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Südafrikas gesellschaftliche und politische Herausforderungen

Covid verschärft sozioökonomische Ungleichheit und trifft auf einen zerstrittenen ANC

SWP-Aktuell 2021/A 75, 01.12.2021, 7 Pages

doi:10.18449/2021A75

Research Areas

In den politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen Südafrikas finden derzeit Erosionsprozesse statt. Sie sind das Resultat struktureller Veränderungen und paral­lel ablaufender Entwicklungen, die sich gegenseitig verstärken. Die Hoffnungen auf Einnahmen aus dem Tourismus in den Monaten November 2021 bis Februar 2022 haben sich zerschlagen, seitdem nach Entdeckung der Corona-Variante Omikron internationale Reisebeschränkungen erlassen worden sind. Hinzu kommt, dass die Spannungen innerhalb der Regierungspartei African National Congress (ANC) den Präsidenten Cyril Ramaphosa in seiner Handlungsfähigkeit einschränken. Aller­dings sind langsame Fortschritte bei Reformen und positive Tendenzen einer Weiter­entwicklung jenseits des dominierenden ANC erkennbar. So hat sich das Parteien­system nach den Kommunalwahlen im Anfang November zusehends ausdifferenziert. Deutschland und die EU können positive Entwicklungen durch gut ausgerichtete und sensible Hilfe unterstützen, müssen dabei aber stets insbesondere sozioökonomische Faktoren im Blick behalten.

Noch kurz bevor die Entdeckung der neuen Virusmutation die Diskussion in den Medien Südafrikas bestimmte, standen die Ergebnisse der Lokalwahlen am 1. November 2021 im Fokus. Zum ersten Mal in der Geschichte des demokratischen Südafrikas fiel die bis dahin dominierende Partei, der African National Congress (ANC), unter die Marke von 50 Prozent der aggregierten Stimmen und verlor in ehemaligen Hochburgen die Mehrheit. Nach über 25 Regierungsjahren und zahlreichen nicht eingehaltenen poli­tischen Versprechen trauen viele Südafrikanerinnen und Südafrikaner der ehemaligen Befreiungsbewegung ANC nicht mehr zu, dass sie ihr proklamiertes Ziel erreichen können: die Verwirklichung von Demokra­tie und Wohlstand für die gesamte Bevöl­kerung – insbesondere für schwarze Süd­afrikanerinnen und Südafrikaner.

Neue Pfade im Parteiensystem

Auf den ersten Blick könnte man vermu­ten, dass die massiven Verluste des ANC die Chance auf einen Wettbewerb im südafrikanischen Parteiensystem eröffnen, das bis­lang vom ANC dominiert wurde. Doch gelang es bis jetzt keiner der Oppositionsparteien, mit Stimmenzuwächsen von den Verlusten des ANC zu profitieren und sich als dessen poli­tische Alternative zu positio­nieren. Viele Wahlberechtigte registrierten sich erst gar nicht für die Wahl oder blie­ben ihr fern. Die größte Oppositionspartei Democratic Alliance (DA) erzielte schlechtere Ergebnisse als bei den Kommunalwahlen 2016 und kam auf knapp 22 Prozent der aggregierten Stim­men. Die Economic Free­dom Fighters (EFF), die mit ihrer radikalen Rhetorik als klassische Protestpartei gelten, legten um 2 Prozentpunkte auf 10,3 Prozent zu – weniger, als manche erwartet hatten.

Erfolge konnten – regional verteilt – verschiedene kleinere Parteien verbuchen. Hierzu gehören die Inkatha Freedom Party (IFP), Freedom Front Plus (FF+) oder die neu gegründete Partei des ehemaligen Johannesburger Bürgermeisters und früheren DA-Mitglieds Herman Mashaba, ActionSA.

Bis zum 23. November hatten die Par­teien Zeit, Koalitionen zu bilden. Damit hat Südafrika insofern neue Pfade beschritten, als nun Parteien miteinander sprechen oder gar kooperieren mussten, die bis dahin nur gegen­einander gearbeitet haben. Die große Überraschung der Lokalwahlen – die in Südafrika immer zeitgleich in allen neun Provinzen stattfinden – ist letztendlich nicht das Wahlergebnis, sondern die Tat­sache, dass es dem ANC in vielen wichtigen Zentren nicht gelungen ist, Allianzen mit anderen, kleinen Parteien zu schmieden und sie als »Königsmacher« zu nutzen.

