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Schnellschüsse gefährden EU-Sicherheitspolitik

In der Brexit-Krise überschlagen sich die Vorschläge zur Reform der EU, darunter solche zur Integration der gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Schnellschüsse aber können Schaden anrichten. Ronja Kempin empfiehlt daher insbesondere Deutschland, Integrationsschritte gründlich zu planen.

Kurz gesagt, 04.07.2016 Research Areas

In der Brexit-Krise überschlagen sich die Vorschläge zur Reform der EU, darunter solche zur Integration der gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Schnellschüsse aber können Schaden anrichten. Ronja Kempin empfiehlt daher insbesondere Deutschland, Integrationsschritte gründlich zu planen.

Seit dem negativen Ausgang des britischen EU-Referendums überbieten sich europäische Verantwortungsträger mit Vorschlägen, wie die Union zu reformieren sei. Ein Politikfeld wird in nahezu allen Verlautbarungen genannt: Die Sicherheits- und Verteidigungspolitik.

Am weitreichendsten sind die Vorschläge, die der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier und sein französischer Kollege Jean-Marc Ayrault präsentierten. Ihre europäische Sicherheitsagenda vermag indes weder das Paradoxon aufzulösen, dass die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik der Union (GSVP) vor allem durch das scheidende Mitglied Großbritannien – Mitglied im Sicherheitsrat, Nuklearmacht, neben Frankreich der gewichtigste außen- und sicherheitspolitische Akteur in der EU – gestärkt werden könnte. Noch erklären sie, warum der Brexit eine Reformbereitschaft auslösen wird, die die sicherheits- und verteidigungspolitische Integrations-Apathie der vergangenen Jahre überwindet.

Bedrohungslage spricht für stärker integrierte Sicherheitspolitik

Gewiss: Eine sich scheinbar beständig verschärfende Bedrohungslage an den Grenzen der EU fordert europäische Antworten. Die Annexion der Krim, der Bürgerkrieg in Syrien und nicht zuletzt die terroristischen Anschläge in Frankreich und Belgien verleihen dem Themenfeld eine besondere Relevanz – die nochmals steigt, je weniger Verlass auf die sich im Wahlkampf befindenden USA ist. Auch eine Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger befürwortet weiterhin eine stärker außen- und sicherheitspolitisch integrierte Union. Schließlich mag es vergleichsweise einfach erscheinen, in der GSVP, dem am wenigsten integrierten Politikfeld der Union, integrationspolitische Fortschritte zu erzielen.

Entsprechend verwundert es nicht, dass die Vorschläge der beiden Außenminister zugunsten eines starken Europas ebenso umfassend wie weitreichend sind. Sie erstrecken sich auf die äußere wie auf die innere Sicherheit und schließen die Verteidigungspolitik mit ein. Steinmeier und Ayrault wollen die EU Schritt für Schritt zu einem unabhängigen und globalen Akteur entwickeln. Dazu sollen unter anderem eine gemeinsame Analyse des strategischen Umfeldes, eine permanente zivil-militärische Planungs- und Führungsfähigkeit und die Einrichtung ständiger maritimer Einsatzverbände beitragen. Die Außenminister möchten die gemeinsame Finanzierung von GSVP-Operationen erleichtern und in Schlüsselbereichen EU-eigene Fähigkeiten schaffen. Die Verteidigungsfähigkeiten der Mitgliedstaaten sollen durch ein Europäisches Semester, in dem die Mitgliedstaaten sich halbjährlich über ihre Verteidigungsplanung und -prioritäten austauschen, besser aufeinander abgestimmt werden; im Kampf gegen den Terrorismus sollen gemeinsame Standards zum Waffen- und Sprengstoffhandel angewendet; mittelfristig wollen Steinmeier und Ayrault auch die Zusammenarbeit der Nachrichtendienste verbessern. Schließlich soll der Europäische Rat einmal jährlich als Sicherheitsrat tagen, um die Integration in der inneren und äußeren Sicherheit voranzutreiben.

Kooperation nicht an Großbritannien gescheitert

So löblich diese Vorschläge vor dem Hintergrund der veränderten Bedrohungslage sind, so unklar bleibt, warum ein anstehender Brexit ihre Umsetzung befördern sollte. Sicher: Das Vereinigte Königreich hat die Entwicklung der GSVP blockiert. Zunächst aber waren es die Briten und Franzosen, die 1998 den Weg zu einer eigenständigen EU-Sicherheits- und Verteidigungspolitik ebneten. Großbritanniens Ablehnung war später vor allem auf institutionelle Fragen begrenzt. So stemmte sich London gegen die Einrichtung eines eigenen EU-Hauptquartiers zur Planung und Führung von Operationen: Sowohl die NATO als auch einzelne Mitgliedstaaten verfügten über entsprechende Einrichtungen, die nicht auf EU-Ebene dupliziert werden müssten. Aus ähnlichen Gründen verweigerte es der Europäischen Verteidigungsagentur (EDA) eine Erhöhung ihres Budgets. Den Aufbau einsatzfähiger militärischer Fähigkeiten unterstützte London hingegen lange Zeit. Erst als es erkennen musste, dass die EU-Mitgliedstaaten wenig gewillt waren, ihre Verteidigungsfähigkeit substantiell zu verbessern, ging es dazu über, bilaterale Vereinbarungen außerhalb des EU-Rahmens zu schließen. Dass GSVP-Operationen bis heute nicht gemeinsam finanziert werden, ist dem Vereinigten Königreich ebenso wenig anzulasten wie die Tatsache, dass die Klauseln des Lissabonner Vertrages ungenutzt bleiben, die willigen Staaten eine schnellere Integration in diesem Politikfeld erlauben. Ein Wille zur Kooperation und zur Abgabe von Souveränität über Lippenbekenntnisse hinaus ist in keinem Mitgliedsland vorhanden.

Und so bergen die Vorschläge ein hohes Risiko – für die GSVP wie für Deutschland. Scheitert die Umsetzung der Post-Brexit Agenda Steinmeiers und Ayraults, scheitert auch das Projekt, die EU als außen- und sicherheitspolitischen Akteur zu konturieren. Damit verlöre nicht allein die EU den Schwung, den sie benötigt, um ihre Legitimationskrise zu überwinden. Weniger denn je wäre Europa in der Lage, sicherheitspolitischen Bedrohungen entgegenzuwirken und seine Bürgerinnen und Bürger zu schützen. International bestünde die Gefahr, dass Europa zum Spielball der Großmächte wird. Soll das Unterfangen gelingen, müsste Deutschland in der augenblicklichen Situation auf Frankreich zugehen. Frankreich hat sich mit Verweis auf eine wenig gerechte Lastenteilung weitgehend aus der GSVP zurückgezogen. Es nutzt die EU, wenn die Mitgliedstaaten französischen Interessen folgen, kehrt ihr jedoch den Rücken, sobald sich alternative Optionen, etwa im Zusammenspiel mit den USA, ergeben. Um Paris in die Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU zurückzuholen, müsste Berlin sein sicherheitspolitisches Engagement deutlich erhöhen, sowohl finanziell als auch materiell – und Frankreichs militärischen Kurs in Afrika und im Kampf gegen den internationalen Terrorismus stützen. Dies würde Deutschlands Sicherheits- und Verteidigungspolitik entscheidend verändern.

Ob Deutschland dies tatsächlich möchte, sollte es reiflich überlegen. Schnellschüsse führen die EU nicht aus der Krise.

Der Text ist auch bei EurActiv.de erschienen.