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Russland vor der Wahl zur Staatsduma

Repression und Autokratie

SWP-Aktuell 2021/A 46, 21.06.2021, 7 Pages

doi:10.18449/2021A46

Research Areas

Die russische Gesellschaft erlebt vor der Wahl zur Staatsduma am 19. September 2021 eine drastische Ausweitung staatlicher Repression. Die staatlichen Maßnahmen sind dabei ihrerseits einschneidender und richten sich gegen mehr Menschen als bei frü­heren Repressionswellen. Sie greifen auf Bereiche über, die bislang wenig betroffen waren, und dringen zusehends in die Privatsphäre der Menschen ein. Jahrelang hatte sich der russische Staat im Wesentlichen darauf beschränkt, die politische Macht in der sogenannten Machtvertikale zu konzentrieren und den Informationsraum mittels Propaganda und Ausschaltung unabhängiger Medien zu kontrollieren. Diese Maßnahmen scheinen aus Sicht der politischen Führung nicht mehr auszureichen, um die eigene Herrschaft zu stabilisieren. Sie greift deshalb zunehmend zu Repressionen. Dies führt zu einer weiteren Verhärtung der russischen Autokratie. Auch deutsche Nichtregierungsakteure sind mittlerweile in größerem Maße von russischen staat­lichen Repressionen betroffen. Eine Verlangsamung oder gar Umkehrung dieses Trends ist auf abseh­bare Zeit nicht zu erwarten.

Repressionen finden (nicht nur) in Russland in Form von Restriktionen (Beschneidung von Freiheits- und Bürgerrechten) und phy­sischer Gewalt statt. Im Laufe der letzten Jahrzehnte kam es immer wieder zu poli­tischen Morden und Mordversuchen. Der Giftanschlag auf Alexej Nawalny ist ledig­lich der jüngste Fall. Ihm gingen die spek­takuläre Ermordung Boris Nemzows im Februar 2015 und zahlreiche weitere An­schläge inner- und außerhalb der russischen Staatsgrenzen voraus. Ramsan Kadyrow hat in der russischen Teilrepublik Tschetschenien schon vor Jahren Gewalt gegen Oppo­sition und Zivilgesellschaft zur zentralen Säule seiner Herrschaft gemacht.

Die meisten dieser Verbrechen werden nicht vollständig aufgeklärt. Der russische Staat bestreitet, an ihnen beteiligt oder für sie verantwortlich zu sein. Sicherheitskräfte schlagen Proteste gewaltsam nieder. Im russischen Strafvollzug ist Folter eine gän­gige Praxis. Die Beschneidung von Bürger- und Freiheitsrechten ist weit verbreitet. Beide Formen von Repression, Restriktion und Gewalt, haben in den vergangenen Monaten deutlich zugenommen. Der Staat setzt wie bisher vor allem auf Restriktion, weitet aber auch die Anwendung phy­sischer Gewalt aus.

Was ist neu?

Drei Aspekte sind neu im Vergleich zu frü­heren Wellen der Repression: Die Maßnah­men sind erstens massiver und betreffen mehr Menschen. Alleine bei den russland­weiten Demonstrationen Ende Januar und Anfang Februar 2021 nahmen Sicherheits­kräfte rund 11 500 Personen vorübergehend fest. Es kam zu Gewaltakten gegen Protes­tierende und zu unzähligen Verletzungen der Rechte von Festgenommenen. Die Sicherheitskräfte gingen auch rigoros gegen Medienvertreterinnen und ‑vertreter vor.

Im Zusammenhang mit den Protesten wurden seit Januar mehrere tausend Ord­nungsstrafen verhängt. Dabei stieg der Anteil der sogenannten administrativen Arreste gegenüber jenem von Bußgeldern im Vergleich zu den Vorjahren sprunghaft an. Außerdem wurden über 130 Straf­verfahren eingeleitet und erste mehrjährige Haftstrafen verhängt. Ordnungsstrafen und Straf­verfahren werden damit begründet, dass die Betroffenen an nicht genehmigten Demon­strationen teilgenommen, Verfahrens- und Hygieneregeln verletzt oder Min­derjährige zur Teilnahme motiviert hätten. Auch »Likes« und »Reposts« von Informatio­nen über die Proteste in den sozialen Netz­werken werden vermehrt als Verstöße ge­ahn­det. Die Menschenrechtsorganisation OVD-Info, die sich auf die Dokumentation von Rechtsverletzungen und die juristische Unterstützung von Festgenommenen spe­zialisiert hat, bezeichnete das Vorgehen des Staates gegen die Protestierenden als »weit­reichendste und gröbste Verletzung des Versammlungsrechts in der jüngeren rus­sischen Geschichte«.