Der ANC konnte auf nationaler Ebene bis zur letzten Parlamentswahl 2019 fast zwei Drit­tel der Stimmen auf sich vereinen und auf Provinz- und lokaler Ebene meist alleine regieren. Im südafrikanischen Par­teiensystem gibt es daher nur wenig Erfah­rungen mit der Formierung von Koalitionen oder Unterstützungsvereinbarungen und der dafür erforderlichen Kompromiss­fähig­keit. Seit den Lokalwahlen 2016 werden auf lokaler Ebene lediglich vereinzelt Bünd­nisse erprobt.

Dass kleinere Parteien dem ANC ihre Unterstützung versagen, hat verschiedene Gründe. Zum einen zweifeln sie daran, dass ihnen die mächtige – und dabei häufig auch kompromissunwillige – Partei bei der Gestaltung südafrikanischer Politik ein hinreichendes Maß an Mitsprache zubilligt. Abschreckend wirken in diesem Zusammenhang viele publik gewordene Korrup­tionsskandale des ANC auf lokaler Ebene. Zum anderen ergaben sich in einigen zen­tralen Städten teilweise unerwartete Kon­stellationen, die wohl vor allem darauf abzielen, den ANC zu schwächen. In den Metropolen Johannesburg oder Ekurhuleni, etwa stimmte die linksradikale EFF, die sich unter anderem für entschädigungslose Ent­eignungen einsetzt, gemeinsam mit ActionSA für die Bürgermeisterkandidaten der liberal orientierten DA. Solche Allian­zen sind möglicherweise nicht langfristig angelegt. Denn die Duldung durch andere Parteien bleibt ein wackeliges Konstrukt – insbesondere angesichts der Tatsache, dass 2024 die nächsten Parlaments- und Präsi­dentschaftswahlen anstehen und die Par­teien spätestens Mitte 2023 wieder in den Wahlkampfmodus umschalten werden. Dennoch bietet ein solches Duldungs­verhalten den Konkurrenten die Chance, den ANC durch das Aufbrechen der bis­herigen Machtkonstellation auf lokaler Ebene auch langfristig zu schwächen.

Der ANC: so gespalten wie nie

Der ANC war bereits vor den jüngsten Wah­len intern in hohem Maße fragmentiert. Zwar kam es in der Geschichte der Partei immer wieder zu politischen Abspaltungen, wie zuletzt im Jahr 2013, nachdem der ehemalige Vorsitzende der ANC Youth League, Julius Malema, seinen Austritt erklärt und die EFF gegründet hatte. Doch werden die Konflikte innerhalb der Partei momentan sehr offen ausgetragen – und mit der Bereit­schaft, politische Gewalt an­zuwenden. Diese interne Spaltung schwächt nicht nur den innerparteilichen Zusammen­halt, sondern auch die Handlungs­fähigkeit des amtierenden Präsidenten Cyril Ramaphosa.

Zwischen dem 9. und dem 18. Juli 2021 flammten in zwei Provinzen – Gauteng und KwaZulu-Natal – Proteste auf, die mit massiver Gewaltanwendung, der Zerstörung zentraler Infrastrukturen wie Fabriken oder Lagerhäusern und mit Plünderungen ein­hergingen. 342 Menschen kamen ums Leben, mehr als 3.400 Personen wurden im Zusammenhang mit den Unruhen verhaf­tet. Die dabei verursachten wirtschaftlichen Schäden schätzte die südafrikanische Regie­rung auf 35 bis 50 Milliarden Rand, um­gerechnet etwa 1,9 bis 2,7 Milliarden Euro. Das ökonomisch ohnehin angeschlagene Land wird von diesen finanziellen Mehr­belastungen zusätzlich getroffen.

