In den politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen Südafrikas finden derzeit Erosionsprozesse statt. Sie sind das Resultat struktureller Veränderungen und parallel ablaufender Entwicklungen, die sich gegenseitig verstärken. Die Hoffnungen auf Einnahmen aus dem Tourismus in den Monaten November 2021 bis Februar 2022 haben sich zerschlagen, seitdem nach Entdeckung der Corona-Variante Omikron internationale Reisebeschränkungen erlassen worden sind. Hinzu kommt, dass die Spannungen innerhalb der Regierungspartei African National Congress (ANC) den Präsidenten Cyril Ramaphosa in seiner Handlungsfähigkeit einschränken. Allerdings sind langsame Fortschritte bei Reformen und positive Tendenzen einer Weiterentwicklung jenseits des dominierenden ANC erkennbar. So hat sich das Parteiensystem nach den Kommunalwahlen im Anfang November zusehends ausdifferenziert. Deutschland und die EU können positive Entwicklungen durch gut ausgerichtete und sensible Hilfe unterstützen, müssen dabei aber stets insbesondere sozioökonomische Faktoren im Blick behalten.
Noch kurz bevor die Entdeckung der neuen Virusmutation die Diskussion in den Medien Südafrikas bestimmte, standen die Ergebnisse der Lokalwahlen am 1. November 2021 im Fokus. Zum ersten Mal in der Geschichte des demokratischen Südafrikas fiel die bis dahin dominierende Partei, der African National Congress (ANC), unter die Marke von 50 Prozent der aggregierten Stimmen und verlor in ehemaligen Hochburgen die Mehrheit. Nach über 25 Regierungsjahren und zahlreichen nicht eingehaltenen politischen Versprechen trauen viele Südafrikanerinnen und Südafrikaner der ehemaligen Befreiungsbewegung ANC nicht mehr zu, dass sie ihr proklamiertes Ziel erreichen können: die Verwirklichung von Demokratie und Wohlstand für die gesamte Bevölkerung – insbesondere für schwarze Südafrikanerinnen und Südafrikaner.
Neue Pfade im Parteiensystem
Auf den ersten Blick könnte man vermuten, dass die massiven Verluste des ANC die Chance auf einen Wettbewerb im südafrikanischen Parteiensystem eröffnen, das bislang vom ANC dominiert wurde. Doch gelang es bis jetzt keiner der Oppositionsparteien, mit Stimmenzuwächsen von den Verlusten des ANC zu profitieren und sich als dessen politische Alternative zu positionieren. Viele Wahlberechtigte registrierten sich erst gar nicht für die Wahl oder blieben ihr fern. Die größte Oppositionspartei Democratic Alliance (DA) erzielte schlechtere Ergebnisse als bei den Kommunalwahlen 2016 und kam auf knapp 22 Prozent der aggregierten Stimmen. Die Economic Freedom Fighters (EFF), die mit ihrer radikalen Rhetorik als klassische Protestpartei gelten, legten um 2 Prozentpunkte auf 10,3 Prozent zu – weniger, als manche erwartet hatten.
Erfolge konnten – regional verteilt – verschiedene kleinere Parteien verbuchen. Hierzu gehören die Inkatha Freedom Party (IFP), Freedom Front Plus (FF+) oder die neu gegründete Partei des ehemaligen Johannesburger Bürgermeisters und früheren DA-Mitglieds Herman Mashaba, ActionSA.
Bis zum 23. November hatten die Parteien Zeit, Koalitionen zu bilden. Damit hat Südafrika insofern neue Pfade beschritten, als nun Parteien miteinander sprechen oder gar kooperieren mussten, die bis dahin nur gegeneinander gearbeitet haben. Die große Überraschung der Lokalwahlen – die in Südafrika immer zeitgleich in allen neun Provinzen stattfinden – ist letztendlich nicht das Wahlergebnis, sondern die Tatsache, dass es dem ANC in vielen wichtigen Zentren nicht gelungen ist, Allianzen mit anderen, kleinen Parteien zu schmieden und sie als »Königsmacher« zu nutzen.
