten. Dennoch muss es wohl als Erfolg gelten, dass die verhandelte Erklärung den Anspruch der 2030-Agenda aufrechterhält und die Staaten die drängende Notwendigkeit anerkennen, die 2030-Agenda entschiedener umzusetzen, auch durch konzertierte multilaterale Aktivitäten. Sogar einige neue thematische Akzente werden gesetzt, so zu Plastikmüll in den Meeren oder zur zunehmenden Bedeutung der Digitalisierung.
Im Gipfelprogramm folgt ein weiteres traditionelles Element: eine Stunde mit fünfminütigen Statements der wichtigsten Staatengruppen. Die Statements werden vorher in den Gruppen abgestimmt, also etwa innerhalb der EU, der G77 + China (Entwicklungs- und Schwellenländer), der Gruppe der am wenigsten entwickelten Länder (Least Developed Countries, LDCs) oder der auf kleinen Inseln gelegenen Entwicklungsländer (Small Island Developing States, SIDS). Das entspricht der üblichen Arbeitsweise der UN als intergouvernementales Forum. Zuhören lohnt sich, denn die Statements verdeutlichen für gewöhnlich die typischen Konfliktlinien zwischen den Staatengruppen: beispielsweise zu Fragen der nationalen Souveränität bei der Ausbeutung heimischer Ressourcen, zum Prinzip der gemeinsamen, aber unterschiedlichen Verantwortung von UN-Mitgliedstaaten, mit Auswirkung etwa auf die Beiträge zur Finanzierung der Klima- und Nachhaltigkeitspolitik.
Innovativer ist der nächste Programmpunkt: die sogenannten »Leaders Dialogues«. Staats- und Regierungschefs konnten sich »bewerben«, sechs Themen zu diskutieren, die auf den Ergebnissen des »SDG Progress Report« und des GSDR basieren. Im ersten Dialog sollen Megatrends beleuchtet werden, die die Erreichung der SDGs beeinflussen. Im zweiten geht es um Ansatzpunkte (entry points), die Umsetzung zu beschleunigen. Die dritte Runde diskutiert Maßnahmen und Hebel (levers). Der vierte und fünfte Dialog fokussiert auf nichtstaatliche Beiträge, konkret auf lokaler Ebene und durch »Multi-Stakeholder«-Partnerschaften. Die letzte Runde blickt nach vorn und debattiert Visionen für den Zeitraum 2020–2030, vor allem für die zwanzig Unterziele der SDGs, deren Zieljahr bislang noch 2020 ist. Pro Dialog sprechen zwölf Staatenlenkerinnen und ‑lenker je drei Minuten, gefolgt von je einem Vertreter oder einer Vertreterin einer internationalen Organisation und einer der bei den UN registrierten gesellschaftlichen Gruppen (den sogenannten Major Groups and other Stakeholders).
Es wird interessant sein zu sehen, ob und wie auf diese Weise hochrangige politische Impulse generiert werden können. Eine besondere Herausforderung ist der »Drei-Minuten-Challenge«. In der Vergangenheit ist es hochrangigen Politikerinnen und Politikern nur selten gelungen, relevante Botschaften sofort auf den Punkt zu bringen und sie dabei so glaubwürdig unterlegt und engagiert vorzutragen, dass sie politische Wirkung zu entfalten vermochten.
Im Anschluss folgen nochmals Statements der Staatengruppen – im schlechtesten Fall verpufft der Effekt der Impulse vonseiten der Staats- und Regierungschefs bereits beim Verlesen dieser vorab abgestimmten Beiträge.
Die UN bemühen sich darüber hinaus, mit stärker emotional-appellativen Botschaften zu arbeiten. So sollen zwischen den Podien Videos gezeigt werden, die den bisher benachteiligten Gruppen eine Stimme verleihen – getreu dem Prinzip der 2030-Agenda »Leaving no one behind«. Die acht Videos handeln von Frauen und Mädchen, Jugendlichen, Kindern, Flüchtlingen und Migranten, Personen mit Behinderungen, älteren Menschen, Personen, die mit HIV leben, sowie indigenen Völkern.