Die Unruhen eskalierten unmittelbar nach der Verhaftung des ehemaligen Präsi­denten Jacob Zuma, der sich seit 2018 vor südafrikanischen Gerichten wegen »State Capture« verantworten muss, der Unterwanderung des Staates mit dem Ziel, sich persönlich zu bereichern. Zuma war im Februar 2018 nach einem angesetzten Misstrauens­votum des südafrikanischen Parlaments zurückgetreten und wird seit­dem straf­rechtlich verfolgt. Die südafrika­nische Regierung setzte in diesem Kontext die sogenannte Zondo-Kommission ein – benannt nach ihrem Vorsitzenden Ray­mond Zondo –, deren Aufgabe es ist, die schweren Vorwürfe gegen Jacob Zuma aufzuarbeiten. Unmittelbarer Anlass seiner Verhaftung war Zumas wiederholte Weige­rung, vor Gericht zu erscheinen. Er hatte immer wieder die Rechtmäßigkeit der Untersuchung und die Unabhängigkeit der Gerichte angezweifelt.

Die zeitgleich angestachelten Unruhen lassen eine gezielte politische Orchestrierung vermuten. Dabei könnte es darum gegangen sein, die strategischen Zentren zu blockieren und so die Wirtschaft des Landes zu schädigen. Besonders gravierend sind die Auswirkungen der gewaltsamen Proteste in KwaZulu-Natal, der Heimatprovinz Jacob Zumas, wo die Zerstörungen zentraler Infrastrukturknotenpunkte dazu führten, dass Lieferketten unterbrochen wurden und es zu wirtschaftlichen Ausfällen kam. Es ist mittlerweile durch verschiedene Berichte und Analysen belegt, dass Zuma-Anhänger Drahtzieher der Unruhen waren. Demnach wollten sie vor den Kom­munalwahlen zur Destabilisierung der Lage in Südafrika bei­tragen und außerdem die amtierende Regie­rung und Präsident Cyril Ramaphosa schwächen, Jacob Zumas Widersacher im ANC.

Auch wenn Ramaphosa und seine Frak­tion dabei nicht gestürzt wurden, haben die Ausschreitungen das Vertrauen der Bevöl­kerung in die Fähigkeit der amtierenden Regierung, Sicherheit zu gewährleisten, nachhaltig erschüttert. Die südafrikani­schen Sicherheitskräfte bekamen die Un­ruhen zunächst nicht unter Kontrolle und wurden vielerorts regelrecht überrannt. Während der Zuma-Präsidentschaft ist ohnehin ein Teil der Sicherheitsbehörden durch Personen unterwandert worden, die von Beziehungen zu Zuma profitierten, was die Strafverfolgung zusätzlich schwächt.

Die Juli-Ereignisse haben die Hoffnungen stark gedämpft, dass Cyril Ramaphosa Erfolg haben kann mit seiner Strategie, mittels zivilrechtlicher Verfahren gegen Jacob Zuma und der damit verbundenen Aufarbeitung der »State Capture« den ANC zu reformieren. Das Netzwerk seiner Unter­stützer im ANC und in anderen politischen Institutionen ist weiterhin stark. Nach wie vor gilt es als eher unwahrscheinlich, dass Ramaphosa eine Abspaltung von der Zuma-Fraktion innerhalb des ANC riskieren würde. Davon hält ihn die Angst zurück, politische Macht zu verlieren. Trotz der handfesten Skandale sichert das Netzwerk um Zuma dem ANC noch immer eine breite Basis von Unterstützern, insbesondere in der Provinz KwaZulu-Natal, wo Zuma nicht nur bedeut­same Verbindungen zu den Zulu-Gruppen unterhält, sondern sich auch stets volksnah inszenierte. Ungeachtet dessen erlitt der ANC auch in dieser Provinz bei den Kommu­nalwahlen herbe Verluste – ein klarer Hin­weis darauf, dass auch hier die Basis lang­sam bröckelt.

Die Einschränkungen durch »Omikron« verstärken die sozioökonomische Ungleichheit

Ob die Menschen, die sich an den Juli-Unruhen beteiligten, aus hauptsächlich poli­tischen Gründen den Ramaphosa-ANC schwächen und die Zuma-Netzwerke stär­ken wollten, ist eine Frage, die nicht nur die südafrikanischen Medien beschäftigte. Die meisten Beobachterinnen und Beobachter gehen mittlerweile davon aus, dass die Drahtzieher der Unruhen durchaus poli­tische Motive hatten. Die Beteiligung derart vieler Menschen beruht aber vor allem auf der massiven Unzufriedenheit mit den sozio­ökomischen Verhältnissen. Den Draht­ziehern gelang es folglich, große Teile der lokalen Bevölkerung zu instrumentalisieren, indem sie ihnen ein Ventil boten.