Der ANC konnte auf nationaler Ebene bis zur letzten Parlamentswahl 2019 fast zwei Drittel der Stimmen auf sich vereinen und auf Provinz- und lokaler Ebene meist alleine regieren. Im südafrikanischen Parteiensystem gibt es daher nur wenig Erfahrungen mit der Formierung von Koalitionen oder Unterstützungsvereinbarungen und der dafür erforderlichen Kompromissfähigkeit. Seit den Lokalwahlen 2016 werden auf lokaler Ebene lediglich vereinzelt Bündnisse erprobt.
Dass kleinere Parteien dem ANC ihre Unterstützung versagen, hat verschiedene Gründe. Zum einen zweifeln sie daran, dass ihnen die mächtige – und dabei häufig auch kompromissunwillige – Partei bei der Gestaltung südafrikanischer Politik ein hinreichendes Maß an Mitsprache zubilligt. Abschreckend wirken in diesem Zusammenhang viele publik gewordene Korruptionsskandale des ANC auf lokaler Ebene. Zum anderen ergaben sich in einigen zentralen Städten teilweise unerwartete Konstellationen, die wohl vor allem darauf abzielen, den ANC zu schwächen. In den Metropolen Johannesburg oder Ekurhuleni, etwa stimmte die linksradikale EFF, die sich unter anderem für entschädigungslose Enteignungen einsetzt, gemeinsam mit ActionSA für die Bürgermeisterkandidaten der liberal orientierten DA. Solche Allianzen sind möglicherweise nicht langfristig angelegt. Denn die Duldung durch andere Parteien bleibt ein wackeliges Konstrukt – insbesondere angesichts der Tatsache, dass 2024 die nächsten Parlaments- und Präsidentschaftswahlen anstehen und die Parteien spätestens Mitte 2023 wieder in den Wahlkampfmodus umschalten werden. Dennoch bietet ein solches Duldungsverhalten den Konkurrenten die Chance, den ANC durch das Aufbrechen der bisherigen Machtkonstellation auf lokaler Ebene auch langfristig zu schwächen.
Der ANC: so gespalten wie nie
Der ANC war bereits vor den jüngsten Wahlen intern in hohem Maße fragmentiert. Zwar kam es in der Geschichte der Partei immer wieder zu politischen Abspaltungen, wie zuletzt im Jahr 2013, nachdem der ehemalige Vorsitzende der ANC Youth League, Julius Malema, seinen Austritt erklärt und die EFF gegründet hatte. Doch werden die Konflikte innerhalb der Partei momentan sehr offen ausgetragen – und mit der Bereitschaft, politische Gewalt anzuwenden. Diese interne Spaltung schwächt nicht nur den innerparteilichen Zusammenhalt, sondern auch die Handlungsfähigkeit des amtierenden Präsidenten Cyril Ramaphosa.
Zwischen dem 9. und dem 18. Juli 2021 flammten in zwei Provinzen – Gauteng und KwaZulu-Natal – Proteste auf, die mit massiver Gewaltanwendung, der Zerstörung zentraler Infrastrukturen wie Fabriken oder Lagerhäusern und mit Plünderungen einhergingen. 342 Menschen kamen ums Leben, mehr als 3.400 Personen wurden im Zusammenhang mit den Unruhen verhaftet. Die dabei verursachten wirtschaftlichen Schäden schätzte die südafrikanische Regierung auf 35 bis 50 Milliarden Rand, umgerechnet etwa 1,9 bis 2,7 Milliarden Euro. Das ökonomisch ohnehin angeschlagene Land wird von diesen finanziellen Mehrbelastungen zusätzlich getroffen.
Die Unruhen eskalierten unmittelbar nach der Verhaftung des ehemaligen Präsidenten Jacob Zuma, der sich seit 2018 vor südafrikanischen Gerichten wegen »State Capture« verantworten muss, der Unterwanderung des Staates mit dem Ziel, sich persönlich zu bereichern. Zuma war im Februar 2018 nach einem angesetzten Misstrauensvotum des südafrikanischen Parlaments zurückgetreten und wird seitdem strafrechtlich verfolgt. Die südafrikanische Regierung setzte in diesem Kontext die sogenannte Zondo-Kommission ein – benannt nach ihrem Vorsitzenden Raymond Zondo –, deren Aufgabe es ist, die schweren Vorwürfe gegen Jacob Zuma aufzuarbeiten. Unmittelbarer Anlass seiner Verhaftung war Zumas wiederholte Weigerung, vor Gericht zu erscheinen. Er hatte immer wieder die Rechtmäßigkeit der Untersuchung und die Unabhängigkeit der Gerichte angezweifelt.