Auslöser der Proteste war die Verhaftung des Oppositionspolitikers Alexej Nawalny anlässlich seiner Rückkehr nach Moskau am 17. Januar 2021. Nawalny wurde am 2. Februar von einem Moskauer Gericht wegen Verstößen gegen Bewährungsaufla­gen im Zusammenhang mit einem früheren Gerichtsurteil zu zwei Jahren und acht Monaten Haft verurteilt. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hatte schon das betreffende Urteil für politisch moti­viert erklärt und die russische Regie­rung aufgefordert, es aufzuheben.

Staatliche Institutionen und die Teams von Alexej Nawalny veröffentlichten sehr unterschiedliche Schätzungen darüber, wie viele Personen an den Demonstrationen von Januar bis April teilgenommen haben. Bilder belegen, dass am 23. und 31. Januar Tau­sende Menschen in über 120 russischen Städten auf die Straße gingen. Es handelte sich somit um die größten Kundgebungen seit den Massenprotesten gegen Wahl­fälschun­gen 2011/12.

Die Repressionen greifen, zweitens, neuer­dings auch auf Einrichtungen und Per­sonengruppen über, die bislang wenig betrof­fen waren. So verursachte die Ver­haftung des bekannten Rechtsanwalts Iwan Pawlow große Unruhe. Ihm wird vorgeworfen, vertrauliche Informationen aus einem Prozess weitergebeben zu haben. Pawlow ist Leiter von Team 29, einer Vereinigung von Anwälten und Anwältinnen, die sich für Bürgerrechte einsetzen. Unter anderem vertrat Team 29 Nawalnys »Stiftung zum Kampf gegen Korruption« (Fond Borby s Korrupzii, FBK). Seine Festnahme wurde als Ausweitung der staatlichen Repression auf Juristinnen und Juristen gewertet. Mitte April eröffnete die Moskauer Staatsanwaltschaft ein Verfahren zur Einstufung von FBK und anderen Organisationen Alexej Nawalnys als »extremistische Organisation«. Parallel dazu lancierte die Staatsduma ein Gesetz, das es Angehörigen »extremistischer Organisationen« auch rückwirkend verbie­tet, ihr passives Wahlrecht in Anspruch zu nehmen. Am 9. Juni wurden FBK, die regio­nalen Stäbe Nawalnys und seine Stiftung zur Verteidigung von Bürgerrechten erwar­tungsgemäß als »extremistisch« eingestuft – mit weitreichenden politischen und straf­rechtlichen Folgen nicht nur für Aktivistin­nen und Aktivisten, sondern potenziell auch für Hunderttausende privater Spen­derinnen und Spender. FBK hatte wegen des Verfahrens bereits am 29. April seine landesweiten Strukturen aufgelöst, um Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter keinen zusätzlichen Risiken auszusetzen.

Im Frühjahr gerieten außerdem diverse unabhängige Medien unter Beschuss. Mitte April wurden gegen drei Redakteurinnen und Redakteure der Studierendenzeitung DOXA Strafverfahren eingeleitet; sie stehen seitdem unter Hausarrest. Ihnen wird vor­geworfen, Minderjährige zur Teilnahme an den Pro-Nawalny-Protesten aufgerufen zu haben. Im Mai wurden Meduza und V‑Times, zwei der wichtigsten unabhän­gigen russischsprachigen Medien, zu »aus­ländischen Agenten« erklärt.

Diese Einstufung stellt die derzeit über 90 »ausländischen Agenten« vor existenzielle Herausforderungen: Sie müssen diese Be­zeichnung gut sichtbar in allen öffentlichen Äußerungen führen und sich damit selbst diskreditieren. Zudem unterliegen sie einer verschärften bürokratischen Rechenschafts­pflicht, die Zeit und Personalressourcen bindet und besonders kleinere Organisatio­nen und natürliche Personen überfordert. Ihr diskreditierter Status schreckt russische Geldgeber ab. »Ausländische Agenten« sehen sich deshalb sehr schnell mit finan­ziellen Problemen konfrontiert, die ihre Existenz gefährden. Meduza reagierte mit einer Crowdfunding-Kampagne, die binnen weniger Tage 80 000 Menschen zu Spenden motivierte. Anderen Medien, Organisationen und Individuen fehlen solche Kapazitä­ten. V-Times kündigte am 3. Juni die Selbst­auflösung an. Das staat­liche Vorgehen gegen Meduza, V‑Times und DOXA ist ein schwerer Schlag für die unabhängige Medien­landschaft in Russland.