Südafrika, das bereits vor Ausbreitung der Covid-19-Pandemie in einer wirtschaftlichen Krise steckte, wurde 2020 mit am härtesten von der Pandemie getroffen. Die Regierung in Pretoria reagierte mit einem der im weltweiten Vergleich härtesten Lockdowns. Er traf vor allem Menschen in infor­mellen oder prekären Beschäftigungs­verhältnissen, die über keine oder nur geringe Ersparnisse verfügen und lock­down-bedingte Einkommenseinbrüche nicht kompensieren konnten. Zwischen Anfang 2019 und Ende 2021 ist die Arbeits­losenquote weiter angestiegen: Sie wuchs von 29,1 Prozent im vierten Quartal 2019 auf 34,4 Prozent im vierten Quartal 2021 – in die Statistik einbezogen werden dabei nur Menschen, die als beschäftigungsfähig gelten. Besonders stark betroffen sind junge Menschen: 63 Prozent der 15- bis 24-Jäh­rigen sind ohne Arbeit.

Die soziale Ungleichheit hat sich im Zuge der Corona-Pandemie stärker aus­geprägt. Gleichzeitig stieg die Inflation, was die südafrikanische Regierung im September dazu veranlasste, die für die Definition von Nahrungsmittelunsicherheit geltende Berechnungsgrenze bei Monatseinkommen an­zuheben – von 585 auf 624 Rand im Monat, also von knapp 32 auf knapp 34 Euro.

Die Regierung setzte als Gegenmittel auf Allianzen mit der Wirtschaft, beispielsweise im Bergbausektor, wo durch groß angelegte Impf­aktionen und Änderungen von Erzeu­gungsbedingungen länger anhaltende Pro­duktionseinbrüche vermieden werden konnten. Dennoch ließen sich die negativen wirtschaftlichen Folgen der Pandemie auf diese Weise nur bedingt abmildern. Seit 2020 stiegen die Preise für einige Rohstoffe auf den internationalen Märkten, was Süd­afrika höhere Einnahmen bescherte und es der Regierung ermöglichte, fiskalisch die schlimmsten Folgen abzufedern.

Das gesamte Land hatte nicht nur an die Öffnung nach der langen Phase der Lock­downs Hoffnungen geknüpft, dass die Wirt­schaft im Oktober 2021 nach der dritten Corona-Welle langsam Fahrt aufnehmen würde. Auch mit dem Start der Tourismus­saison im südafrikanischen Sommer (von November bis Februar) wurde eine Dyna­misierung dieses Sektors erwartet, der für die Ökonomie des Landes zentrale Bedeutung hat. Nach Schätzungen aus der Zeit vor Corona (2018) hatte der Tourismus­sektor einen direkten Anteil am Brutto­inlandsprodukt von 2,9 Prozent und einen indirekten Anteil von 8,6 Prozent, außerdem war er für 8,2 Prozent der Investitionen verantwortlich.

Viele Länder – darunter Deutschland – hatten im September die Einstufung Süd­afrikas als Virusvariantengebiet zurück­genom­men, nachdem die Delta-Mutante in Indien entdeckt worden war und die Corona-Fallzahlen in Südafrika im Oktober und November relativ niedrig waren. Nun sollten die Einnahmen aus dem Tourismus dazu beitragen, wenigstens einige Arbeitsplätze zu sichern. Die Ende November 2021 erfolgte Entdeckung einer neuen Corona-Variante, als »Omikron« bezeichnet, macht derlei Hoffnungen sehr wahrscheinlich zu­nichte. Großbritannien und Israel reagierten binnen eines Tages, nachdem Südafrika die Informationen über die neue Variante an die Weltgesundheitsorganisation (WHO) weitergeleitet hatte, und schränkten den Flugverkehr ein. Die EU zog daraufhin nach und empfahl Einreiseverbote, Deutschland stufte Südafrika einen Tag später als Virus­variantengebiet ein.