Die zeitgleich angestachelten Unruhen lassen eine gezielte politische Orchestrierung vermuten. Dabei könnte es darum gegangen sein, die strategischen Zentren zu blockieren und so die Wirtschaft des Landes zu schädigen. Besonders gravierend sind die Auswirkungen der gewaltsamen Proteste in KwaZulu-Natal, der Heimatprovinz Jacob Zumas, wo die Zerstörungen zentraler Infrastrukturknotenpunkte dazu führten, dass Lieferketten unterbrochen wurden und es zu wirtschaftlichen Ausfällen kam. Es ist mittlerweile durch verschiedene Berichte und Analysen belegt, dass Zuma-Anhänger Drahtzieher der Unruhen waren. Demnach wollten sie vor den Kommunalwahlen zur Destabilisierung der Lage in Südafrika beitragen und außerdem die amtierende Regierung und Präsident Cyril Ramaphosa schwächen, Jacob Zumas Widersacher im ANC.
Auch wenn Ramaphosa und seine Fraktion dabei nicht gestürzt wurden, haben die Ausschreitungen das Vertrauen der Bevölkerung in die Fähigkeit der amtierenden Regierung, Sicherheit zu gewährleisten, nachhaltig erschüttert. Die südafrikanischen Sicherheitskräfte bekamen die Unruhen zunächst nicht unter Kontrolle und wurden vielerorts regelrecht überrannt. Während der Zuma-Präsidentschaft ist ohnehin ein Teil der Sicherheitsbehörden durch Personen unterwandert worden, die von Beziehungen zu Zuma profitierten, was die Strafverfolgung zusätzlich schwächt.
Die Juli-Ereignisse haben die Hoffnungen stark gedämpft, dass Cyril Ramaphosa Erfolg haben kann mit seiner Strategie, mittels zivilrechtlicher Verfahren gegen Jacob Zuma und der damit verbundenen Aufarbeitung der »State Capture« den ANC zu reformieren. Das Netzwerk seiner Unterstützer im ANC und in anderen politischen Institutionen ist weiterhin stark. Nach wie vor gilt es als eher unwahrscheinlich, dass Ramaphosa eine Abspaltung von der Zuma-Fraktion innerhalb des ANC riskieren würde. Davon hält ihn die Angst zurück, politische Macht zu verlieren. Trotz der handfesten Skandale sichert das Netzwerk um Zuma dem ANC noch immer eine breite Basis von Unterstützern, insbesondere in der Provinz KwaZulu-Natal, wo Zuma nicht nur bedeutsame Verbindungen zu den Zulu-Gruppen unterhält, sondern sich auch stets volksnah inszenierte. Ungeachtet dessen erlitt der ANC auch in dieser Provinz bei den Kommunalwahlen herbe Verluste – ein klarer Hinweis darauf, dass auch hier die Basis langsam bröckelt.
Die Einschränkungen durch »Omikron« verstärken die sozioökonomische Ungleichheit
Ob die Menschen, die sich an den Juli-Unruhen beteiligten, aus hauptsächlich politischen Gründen den Ramaphosa-ANC schwächen und die Zuma-Netzwerke stärken wollten, ist eine Frage, die nicht nur die südafrikanischen Medien beschäftigte. Die meisten Beobachterinnen und Beobachter gehen mittlerweile davon aus, dass die Drahtzieher der Unruhen durchaus politische Motive hatten. Die Beteiligung derart vieler Menschen beruht aber vor allem auf der massiven Unzufriedenheit mit den sozioökomischen Verhältnissen. Den Drahtziehern gelang es folglich, große Teile der lokalen Bevölkerung zu instrumentalisieren, indem sie ihnen ein Ventil boten.