Im Schluss-Segment des SDG-Gipfels präsentieren die Stellvertretende UN-Generalsekretärin, Amina J. Mohammed, und der Präsident der Generalversammlung Kernbotschaften und Ergebnisse des Gipfels. Beide wollen eine »Decade of Action and Delivery« (2020–2030) einleiten – so auch der Titel und Impetus des Abschlussdokuments.
Freiwillige vor!
Wenn völkerrechtlich bindende Vereinbarungen samt verbindlichen Finanzierungszusagen nicht zu erwarten sind, greifen die UN gerne auf freiwillige Initiativen von Regierungen und von nichtstaatlichen Akteuren zurück. Beim SDG-Gipfel heißen sie »Voluntary SDG Acceleration Actions«. Beim Klimagipfel sind es »Transformational Initiatives« in neun Politikbereichen. Das Zitat des UN-Generalsekretärs dazu: »I am asking leaders to come to the September summits not with beautiful speeches, but with concrete actions, plans and commitments to accelerate the implementation of the 2030 Agenda and the Paris Agreement on climate change« (A. Guterres). Diese Vorgehensweise entspricht dem »bottom-up«-Ansatz sowohl des Pariser Klimaabkommens wie auch der SDGs: Konsens konnte im Rahmen der UN-Verhandlungen zwar über globale Ziele, nicht aber über deren nationale Umsetzung erzielt werden; folglich sind alle Länder aufgerufen, ihre dahingehenden Pläne und Aktionen freiwillig bei den UN vorzustellen. Auf nationaler Ebene können diese übrigens durchaus rechtlich bindender Natur sein.
In Ländern, in denen die Zentralregierung wenig proaktiv ist, finden sich oft auf Ebene der Bundesstaaten oder Städte Verbündete, die sich für Klimaschutz und nachhaltige Entwicklung engagieren wollen. Daher veranstaltet die UN parallel zum SDG-Gipfel ein »Local and Regional Governments Forum«. Viele lokale Akteure fordern die Ausweitung ihrer Kompetenzen und Budgets, um überhaupt in der Lage zu sein, die Ziele vor Ort zu realisieren.
Die UN setzt auch auf die Wirtschaft und private Investoren. In Kooperation mit der Internationalen Handelskammer und dem UN Global Compact lädt das UN-Department für Wirtschaftliche und Soziale Angelegenheiten (UN Department of Economic and Social Affairs, UNDESA) zum »SDG Business Forum«. Dort werden Unternehmer ihre Aktivitäten zur Umsetzung der SDGs präsentieren. Und sie werden Regierungen vermutlich auffordern, für zuverlässige politische Rahmensetzungen zu sorgen, an denen sie ihre langfristigen Investitionen ausrichten können. Der UN-Generalsekretär wird auch die »Global Investors for Sustainable Development Alliance« (GISD) offiziell vorstellen. CEOs von Banken und Unternehmen sollen langfristige Investitionen für Nachhaltigkeitsprojekte zusagen.
Die UN versuchen sich also ebenfalls als Broker und Vermittler für Koalitionen der Willigen. Das Problem in der Vergangenheit: Weder gaben die UN klare Kriterien für die unverbindlichen Versprechen vor, noch wurden Letztere überzeugend nachgehalten, also überprüft oder eingefordert, gar mit der Androhung von Sanktionen. Den UN fehlt sowohl das Mandat als auch die Manpower dafür. Und so wurde oft nur ein Bruchteil der früheren Ankündigungen tatsächlich eingehalten. Die Kriterien sind diesmal abermals butterweich und das »Follow-up« unklar. Für den Klimagipfel sollen die staatlichen Selbstverpflichtungen immerhin über die bisherigen nationalen Selbstverpflichtungen (Nationally Determined Contributions, NDCs) hinausweisen und im Kontext der zukünftigen Vertragsstaatenkonferenzen zur Klimarahmenkonvention weiterverfolgt werden. Auch für den SDG-Gipfel sollte so ein »Deutlich-mehr-als-bisher«-Minimalkriterium gelten. Die Präsidentin der Generalversammlung spricht in ihrer Planung zum SDG-Gipfel von der 2030-Agenda als »humanity’s survival kit«. Wenn diese Erste-Hilfe-Box nach dem Gipfel nur ein paar warme Worte und freiwillig gespendete Pflaster enthält, hat der Patient schlechte Chancen.