Die restriktiven Reisebeschränkungen kritisiert die südafrikanische Regierung, aber auch die Afrikanische Union (AU) und die WHO als vorschnell, zumal die Omi­kron-Variante auch in anderen Ländern der Welt aufgetreten ist und – wie inzwischen bekannt wurde – bereits in den Nieder­landen aufgetaucht sein soll, bevor sie in Südafrika entdeckt wurde. Südafrika fühlt sich für sein schnelles Handeln und sein »Early Warning« bestraft, zumal zunächst keine hinreichenden Erkenntnisse darüber vorlagen, wie gefährlich die neue Virusvariante Omikron wirklich ist. Unabhängig davon, wie lange die Reisebeschränkungen aufrechterhalten werden, ist derzeit nicht damit zu rechnen, dass sich der südafrika­nische Tourismussektor in der Saison 2021/2022 von den zu erwartenden Ein­brüchen erholen wird.

Grassierende gesellschaftliche Unzufriedenheit

Land und Wirtschaft haben zusätzlich mit massiven Schwierigkeiten bei der Strom­versorgung zu kämpfen, die mit der Krise des staatlichen Energieversorgers Eskom verbunden sind. Dessen Krise ist eine Folge von »State Capture« sowie Korruption und damit zusammenhängenden Fehlentscheidungen bei der Planung der Energie­infrastruktur Südafrikas, die noch immer vorrangig auf Kohleverstromung basiert. Ramaphosa hat im Januar 2020 mit André de Ruyter einen neuen CEO eingesetzt, der die Korruptionsbekämpfung bei Eskom voranbringt und auf transparentere Pro­zesse setzt. Außerdem steht de Ruyter einer Diversifizierung der Energieversorgung im Sinne einer Verringerung der großen Ab­hängigkeit von Kohle offener gegenüber als das vorherige Eskom-Management. Doch lassen sich die massiven Schwierigkeiten des Energieriesen so nur mittelfristig bewäl­tigen.

Derzeit ist Eskom nicht in der Lage, die Grundlast im Land zu gewährleisten und den Strombedarf zu decken. Daher kommt es teilweise mehrfach am Tag zu Strom­abschaltungen. Geplante Abschaltungen – »load shedding« genannt – werden der Be­völkerung frühzeitig angekündigt. Immer häufiger sind aber auch ungeplante, kurz­fristige Stromausfälle.

Neben dem Stromsektor gelten auch andere Infrastrukturbereiche in Südafrika als dysfunktional, etwa die Wasserversorgung oder das Schienennetz. Im Zuge der Aufarbeitung der »State Capture« wird deutlich, dass die Schwierigkeiten bei der Bereitstellung funktionierender Infrastruktur maßgeblich auf Missmanagement und Korruption zurückzuführen sind. Zuma und sein breites Unterstützernetzwerk, dessen Mitglieder er auch aus dem ANC rekrutiert hat, haben Strukturen demokratischer Institutionen umgebaut, um Kor­ruption zu verschleiern und Geld vom Staat ab­zuschöpfen. Die Verluste, die Südafrika alleine durch Allianzen Zumas mit den Unternehmerbrüdern Gupta erlitten hat, schätzte die Zondo-Kommission im Mai 2021 auf 50 Milliarden Rand, also 2,7 Mil­liarden Euro. Es sind diese Gelder, die heute in zentralen Infrastrukturbereichen des Landes fehlen, und dies wiederum hat unmittelbare Auswirkungen auf die Bevöl­kerung – deren nachvollziehbare Unzufriedenheit insofern weiter wächst.

Die Tatsache, dass sich viele Wählerinnen und Wähler gar nicht erst für die Wahl registrierten, verdeutlicht ihren Unmut. Selbst wenn man die Effekte von Corona-Beschränkungen mit in Rechnung stellt, verweist ein solches Verhalten darauf, dass Südafrikanerinnen und Südafrikaner in der derzeitigen Parteienlandschaft keine ver­trauenswürdige politische Alternative zum ANC finden und ihre Verdrossenheit immer seltener durch den Gang zur Wahlurne ausdrücken.

Die ANC-Regierung hat klar die Priori­tät gesetzt, in erster Linie die tiefgreifende Wirtschafts- und Finanzkrise durch Austeri­tätspolitik anzugehen, ohne jedoch die sozialen Folgen hinreichend zu kompensieren. Das hat die massive Unzufriedenheit mit der Regierungspolitik zusätzlich ver­stärkt. Am größten ist die Enttäuschung bei jenen Teilen der Bevölkerung, die sich von der ehemaligen Befreiungsbewegung ANC ökonomische Gleichberechtigung, Um­verteilung und Wohlstand erhofft hatten.