Südafrika, das bereits vor Ausbreitung der Covid-19-Pandemie in einer wirtschaftlichen Krise steckte, wurde 2020 mit am härtesten von der Pandemie getroffen. Die Regierung in Pretoria reagierte mit einem der im weltweiten Vergleich härtesten Lockdowns. Er traf vor allem Menschen in informellen oder prekären Beschäftigungsverhältnissen, die über keine oder nur geringe Ersparnisse verfügen und lockdown-bedingte Einkommenseinbrüche nicht kompensieren konnten. Zwischen Anfang 2019 und Ende 2021 ist die Arbeitslosenquote weiter angestiegen: Sie wuchs von 29,1 Prozent im vierten Quartal 2019 auf 34,4 Prozent im vierten Quartal 2021 – in die Statistik einbezogen werden dabei nur Menschen, die als beschäftigungsfähig gelten. Besonders stark betroffen sind junge Menschen: 63 Prozent der 15- bis 24-Jährigen sind ohne Arbeit.
Die soziale Ungleichheit hat sich im Zuge der Corona-Pandemie stärker ausgeprägt. Gleichzeitig stieg die Inflation, was die südafrikanische Regierung im September dazu veranlasste, die für die Definition von Nahrungsmittelunsicherheit geltende Berechnungsgrenze bei Monatseinkommen anzuheben – von 585 auf 624 Rand im Monat, also von knapp 32 auf knapp 34 Euro.
Die Regierung setzte als Gegenmittel auf Allianzen mit der Wirtschaft, beispielsweise im Bergbausektor, wo durch groß angelegte Impfaktionen und Änderungen von Erzeugungsbedingungen länger anhaltende Produktionseinbrüche vermieden werden konnten. Dennoch ließen sich die negativen wirtschaftlichen Folgen der Pandemie auf diese Weise nur bedingt abmildern. Seit 2020 stiegen die Preise für einige Rohstoffe auf den internationalen Märkten, was Südafrika höhere Einnahmen bescherte und es der Regierung ermöglichte, fiskalisch die schlimmsten Folgen abzufedern.
Das gesamte Land hatte nicht nur an die Öffnung nach der langen Phase der Lockdowns Hoffnungen geknüpft, dass die Wirtschaft im Oktober 2021 nach der dritten Corona-Welle langsam Fahrt aufnehmen würde. Auch mit dem Start der Tourismussaison im südafrikanischen Sommer (von November bis Februar) wurde eine Dynamisierung dieses Sektors erwartet, der für die Ökonomie des Landes zentrale Bedeutung hat. Nach Schätzungen aus der Zeit vor Corona (2018) hatte der Tourismussektor einen direkten Anteil am Bruttoinlandsprodukt von 2,9 Prozent und einen indirekten Anteil von 8,6 Prozent, außerdem war er für 8,2 Prozent der Investitionen verantwortlich.
Viele Länder – darunter Deutschland – hatten im September die Einstufung Südafrikas als Virusvariantengebiet zurückgenommen, nachdem die Delta-Mutante in Indien entdeckt worden war und die Corona-Fallzahlen in Südafrika im Oktober und November relativ niedrig waren. Nun sollten die Einnahmen aus dem Tourismus dazu beitragen, wenigstens einige Arbeitsplätze zu sichern. Die Ende November 2021 erfolgte Entdeckung einer neuen Corona-Variante, als »Omikron« bezeichnet, macht derlei Hoffnungen sehr wahrscheinlich zunichte. Großbritannien und Israel reagierten binnen eines Tages, nachdem Südafrika die Informationen über die neue Variante an die Weltgesundheitsorganisation (WHO) weitergeleitet hatte, und schränkten den Flugverkehr ein. Die EU zog daraufhin nach und empfahl Einreiseverbote, Deutschland stufte Südafrika einen Tag später als Virusvariantengebiet ein.
Die restriktiven Reisebeschränkungen kritisiert die südafrikanische Regierung, aber auch die Afrikanische Union (AU) und die WHO als vorschnell, zumal die Omikron-Variante auch in anderen Ländern der Welt aufgetreten ist und – wie inzwischen bekannt wurde – bereits in den Niederlanden aufgetaucht sein soll, bevor sie in Südafrika entdeckt wurde. Südafrika fühlt sich für sein schnelles Handeln und sein »Early Warning« bestraft, zumal zunächst keine hinreichenden Erkenntnisse darüber vorlagen, wie gefährlich die neue Virusvariante Omikron wirklich ist. Unabhängig davon, wie lange die Reisebeschränkungen aufrechterhalten werden, ist derzeit nicht damit zu rechnen, dass sich der südafrikanische Tourismussektor in der Saison 2021/2022 von den zu erwartenden Einbrüchen erholen wird.
