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Türkei-Russland-Partnerschaft im Krieg um Bergkarabach

Militarisierte Friedensstiftung mit Folgen für die Konflikttransformation

SWP-Aktuell 2020/A 88, 03.11.2020, 4 Pages

doi:10.18449/2020A88

Research Areas

Mit ihrer Einmischung auf Seiten Aserbaidschans im Konflikt um Bergkarabach ver­folgt die Türkei in erster Linie das Ziel, den gegenwärtigen Status quo des Gebiets in Frage zu stellen. Ankara will sich vor allem einen Platz an dem Tisch sichern, an dem künftig über eine Lösung des Konflikts zwischen Armenien und Aserbaidschan ver­han­delt wird. Als Beispiel soll das syrische Szenario dienen. Auch im Südkaukasus möchte die Türkei mit Russland verhandeln, vorzugsweise ohne westliche Beteiligte. Die Pläne Ankaras sind für Moskau nicht un­interessant. Wegen der Gereiztheit der türkisch-armenischen Beziehungen besteht jedoch die Gefahr, dass nicht mehr Armenien und Aserbaidschan, sondern Armenien und die Türkei zu den eigentlichen Kontrahenten in diesem Konflikt werden. Das Engagement der EU sollte nicht von ihrem angespann­ten Verhältnis zur Türkei bestimmt werden, sondern von den Resolutionen des UN-Sicherheitsrats zu Bergkarabach.

»Es ist Zeit zu zahlen«. Mit diesen Worten stellte sich der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan direkt nach dem Start der militärischen Eskalation am 27. September 2020 hinter die Forderung Aserbaidschans an Armenien, die von armenischen Trup­pen besetzten aserbaidschanischen Gebiete sowie Bergkarabach zu räumen. Später kri­tisierte Erdoğan vehement die USA, Frank­reich und Russland, die als Vorsitzende der OSZE-Minsk-Gruppe in dem Konflikt ver­mit­teln. Aus Sicht Aserbai­dschans und der Türkei ist dieses Format weder neutral noch effizient, da es seit dreißig Jahren keine Lösung gefunden habe. Die Türkei steht ausdrücklich auf der Seite Aserbaidschans und ist nach eigenem Bekunden inzwischen bereit, Baku »sowohl auf dem Feld als auch am Verhandlungstisch« uneingeschränkt zu unterstützen. Sie hat zugleich mehrfach ihr Interesse betont, diesen Konflikt zusammen mit Russland zu lösen.

Doch die ersten Konsultationen haben am 9. Oktober in Moskau ohne Ankara statt­gefunden. Die Außenminister Armeniens und Aserbaidschans trafen sich allein mit ihrem russischen Amtskollegen. Am Tag zuvor hatte Präsident Wladimir Putin beide Seiten aufgerufen, die Waffen aus humanitären Gründen ruhen zu lassen. Der in Moskau vereinbarte Waffenstillstand wurde jedoch nicht eingehalten. Die Botschaft an Ankara war freilich klar: Die Beteiligten waren sich einig, das Verhandlungsformat der Minsk-Gruppe beizubehalten.

Auf Initiative des türkischen Präsidenten telefonierten Putin und Erdoğan am 14. Okto­ber zum ersten Mal nach der Eska­lation zwischen Aserbaidschan und Arme­nien. Putin äußerte bei dieser Gelegenheit die Hoffnung, dass »die Türkei als Mitglied der OSZE-Minsk-Gruppe einen konstruktiven Beitrag zur Deeskalation des Konflikts leisten wird«. Ankara stützt seine Erwartung, an der Überwindung der Konfronta­tion in führender Rolle beteiligt zu werden, aber nicht nur auf seine Rolle als Mitglied der Minsk-Gruppe, sondern auch auf seine be­sonderen Be­ziehungen zu Moskau. Kommt es zur Zu­sammen­arbeit zwischen Russland und der Türkei im Südkaukasus, so wie die türki­sche Seite es sich vorstellt?

Interessenlage der Türkei

Die Ziele der Türkei im Bergkarabach-Kon­flikt sind zweifach: Zum einen will sie mit ihrer Unterstützung Aserbaidschans ein Gegengewicht zu den Unterstützern Arme­niens bilden. Aus ihrer Sicht sind dies die drei Vorsitzenden der Minsk-Gruppe, die USA, Frankreich und Russland. Zum ande­ren will die Türkei mit einer Betei­ligung am Verhandlungsprozess ihren Status als Regionalmacht festigen.