Die gravierenden Versäumnisse der letz­ten Jahre und die prekären sozioökonomischen Zustände in Südafrika, die sich un­mittelbar auf die Bevölkerung auswirken, haben deren Vertrauen in die demokratischen Institutionen zusehends erschüttert. Im August 2021 veröffentlichte das Afro­barometer erschreckende Daten: Danach ist dieses Vertrauen so gering wie noch nie seit Beginn der Erhebungen im Jahr 2006. Nur 38 Prozent der Befragten vertrauen dem Präsidenten, 27 Prozent dem Parlament. 46 Prozent der Befragten gaben an, sie seien »sehr bereit«, ihr Wahlrecht auf­zugeben, wenn eine nicht-gewählte Regie­rung Arbeitsplätze schaffen oder für Sicher­heit und angemessene Wohnbedingungen sorgen würde.

Das ohnehin große Misstrauen der Bevöl­kerung wurde noch dadurch verstärkt, dass es auch unter der Ramaphosa-Regierung zu Skandalen kam, zuletzt ging es um Korrup­tionsvorwürfe im Gesundheitsbereich wäh­rend der Corona-Pandemie; in der Folge musste Zweli Mkhize als Gesundheitsminis­ter zurücktreten. Wut und Enttäuschung kamen in den Juli-Unruhen zum Ausdruck. Regelmäßig kommt es darüber hinaus zu kleineren Protesten in verschiedenen Ge­meinden Südafrikas, bei denen die Grenze zwischen zivilem Ungehorsam und Van­dalismus regelmäßig überschritten wird. Immer wieder werden Migrantinnen und Migranten aus anderen afrikanischen Staa­ten Opfer gewaltsamer Attacken. Die xeno­phobe Gewalt wird in Südafrika vor allem mit der großen Unzufriedenheit und dem Wettbewerb um die wenigen vorhandenen Ressourcen erklärt, sie wird von politischen Gruppen jedoch teilweise auch angestachelt. Sollte sich die sozioökonomische Lage wei­ter verschlechtern, wird auch das Risiko von Unruhen und gewaltsamen Übergriffen gegen Menschen größer werden.

Südafrika braucht Unterstützung

Trotz seiner innenpolitischen Probleme und der Folgen der »State Capture« gehört Süd­afrika sowohl auf dem afrikanischen Kon­tinent als auch im Rahmen der BRICS-Gruppe (bestehend aus Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika) zu den weni­gen Staaten, die nach wie vor über stabile demokratische Strukturen verfügen. Das Land hat starke, solide demokratische Fun­da­mente, die zwar ins Wanken geraten sind, aber noch abgesichert werden kön­nen. Alle Wahlen seit 1994 gelten als »frei und fair«, auch bei den Kommunalwahlen im November gab es keine Beanstandungen. In internationalen Foren gilt die Rama­phosa-Regierung als Unterstützerin von Demokratie und Multilateralismus. Die Regierung in Pretoria hat die immensen Herausforderungen der Pandemie bislang souverän und verantwortungsvoll bewältigt, die wissenschaftlichen Erkenntnisse des Landes mit der Weltgesundheitsorganisation geteilt und somit zur Frühwarnung beigetragen.

Südafrikas Frühwarnrolle ist international beispielhaft und sollte gewürdigt wer­den. Es wäre fatal, wenn die schnelle Ent­scheidung über Reisebeschränkungen durch westliche Staaten dazu führen würde, dass Südafrika mit der Bewältigung der sozio­ökonomischen Folgen dieser Beschränkungen alleine gelassen wird – denn schließlich ist die Omikron-Variante auch in ande­ren Ländern der Welt aufgetaucht, die nicht mit Reisebeschränkungen belegt wurden. Deutschland und die EU sollten gründlich abwägen, ob Einschränkungen des Reise­verkehrs im Kontext der epidemiologischen Herausforderungen notwendig sind. Außer­dem sollten sie Restriktionen – sofern ver­antwortbar – lockern, um Nachteile für Südafrika zu vermeiden und keinen Prä­zedenzfall zu schaffen, der andere Staaten von der Frühwarnung der Weltgemeinschaft abschrecken könnte.