Grassierende gesellschaftliche Unzufriedenheit
Land und Wirtschaft haben zusätzlich mit massiven Schwierigkeiten bei der Stromversorgung zu kämpfen, die mit der Krise des staatlichen Energieversorgers Eskom verbunden sind. Dessen Krise ist eine Folge von »State Capture« sowie Korruption und damit zusammenhängenden Fehlentscheidungen bei der Planung der Energieinfrastruktur Südafrikas, die noch immer vorrangig auf Kohleverstromung basiert. Ramaphosa hat im Januar 2020 mit André de Ruyter einen neuen CEO eingesetzt, der die Korruptionsbekämpfung bei Eskom voranbringt und auf transparentere Prozesse setzt. Außerdem steht de Ruyter einer Diversifizierung der Energieversorgung im Sinne einer Verringerung der großen Abhängigkeit von Kohle offener gegenüber als das vorherige Eskom-Management. Doch lassen sich die massiven Schwierigkeiten des Energieriesen so nur mittelfristig bewältigen.
Derzeit ist Eskom nicht in der Lage, die Grundlast im Land zu gewährleisten und den Strombedarf zu decken. Daher kommt es teilweise mehrfach am Tag zu Stromabschaltungen. Geplante Abschaltungen – »load shedding« genannt – werden der Bevölkerung frühzeitig angekündigt. Immer häufiger sind aber auch ungeplante, kurzfristige Stromausfälle.
Neben dem Stromsektor gelten auch andere Infrastrukturbereiche in Südafrika als dysfunktional, etwa die Wasserversorgung oder das Schienennetz. Im Zuge der Aufarbeitung der »State Capture« wird deutlich, dass die Schwierigkeiten bei der Bereitstellung funktionierender Infrastruktur maßgeblich auf Missmanagement und Korruption zurückzuführen sind. Zuma und sein breites Unterstützernetzwerk, dessen Mitglieder er auch aus dem ANC rekrutiert hat, haben Strukturen demokratischer Institutionen umgebaut, um Korruption zu verschleiern und Geld vom Staat abzuschöpfen. Die Verluste, die Südafrika alleine durch Allianzen Zumas mit den Unternehmerbrüdern Gupta erlitten hat, schätzte die Zondo-Kommission im Mai 2021 auf 50 Milliarden Rand, also 2,7 Milliarden Euro. Es sind diese Gelder, die heute in zentralen Infrastrukturbereichen des Landes fehlen, und dies wiederum hat unmittelbare Auswirkungen auf die Bevölkerung – deren nachvollziehbare Unzufriedenheit insofern weiter wächst.
Die Tatsache, dass sich viele Wählerinnen und Wähler gar nicht erst für die Wahl registrierten, verdeutlicht ihren Unmut. Selbst wenn man die Effekte von Corona-Beschränkungen mit in Rechnung stellt, verweist ein solches Verhalten darauf, dass Südafrikanerinnen und Südafrikaner in der derzeitigen Parteienlandschaft keine vertrauenswürdige politische Alternative zum ANC finden und ihre Verdrossenheit immer seltener durch den Gang zur Wahlurne ausdrücken.
Die ANC-Regierung hat klar die Priorität gesetzt, in erster Linie die tiefgreifende Wirtschafts- und Finanzkrise durch Austeritätspolitik anzugehen, ohne jedoch die sozialen Folgen hinreichend zu kompensieren. Das hat die massive Unzufriedenheit mit der Regierungspolitik zusätzlich verstärkt. Am größten ist die Enttäuschung bei jenen Teilen der Bevölkerung, die sich von der ehemaligen Befreiungsbewegung ANC ökonomische Gleichberechtigung, Umverteilung und Wohlstand erhofft hatten.
Die gravierenden Versäumnisse der letzten Jahre und die prekären sozioökonomischen Zustände in Südafrika, die sich unmittelbar auf die Bevölkerung auswirken, haben deren Vertrauen in die demokratischen Institutionen zusehends erschüttert. Im August 2021 veröffentlichte das Afrobarometer erschreckende Daten: Danach ist dieses Vertrauen so gering wie noch nie seit Beginn der Erhebungen im Jahr 2006. Nur 38 Prozent der Befragten vertrauen dem Präsidenten, 27 Prozent dem Parlament. 46 Prozent der Befragten gaben an, sie seien »sehr bereit«, ihr Wahlrecht aufzugeben, wenn eine nicht-gewählte Regierung Arbeitsplätze schaffen oder für Sicherheit und angemessene Wohnbedingungen sorgen würde.