Dass Ankara zum engsten Alliierten Bakus wurde, ist stark auf dessen Be­mühun­gen zurückzuführen. Das in der Türkei heute oft zitierte Wort in Bezug auf Aser­baidschan, »eine Nation, zwei Staaten«, wurde vom ehemaligen aserbaidschanischen Präsidenten Heydar Aliyev in den 1990er Jahren geprägt. Nach der Loslösung von der Sowjetunion konnte Aserbaidschan nicht nur bei der Integration in die inter­natio­nalen Organisationen auf die Unter­stützung der Türkei rechnen, sondern auch beim Auf­bau eigener Streitkräfte nach dem ersten Krieg um Bergkarabach. Den recht­lichen Rahmen für ein militärisches Engage­ment der Türkei im aktuellen Konflikt um Bergkarabach bildet der Vertrag über stra­tegische Partnerschaft und gegenseitige Hilfe, den Ankara und Baku 2010 geschlossen haben. Neben gemeinsamen Militär­übungen sieht der Vertrag vor, dass sich die Unterzeichner im Fall einer »Aggression« durch einen Dritten »mit allen möglichen Mitteln« gegenseitig helfen. Anstoß für die Vertiefung der Zusammenarbeit zwischen Ankara und Baku im militärischen Bereich waren ähnliche Vereinbarungen zwischen Russland und Armenien. Schon 2010 wurde der Abschluss des Partnerschaftsvertrags zwischen Ankara und Baku als Zeichen der Unzufriedenheit Aserbaidschans mit der Minsk-Gruppe gewertet.

Während Baku mit Hilfe Ankaras den Status quo im Konflikt mit Armenien zu ändern sucht, gehen die Ambitionen der Türkei über Bergkarabach hinaus. Im März 2020 erklärte der türkische Verteidigungsminister Hulusi Akar den Anspruch seines Landes auf Mitsprache im Nahen Osten, im Kaukasus, im östlichen Mittelmeerraum, auf dem Balkan und in der Ägäis. Unter der Führung Erdoğans, so Akar, sei die Türkei zu einem »Subjekt in der internationalen Arena« geworden. Auch im Südkaukasus geht es Erdoğan darum, der Türkei den »verdienten Platz in der Weltordnung« neben den USA und Russland zu sichern.

Russlands Einflusszone gefährdet

Auf den ersten Blick stellt das türkische En­gagement auf Seiten Aserbaidschans eine unerwartete Herausforderung für Moskau dar. Zum einem betrachtet Russland die gesamte Region Südkaukasus als seine ex­klusive Ein­flusszone. Die Einmischung externer Ak­teure in dieses Gebiet ist für den Kreml nicht akzeptabel. Das gilt umso mehr, als es sich bei dem externen Akteur um ein Nato-Mitglied handelt, das beabsichtigt, einen Militärstützpunkt in Russlands un­mit­tel­barer Nachbarschaft zu etablieren. Zum ande­ren ist Russland nicht an einer Ver­schlechterung seiner Beziehungen mit allen Beteiligten – Armenien, Aserbaidschan und der Türkei – interessiert.

Armenien gilt über seine Mitgliedschaft in der Organisation des Vertrags über kol­lektive Sicherheit (OVKS) als formaler Ver­bündeter Russlands. Im Fall einer militä­rischen Auseinandersetzung, die das Terri­torium Armeniens betreffen würde, wäre Russland verpflichtet, die OVKS einzuschal­ten. Für Moskau hieße dies, dass es sich auf die Seite Armeniens zu schlagen und sich gegen Aserbaidschan und damit auch gegen das Nato-Mitglied Türkei zu stellen hätte. Arme­nien ganz im Stich zu lassen kann sich Russland nicht leisten. Das kleine Land ist im Südkaukasus ein wichtiger Teil der Integrationsprojekte Moskaus. Dazu gehört neben der OVKS noch die Eurasische Wirt­schaftsunion. Nicht zuletzt unterhält Russ­land auch einen Militärstützpunkt in der armenischen Stadt Gjumri.