Die Zivilgesellschaft co‑organisiert am ersten Tag des SDG-Gipfels ein dreistündiges »Civil Society SDG Forum« mit einer Reihe von Paneldiskussionen. Die Panelisten wollen vor allem die systemischen Probleme betrachten, die die Umsetzung der SDGs verhindern oder verlangsamen, und auf dieser Basis Vorschläge für notwendige Änderungen machen. Ein besonderer Fokus liegt auf den institutionellen Arrangements auf globaler und regionaler Ebene, insbesondere beim jährlichen HLPF. So wollen die Nichtregierungsorganisationen (NROs) auch ihre Vorstellungen und Forderungen zur anstehenden Reform des HLPF darstellen. Darüber hinaus laden die UN während der gesamten Gipfelreihe ausgewählte nichtstaatliche Akteure ein, ihre Aktivitäten im Rahmen einer »SDG Action Zone« in einem Zelt auf dem Rasen vor dem UN-Hauptquartier zu zeigen. Einerseits kann man diese Einbindung nichtstaatlicher Akteure als Fortschritt sehen, denn die Regularien der Generalversammlung sehen kein Recht auf zivilgesellschaftliche Beteiligung vor. Andererseits hat man 2013 vereinbart, dass sich das HLPF durch breite zivilgesellschaftliche Einbindung auszeichnen solle. Da ist es nicht hilfreich, wenn bis kurz vor dem Gipfel die Teilnahmebedingungen für die Registrierung von NROs nicht geklärt waren und weder das Programm für das Forum noch das für die Action Zone vorlagen.
Parallel zu den Gipfeln will die Zivilgesellschaft Druck ausüben: Fridays for Future und viele NROs rufen zu einer Aktionswoche auf, eingerahmt von einem gesamtgesellschaftlichen Klimastreik (20.9.) und dem Earth Strike (27.9.). Warnstreiks galten bislang hauptsächlich der Durchsetzung ökonomischer und sozialer Ziele. Nun kommen, ganz im Sinne der drei Dimensionen der Nachhaltigkeit, ökologische Ziele hinzu. Der öffentliche Druck könnte helfen – zumindest was das Interesse der Weltpresse angeht. In einer »SDG Media Zone« bringen die UN Medienpartner, Entscheidungsträger, Influencer und Aktivisten zusammen.
Sollte es den UN nicht gelingen, mit Hilfe des gewählten Gipfelformats die anvisierte hochrangige politische Orientierung und Einsatzbereitschaft zu mobilisieren, sollten die Mitgliedstaaten das in ihren Beratungen über notwendige UN-Reformen berücksichtigen.
Taten für Transformation
Geht es nach dem Programm, so spricht die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel am ersten Tag des SDG-Gipfels für drei Minuten im Plenum. Es bleibt spannend zu erfahren, welche Botschaften und Zusagen sie mitbringen wird. Eigentlich wäre eine transparente öffentliche Debatte über die Botschaft und die »pledges« der Bundesregierung angemessen. Wahrscheinlich wartet die Regierung unter anderem auf die Entscheidungen des Klimakabinetts am 20. September.
Zu hoffen ist, dass nicht allein die Ressort-Logik greift – also Bundesumweltministerin Svenja Schulze den Klimagipfel besucht und danach zusammen mit Bundesentwicklungsminister Gerd Müller den SDG‑Gipfel, während Bundesgesundheitsminister Jens Spahn am Gesundheitsgipfel teilnimmt und Bundesaußenminister Heiko Maas bei der Eröffnung der Generalversammlung spricht. Ist es doch gerade eine zentrale Botschaft der 2030-Agenda, dass rein sektorale Maßnahmen keine sinnvolle Lösung für die komplexen Probleme in unseren vernetzten Systemen bilden. Vielmehr bedarf die notwendige »Transformation« einer kohärenten Politikstrategie – und die muss Chefinnen-Sache sein und Aufgabe aller relevanten Ressorts. Dies hat jüngst der Prüfbericht des Bundesrechnungshofs zur nationalen Umsetzung der SDG bekräftigt. Da wäre es ein starkes Signal, die Sitzung des Bundeskabinetts am Mittwoch (25.9.) zu nutzen, um vor dem Hintergrund des SDG-Gipfels übergreifende transformative Maßnahmen zu besprechen. Die Beschlüsse des Klimakabinetts werden dafür wichtige Bausteine liefern, weitere sollten folgen.