Darüber hinaus sollten Deutschland und die EU kurzfristig alle Möglichkeiten aus­schöpfen, um die südafrikanische Regierung dabei zu unterstützen, die sozioökonomischen Folgen der vierten Corona-Welle abzufedern, die durch die rasch erlassenen Reise­einschränkungen besonders gravierend sein könnten. Hierzu gehören auch Bemühungen, die Nachbarländer und den afrikanischen Kontinent insgesamt mit ausreichend Impfstoff zu versorgen – Süd­afrika setzt sich dafür bereits auf internatio­naler Ebene ein, um die Wahrscheinlichkeit der Ausbreitung des Virus zu reduzieren und die Folgen für die Bevölkerungen zu mildern. Südafrika selbst braucht Unter­stützung, damit es seine Impfkampagne ausweiten kann. Über ein Drittel der Süd­afrikanerinnen und Südafrikaner sind mitt­lerweile doppelt geimpft. Das Land verfügt derzeit über genug Impfstoff und kämpft vor allem damit, die Impfbereitschaft zu steigern.

Mittelfristig wird es darüber hinaus wich­tig sein, die demokratischen Kräfte in Süd­afrika zu unterstützen. Der Austausch deut­scher und südafrikanischer Parteien über die Erfahrungen mit Koalitionsregierungen ist ein richtiger Ansatz, der weiterverfolgt und ausgebaut werden sollte. Die etablierten politischen Parteien Südafrikas – selbst radikale wie die EFF – eint die Unter­stützung eines demokratischen Parteienwettbewerbs und demokratischer Wahlen, auch wenn es ihnen bislang nicht gelungen ist, die Macht des ANC zu brechen.

Ungeachtet dessen haben alle politischen Parteien – auch die als liberal geltende DA – schwache interne demokratische Struk­turen und neigen vermehrt zu Popu­lis­mus. Die Gefährdung der demokratischen Kultur dürfte zunehmen, wenn sich diese Tendenz im Zuge gesellschaftlicher Polari­sierung noch einmal verstärkt und die etablierten politischen Parteien durch popu­listische Rhetorik negative Stimmungen in der Bevölkerung anheizen, statt sie politisch zu kanalisieren. In der bilatera­len zivilgesellschaftlichen Zusammenarbeit – dies gilt insbesondere für die Parteienförderung durch die politischen Stiftungen – sollte daher ein Fokus auf die Stärkung ihrer demokratischen Strukturen in den Parteien gelegt werden, vor allem mit Blick auf die im Jahr 2024 anstehenden Präsi­dentschafts- und Parlamentswahlen.

Unabhängige zivilgesellschaftliche Orga­nisationen, Whistleblower und Journalisten haben in den letzten Jahren auf beeindruckende Weise zur Vertretung der Interessen jener beigetragen, die kein Vertrauen mehr in Parteien haben, oder auch zur Aufarbeitung von Korruption und »State Capture«. Die enorme Resilienz der südafrikanischen Gesellschaft, die auf starken zivilgesellschaftlichen Strukturen beruht, gehört zu den großen Stabilisierungsfaktoren in Süd­afrika. Dennoch kann die Zivilgesellschaft durch Selbstorganisation auf lokaler Ebene das Fehlen guter Regierungsführung nicht wettmachen. Um die hochgradige soziale Ungleichheit und die damit verbundene berechtigte Unzufriedenheit der Bevölkerung noch stärker abzufedern, muss Süd­afrika die Infrastruktur weiter ausbauen und jenen Menschen besseren Zugang zu Dienstleistungen verschaffen, die davon bislang ausgeschlossen sind.

Die Entscheidung der deutschen Bundesregierung unter Kanzlerin Angela Merkel, die südafrikanische Regierung beim Ausbau der Nutzung erneuerbarer Energien finan­ziell zu unterstützen und somit kurzfristig bei der Diversifizierung der Energieversor­gung und einem mittelfristigen Kohle­ausstieg zu helfen, ist ein Schritt in die rich­tige Richtung. Die neue Bundesregierung sollte darauf achten, dass die Verwendung der Gelder und die Umsetzung möglicher weiterer Initiativen, die auf die Förderung der Energietransformation abzielen, zu positiver und gerechterer Verteilung beitragen.

Dr. Melanie Müller ist Wissenschaftlerin in der Forschungsgruppe Afrika und Mittlerer Osten.

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2021

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doi: 10.18449/2021A75