Aserbaidschan beteiligt sich zwar nicht an den russischen Kooperationsinitiativen, es ist für Moskau jedoch gleichwohl ein strategischer Partner. Mehr noch, für den Kreml ist Aserbaidschan ein Vorbild dafür, wie die von vielen postsowjetischen Staaten an­gestrebte Multivektorenpolitik ohne Beeinträchtigung Russlands funktionieren kann. Mit anderen Worten, das Streben der postsowjetischen Staaten nach einer un­abhängigen Außenpolitik muss – wie das Beispiel Baku zeigt – nicht unbedingt in einer antirussischen Positionierung enden, wie dies etwa in Georgien und der Ukraine der Fall ist.

Das Risiko, das von dem gegenwärtigen Konflikt für Russland ausgeht, besteht auch in der Destabilisierung der Region mit gra­vierenden Auswirkungen auf den Nord­kaukasus. Der Kreml ist besonders über die Präsenz aus­wärtiger Söldner im Südkaukasus beunruhigt. Berichten zufolge sind dort Kombattanten »internationaler Terror­organisationen eingesickert, die im Nahen Osten kämpfen, insbesondere von ›Jabhat al-Nusra‹, ›Firqat Hamza‹, ›Sultan Murad‹ und extremistischer kurdischer Gruppen«. So gefährdet die schleichende Ausweitung des Konflikts zwischen Armenien und Aser­baidschan nicht nur die Einflusszone Russ­lands, son­dern auch dessen eigene Sicher­heit im Nordkaukasus.

Aussichten der Türkei-Russland-Zusammenarbeit im Südkaukasus

Mit dem Bestreben Ankaras, in dem Konflikt um Bergkarabach mitzumischen, ist die Lage für Russland schwierig geworden. Nichtsdesto­trotz konvergieren die Interessen Mos­kaus und Ankaras auf mehreren Feldern, was auf eine Zusammenarbeit hindeuten könnte. So kooperiert Moskau in Syrien eng mit Ankara. Beiden ist daran gelegen, ein regiona­les Konfliktmanagement unter Aus­schluss der westlichen Akteure zu betreiben. Und nicht zuletzt ist das Verhältnis des Kreml zur derzeitigen Regierung Armeniens unter Premierminister Nikol Paschinjan angespannt.

Welche Gründe Moskau zu seiner nachsichtigen Haltung gegenüber der Türkei bewegen, die sich immerhin in Russ­lands Einflusszone einmischt, hat der mutmaß­liche Inhaber des privaten Militärunterneh­mens Wagner, Jewgeni Prigoschin, erläutert. In einem Interview kritisierte Prigoschin den armenischen Pre­mierminister Paschinjan, der 2018 infolge von Protesten an die Macht gekommen ist. Aus Sicht Russlands sei dieser Regimewechsel das Resultat einer vom Westen gesteuerten Farbenrevolution gewesen, mit der Russlands Einfluss in Armenien unterminiert werden sollte. Mos­kau habe so lange die Regie über die Ver­handlungen zwischen Aserbaidschan und Armenien gehabt, bis Paschinjan ab 2018 eine 180-Grad-Wende hin zu den USA voll­zogen habe. Was die Türkei angehe, so habe diese »jedes Recht, in den Karabach-Konflikt einzugreifen, solange die Grenzen Arme­niens dabei nicht überschritten werden«. Folgt man dieser Deutung, dann ist für den Kreml im Hinblick auf Armenien und Aser­baidschan die Frage entscheidend, wie freundlich die jeweilige Regierung gegen­über Moskau ist. Damit Russland seine Einflusszone Südkaukasus bewahren kann, braucht es in Jerewan eine Regierung, die sich als Protegé Moskaus sieht. Denn Loyali­tät ist für Putin nicht nur im Inland wichtig sondern auch im »nahen« Ausland. Deshalb kann Russland mit dem »hard power«-An­satz Erdoğans gegenüber Armenien gut leben. Die Einmischung Ankaras ist für den Kreml eine Art Hilfsmittel, um den seit 2018 verlorenen Einfluss in Armenien zu­rückzugewinnen. Zugleich hat Russland der Türkei aber eine rote Linie gezogen, näm­lich das armenische Territorium.