Um international überzeugen zu können, müsste die Bundesregierung auf nationaler Ebene ihre Hausaufgaben erledigen und auch auf europäischer Ebene entschiedener agieren. Der Ende 2018 erschienene Indikatorenbericht zur Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie zeigt, dass Deutschland bislang bei der Mehrheit der 67 Indikatoren keineswegs auf der Erfolgsspur ist. Das bedeutet, bei Fortsetzung der Entwicklung wird Deutschland nach aktueller Einschätzung den Zielwert bei nur 24 Indikatoren erreichen oder um weniger als 5 % verfehlen. Dabei sollten das doch die strategischen Schlüsselindikatoren sein, die Deutschlands Transformation in Richtung Nachhaltigkeit aufzeigen. Um die vielen anderen Politikbereiche der 2030-Agenda, die bis heute gar nicht in dieser Strategie erfasst und daher kaum systematisch nachgehalten werden, wird es vermutlich nicht besser bestellt sein. Das gilt gerade auch für internationale Effekte deutschen Handelns, etwa über Lieferketten, Im- und Exporte.
Die Indikatoren der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie, bei denen Deutschland »off-track« ist, liegen unter anderem im Bereich Klimaschutz, Energieverbrauch, Mobilität, Artenvielfalt, Landwirtschaft und Gewässer-, Landschafts- und Meeresschutz sowie nachhaltiger Konsum und Produktion. Die Bundesregierung will ihre Nachhaltigkeitsstrategie 2020 weiterentwickeln. Sie sollte dringend Korrekturschleifen einbauen, wenn die Zielerreichung absehbar gefährdet ist, mit der Verpflichtung, Maßnahmen auf Bundes-, Länder- oder Kommunalebene rechtzeitig nachzujustieren. Neben den bisher vorwiegend präferierten freiwilligen Maßnahmen und Anreizen könnte die Bundesregierung spätestens dann zu einem Mix greifen, der auch ordnungsrechtliche Maßnahmen beinhaltet. Hilfreich wäre zudem, wenn die Strategie im Falle von Zielkonflikten klarere Entscheidungshilfen geben würde, etwa für Gesetzgebungsprozesse oder Investitionsentscheidungen. So könnten etwa langfristigere Wirkungen stärker berücksichtigt werden. Zur Orientierung wäre außerdem ein neuer Indikator zur Wohlstandsmessung nützlich (jenseits des Bruttoinlandsproduktes). All dies würde helfen, konkrete Orientierung zur Umsetzung zu geben – also das, was auch der SDG-Gipfel leisten soll.
Die 2030-Agenda fordert die Regierungen überdies dazu auf, gesellschaftliche Akzeptanz für die schwierigen Transformationsprozesse zu schaffen, die auch Verlierer hervorbringen werden. Dafür müsste die Bundesregierung zum einen die gesamtgesellschaftlichen Kosten nichtnachhaltigen Handelns öffentlich besser vermitteln. Zum anderen muss die konkrete Umsetzung dieser Prozesse partizipativ entwickelt und fair ausgestaltet werden, so wie bereits ansatzweise über die Kohlekommission versucht. Das entsprechende Stichwort »just transition« greift das Papier der designierten Präsidentin der EU-Kommission Ursula von der Leyen ebenfalls auf. Mit der Ankündigung eines »European Green Deal« hat sie Erwartungen geweckt; binnen 100 Tagen nach Amtsantritt soll ein ausgearbeiteter Vorschlag vorliegen. Weiterhin will sie das Europäische Semester als das zentrale Instrument der wirtschafts- und währungspolitischen EU-Koordinierung an den SDGs neu ausrichten. Es wäre auch an der Zeit, die lang geplante Neuauflage der EU-Nachhaltigkeitsstrategie zu erarbeiten. Diese könnte eine geeignete Basis für die Beiträge der EU zu zukünftigen SDG-Gipfeln schaffen – vage Aussagen, wie sie sich etwa in den Beratungsergebnissen des Rats der EU zu den Prioritäten für die 74. Generalversammlung der UN finden lassen, sind jedenfalls nicht zielführend.