Das ohnehin große Misstrauen der Bevölkerung wurde noch dadurch verstärkt, dass es auch unter der Ramaphosa-Regierung zu Skandalen kam, zuletzt ging es um Korruptionsvorwürfe im Gesundheitsbereich während der Corona-Pandemie; in der Folge musste Zweli Mkhize als Gesundheitsminister zurücktreten. Wut und Enttäuschung kamen in den Juli-Unruhen zum Ausdruck. Regelmäßig kommt es darüber hinaus zu kleineren Protesten in verschiedenen Gemeinden Südafrikas, bei denen die Grenze zwischen zivilem Ungehorsam und Vandalismus regelmäßig überschritten wird. Immer wieder werden Migrantinnen und Migranten aus anderen afrikanischen Staaten Opfer gewaltsamer Attacken. Die xenophobe Gewalt wird in Südafrika vor allem mit der großen Unzufriedenheit und dem Wettbewerb um die wenigen vorhandenen Ressourcen erklärt, sie wird von politischen Gruppen jedoch teilweise auch angestachelt. Sollte sich die sozioökonomische Lage weiter verschlechtern, wird auch das Risiko von Unruhen und gewaltsamen Übergriffen gegen Menschen größer werden.
Südafrika braucht Unterstützung
Trotz seiner innenpolitischen Probleme und der Folgen der »State Capture« gehört Südafrika sowohl auf dem afrikanischen Kontinent als auch im Rahmen der BRICS-Gruppe (bestehend aus Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika) zu den wenigen Staaten, die nach wie vor über stabile demokratische Strukturen verfügen. Das Land hat starke, solide demokratische Fundamente, die zwar ins Wanken geraten sind, aber noch abgesichert werden können. Alle Wahlen seit 1994 gelten als »frei und fair«, auch bei den Kommunalwahlen im November gab es keine Beanstandungen. In internationalen Foren gilt die Ramaphosa-Regierung als Unterstützerin von Demokratie und Multilateralismus. Die Regierung in Pretoria hat die immensen Herausforderungen der Pandemie bislang souverän und verantwortungsvoll bewältigt, die wissenschaftlichen Erkenntnisse des Landes mit der Weltgesundheitsorganisation geteilt und somit zur Frühwarnung beigetragen.
Südafrikas Frühwarnrolle ist international beispielhaft und sollte gewürdigt werden. Es wäre fatal, wenn die schnelle Entscheidung über Reisebeschränkungen durch westliche Staaten dazu führen würde, dass Südafrika mit der Bewältigung der sozioökonomischen Folgen dieser Beschränkungen alleine gelassen wird – denn schließlich ist die Omikron-Variante auch in anderen Ländern der Welt aufgetaucht, die nicht mit Reisebeschränkungen belegt wurden. Deutschland und die EU sollten gründlich abwägen, ob Einschränkungen des Reiseverkehrs im Kontext der epidemiologischen Herausforderungen notwendig sind. Außerdem sollten sie Restriktionen – sofern verantwortbar – lockern, um Nachteile für Südafrika zu vermeiden und keinen Präzedenzfall zu schaffen, der andere Staaten von der Frühwarnung der Weltgemeinschaft abschrecken könnte.
Darüber hinaus sollten Deutschland und die EU kurzfristig alle Möglichkeiten ausschöpfen, um die südafrikanische Regierung dabei zu unterstützen, die sozioökonomischen Folgen der vierten Corona-Welle abzufedern, die durch die rasch erlassenen Reiseeinschränkungen besonders gravierend sein könnten. Hierzu gehören auch Bemühungen, die Nachbarländer und den afrikanischen Kontinent insgesamt mit ausreichend Impfstoff zu versorgen – Südafrika setzt sich dafür bereits auf internationaler Ebene ein, um die Wahrscheinlichkeit der Ausbreitung des Virus zu reduzieren und die Folgen für die Bevölkerungen zu mildern. Südafrika selbst braucht Unterstützung, damit es seine Impfkampagne ausweiten kann. Über ein Drittel der Südafrikanerinnen und Südafrikaner sind mittlerweile doppelt geimpft. Das Land verfügt derzeit über genug Impfstoff und kämpft vor allem damit, die Impfbereitschaft zu steigern.