Des Weiteren entbehrt das türkische Kal­kül, das Syrien-Szenario auf den Südkaukasus zu übertragen, nicht einer gewissen Logik für Russland. Dabei geht es nicht nur um die Quasi-Übertragung des Astana-For­mats von Syrien auf Bergkara­bach, sondern auch um die Anerkennung der Tatsache, dass die Zusammenarbeit in Syrien für beide Länder zu wichtig ist, um sie aufs Spiel zu setzen. Ungeachtet der konträren Positionen bindet der Faktor Syrien die Türkei und Russland aneinander. Moskaus Anliegen ist es, einem Regimewechsel sowohl in Syrien als auch in Russland selbst entgegenzuwir­ken. Die Türkei wiederum will mit den mili­tärischen Operationen in Syrien die Ent­stehung eines kurdischen Staates an ihrer Grenze verhindern. Damit berührt die Koope­ration in Syrien die sensibelsten Kern­themen beider Staaten. Es geht ums Über­leben. Und nicht zuletzt kontrolliert Ankara jene Meerengen, die einen wichtigen Zu­gang Russlands nach Syrien bilden.

Die Ergebnisse der Türkei-Russland-Part­nerschaft in Syrien lassen sich bereits in Libyen beobachten. Ein Hauptmerkmal dieser Kooperation ist die Präferenz für bi­laterale Koordinierung ohne westliche Staa­ten. Sowohl Russland als auch die Türkei befinden sich auf einem Kurs der beschleu­nigten Entfremdung vom Westen. Die Türkei ist für den Kreml zwar kein »strategischer Verbündeter«, aber doch ein »sehr enger Partner«. Wenn also Russland vor die Wahl gestellt wird, die USA von lokalen Konflikten auszuschließen oder die Türkei als regio­nale Macht zu stärken, wäre die letztere Op­tion für den Kreml das geringere Übel. Wie schnell sich Moskau und Ankara im Süd­kaukasus verständigen können, hängt auch davon ab, wie erfolgreich Armeniens Mobi­lisierungs­strategie im Westen sein wird.

Risiken der »Neo-Osmanisierung« des Konflikts um Bergkarabach

Dass der türkische Präsident auf Einladung seines armenischen Amtskollegen nach Jere­wan reist, um dort zusammen das Fuß­ball-WM-Qualifikationsspiel der beiden National­teams anzuschauen, wie es 2008 der Fall war, ist derzeit kaum vorstellbar. Heut­zutage spricht der armenische Premier­minister Paschinjan von imperialistischen Ambitionen der Türkei, die über Syrien, den Irak, das Mittelmeer und Armenien bis nach Wien reichen würden. Das eigentliche Ziel der türkischen Expansion im Kaukasus sei »der Völkermord an den Armeniern«.

Mit der Einmischung der Türkei im Kon­flikt um Bergkarabach ist ohne Zweifel eine neue Dimension erreicht. Während Ankara sowohl 2000 als auch 2008 eine Art Stabili­tätsplattform im Südkaukasus initiierte, sind heute die Effekte einer allgemeinen Militarisierung der türkischen Außenpolitik auch in dieser Region zu spüren. In Europa ist von der Türkei nicht mehr als von einem schwierigen, sondern als von einem »be­drohlichen Partner« die Rede.

Nach Syrien und dem östlichen Mittelmeer ist jetzt auch Bergkarabach auf dem Weg, zu einem internationalisierten Kon­fliktgebiet zu werden, wo mehrere regio­nale und globale Rivalitäten ausgetragen werden. Es ist allerdings in erster Linie ein Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan. Es geht um den umstrittenen Status Bergkarabachs. Außerdem geht es um die sieben von Armenien besetzten Gebiete, deren Fläche mehr als zweimal so groß ist wie Bergkarabach selbst. Dazu gibt es seit den 1990er Jahren Resolutionen des UN-Sicherheitsrats. Die EU sollte sich bei der eventuellen Mitwirkung an der Beilegung des Konflikts nicht von den angespannten Beziehungen zur Türkei beeinflussen las­sen, sondern sich allein an den völkerrechtlichen Vorgaben orientieren.

Daria Isachenko ist Wissenschaftlerin am Centrum für angewandte Türkeistudien (CATS).

Das Centrum für angewandte Türkeistudien (CATS) wird gefördert durch die Stiftung Mercator und das Auswärtige Amt.

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