Multilaterale Allianzen rund um Ziele und Maßnahmen
Die internationale Nachfrage nach Modellen und konkreten Maßnahmen, die Wohlstand mit sozialer und ökologischer Nachhaltigkeit verbinden, ist groß. Als hochentwickeltes Industrieland sollte Deutschland überzeugend demonstrieren können, wie eine ökologisch tragfähige, ökonomisch solide und gleichzeitig sozial abgesicherte Transformation hin zu einem attraktiven nachhaltigen Wirtschafts-, Politik- und Lebensmodell aussieht. Das hätte Potential, weltweit zum Umdenken und ‑lenken anzuregen. Die internationalen Erwartungen an »Sustainability made in Germany« sind hoch – diese Chance sollte sich die Bundesregierung nicht entgehen lassen.
Zudem wird immer wieder das Argument bemüht, dass viele der genannten Herausforderungen kollektive Aktionen und regionale oder gar globale Rahmensetzungen verlangen. UN-Gipfel schaffen hier ein Gelegenheitsfenster: Nicht nur befördern sich im Bestfall internationale Gipfel und nationale Anstrengungen gegenseitig – schließlich will man auf der internationalen Bühne glänzen. Im Umfeld solcher Gipfel ist es auch besonders gut möglich, Koalitionen der Willigen zu schmieden. Folglich wäre es ratsam, wenn die Bundesregierung nicht allein auf die Themen des Sicherheitsrats setzen würde, wenn sie ihre »Allianz für den Multilateralismus« vorantreibt und dafür Koalitionen rund um ausgewählte Inhalte bildet. Die 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung bieten hinreichend Material für gemeinsame Aktivitäten. Die Themen Klimaschutz und CO2-Minderung sind ein wichtiger Anfang. Vorreiterländer müssen dafür jedoch nicht nur neue Wege in der Energiepolitik suchen, sondern auch im Bereich Mobilität, in der Landwirtschaft, beim Bauen, bei Produktion und Konsum – und wie Studien zeigen, müssen das mehr als ein paar Einzelmaßnahmen sein. Die Rahmenbedingungen müssen ebenfalls stimmen, beispielsweise im Hinblick auf Bildung und Infrastruktur, Frieden und gute Regierungsführung. Und so können die 17 SDGs auch als eine Art Ziel-Katalog zur Operationalisierung eines breit angelegten Klimaschutzes interpretiert werden.
Die Verknüpfung mit den 2015 im Konsens vereinbarten SDGs hat weitere Vorteile. Generell kann eine der wichtigsten Aufgaben der UN positiv hervorgehoben werden: die als legitim empfundene Setzung globaler Normen. Da alle Mitgliedstaaten die 2030-Agenda samt den 17 Zielen verabschiedet haben, lässt sich der Vorwurf eines westlich-neokolonialen Interventionismus besser zurückweisen. Mit Bezug auf die geteilten Ziele wäre das Argument überzeugender zu nutzen, multilaterales Handeln liege im wohlverstandenen nationalen Eigeninteresse der Staaten. Zu diesem gemeinsamen Zielpaket gehören allerdings auch SDG 16 (Frieden, Gerechtigkeit und starke Institutionen) und 17 (Partnerschaften zur Erreichung der Ziele) – mit Unterzielen, die sich direkt auf die multilaterale Zusammenarbeit beziehen. Daher sollte die Bundesregierung nicht vernachlässigen, dass in multilateralen Institutionen Doppelstandards abgebaut, Stimmrechte reformiert und finanzielle Verpflichtungen eingehalten werden müssen. Sonst wird es schwer, Allianzpartner zu gewinnen.
Ob nun also der SDG-Gipfel ein weltweit gehörtes und ernst genommenes Signal zur Transformation im Sinne der 2030-Agenda geben kann, bleibt eben nicht abzuwarten – vielmehr ist ein glaubwürdiges proaktives Engagement auf höchster Ebene notwendig.
Dr. Marianne Beisheim ist Wissenschaftlerin in der Forschungsgruppe Globale Fragen.
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doi: 10.18449/2019A49