Mittelfristig wird es darüber hinaus wichtig sein, die demokratischen Kräfte in Südafrika zu unterstützen. Der Austausch deutscher und südafrikanischer Parteien über die Erfahrungen mit Koalitionsregierungen ist ein richtiger Ansatz, der weiterverfolgt und ausgebaut werden sollte. Die etablierten politischen Parteien Südafrikas – selbst radikale wie die EFF – eint die Unterstützung eines demokratischen Parteienwettbewerbs und demokratischer Wahlen, auch wenn es ihnen bislang nicht gelungen ist, die Macht des ANC zu brechen.
Ungeachtet dessen haben alle politischen Parteien – auch die als liberal geltende DA – schwache interne demokratische Strukturen und neigen vermehrt zu Populismus. Die Gefährdung der demokratischen Kultur dürfte zunehmen, wenn sich diese Tendenz im Zuge gesellschaftlicher Polarisierung noch einmal verstärkt und die etablierten politischen Parteien durch populistische Rhetorik negative Stimmungen in der Bevölkerung anheizen, statt sie politisch zu kanalisieren. In der bilateralen zivilgesellschaftlichen Zusammenarbeit – dies gilt insbesondere für die Parteienförderung durch die politischen Stiftungen – sollte daher ein Fokus auf die Stärkung ihrer demokratischen Strukturen in den Parteien gelegt werden, vor allem mit Blick auf die im Jahr 2024 anstehenden Präsidentschafts- und Parlamentswahlen.
Unabhängige zivilgesellschaftliche Organisationen, Whistleblower und Journalisten haben in den letzten Jahren auf beeindruckende Weise zur Vertretung der Interessen jener beigetragen, die kein Vertrauen mehr in Parteien haben, oder auch zur Aufarbeitung von Korruption und »State Capture«. Die enorme Resilienz der südafrikanischen Gesellschaft, die auf starken zivilgesellschaftlichen Strukturen beruht, gehört zu den großen Stabilisierungsfaktoren in Südafrika. Dennoch kann die Zivilgesellschaft durch Selbstorganisation auf lokaler Ebene das Fehlen guter Regierungsführung nicht wettmachen. Um die hochgradige soziale Ungleichheit und die damit verbundene berechtigte Unzufriedenheit der Bevölkerung noch stärker abzufedern, muss Südafrika die Infrastruktur weiter ausbauen und jenen Menschen besseren Zugang zu Dienstleistungen verschaffen, die davon bislang ausgeschlossen sind.
Die Entscheidung der deutschen Bundesregierung unter Kanzlerin Angela Merkel, die südafrikanische Regierung beim Ausbau der Nutzung erneuerbarer Energien finanziell zu unterstützen und somit kurzfristig bei der Diversifizierung der Energieversorgung und einem mittelfristigen Kohleausstieg zu helfen, ist ein Schritt in die richtige Richtung. Die neue Bundesregierung sollte darauf achten, dass die Verwendung der Gelder und die Umsetzung möglicher weiterer Initiativen, die auf die Förderung der Energietransformation abzielen, zu positiver und gerechterer Verteilung beitragen.
Dr. Melanie Müller ist Wissenschaftlerin in der Forschungsgruppe Afrika und Mittlerer Osten.
© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2021
Alle Rechte vorbehalten
Das Aktuell gibt die Auffassung der Autorin wieder.
SWP-Aktuells werden intern einem Begutachtungsverfahren, einem Faktencheck und einem Lektorat unterzogen. Weitere Informationen zur Qualitätssicherung der SWP finden Sie auf der SWP-Website unter https://www. swp-berlin.org/ueber-uns/ qualitaetssicherung/
SWP
Stiftung Wissenschaft und Politik
Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit
Ludwigkirchplatz 3–4
10719 Berlin
Telefon +49 30 880 07-0
Fax +49 30 880 07-100
www.swp-berlin.org
swp@swp-berlin.org
ISSN (Print) 1611-6364
ISSN (Online) 2747-5018
doi: 10.18449/2021A75