Anders als bislang dringt der Staat, drittens, zunehmend in die Privatsphäre ein und nimmt immer mehr politisch nicht organi­sierte Menschen ins Visier. Seit den Protes­ten zu Jahresbeginn haben Sicherheits­kräfte Hunderte Bürgerinnen und Bürger in ganz Russland zu Hause und am Arbeitsplatz aufgesucht, ermahnt, vorgeladen und mit Geldbußen oder Arrest belegt. In Mos­kau wurden erstmals in großem Stil Kame­ras im öffentlichen Raum zur automatischen Gesichtserkennung genutzt. Betrof­fen waren nicht nur Menschen, die tatsäch­lich an den Protesten teilgenommen hatten. Auch Familienangehörige oder Nachbarinnen und Nachbarn mussten Fragen der Sicherheitskräfte beantworten. Im ganzen Land gab es zahlreiche Entlassungen, die mit der Teilnahme an Protesten oder dem Aufruf dazu in Verbindung gebracht wur­den. Der spektakulärste Fall betraf rund 100 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Moskauer Metro, die Mitte Mai wegen ihrer Teilnahme an den Protesten ihre Jobs verloren.

Begleitet werden die Repressionen von einer Welle neuer Gesetze, die die Bewegungsfreiheit von Oppositionellen und der Zivilgesellschaft weiter einschränken und den Spielraum des Staates für repressives Handeln ausweiten. Unter anderem können seit Ende 2020 auch natürliche Personen als »ausländische Agenten« eingestuft werden, wenn sie finanzielle Unterstützung aus dem Ausland erhalten. Das Demonstrationsrecht wurde noch stärker beschnitten; zudem wurden neue Möglichkeiten geschaffen, gegen politische Äußerungen im Internet und in sozialen Netzwerken vorzugehen. Ein Anfang Juni in Kraft getretenes »Gesetz zur aufklärerischen Tätigkeit« zielt darauf, die Thematisierung und Verbreitung politisch nicht genehmer Inhalte in Erzie­hung, Ausbildung, Wissenschaft und inter­nationaler wissenschaftlicher Kooperation zu unterbinden. Die Gesetze zu »extremis­tischen« und »unerwünschten« Organisatio­nen wurden im Juni drastisch verschärft.

Der Druck auf Oppositionspolitiker und ‑politikerinnen wird unterdessen im­mer größer. Viele haben das Land verlassen, zuletzt der ehemalige Dumaabgeordnete Dmitri Gudkow. Das Ausmaß und die qua­litativen Veränderungen staatlicher Repres­sionen in den vergangenen Monaten bele­gen aber: Die Zeiten, in denen lediglich punktuell gegen besonders sichtbare Gegne­rinnen und Gegner des Staates vorgegangen wurde, sind vorbei.

Warum jetzt?

Der offensichtliche Anlass für die verschärften Repressionen ist die Dumawahl am 19. September 2021. Um der schwächeln­den Machtpartei »Einiges Russland« den Sieg zu sichern, räumt der Staat alles aus, was als politische Alternative gelten könnte.

Die tieferliegende Ursache für die jüngsten Entwicklungen ist jedoch die seit Jahren schwelende Legitimationskrise des russischen politischen Systems. Sie wurzelt in der Gleichzeitigkeit gesellschaftlicher Modernisierung und politischer Autokratisierung, die das Verhältnis von Gesellschaft und Staat seit den 2000er Jahren prägt. Zu­nächst wurde der Widerspruch durch wirt­schaftliches Wachstum und steigenden Wohlstand überdeckt. Diese Phase endete mit der Wirtschaftskrise 2008/09 und der Niederschlagung der Massenproteste wäh­rend der Duma- und Präsidentschafts­wahlen 2011/12.

Nach der Rückkehr Wladimir Putins in den Kreml 2012 und der Annexion der Krim 2014 wurden Traditionalismus, Nationalismus, starke Führung und Großmacht-Kon­frontation mit dem Westen zum zentralen Legitimationsnarrativ des russischen Staa­tes. Der sogenannte »Krim-Effekt«, der in der Gesellschaft einen enormen Konformi­tätsdruck erzeugt hatte, zeigte jedoch nur vier Jahre lang Wirkung. Im Sommer 2018 kündete die Rentenreform in den Augen vieler Menschen vom endgültigen Schei­tern des ungeschriebenen »Gesellschafts­vertrags«, der für materielle Sicherheit politische Passivität verlangte. Seitdem schlägt das Pendel zwischen gesellschaft­lichen Protesten und staatlicher Repression wieder heftiger aus. Zu größeren Protestwellen kam es im Sommer 2019 in Moskau anlässlich der Wahl zur Moskauer Stadt­duma oder in der Region Chabarowsk nach der Absetzung und Inhaftierung von Gou­verneur Sergej Furgal ab Juli 2020. Die Pro­teste des Winters und Frühjahrs 2021 sind Fortsetzung und vorläufiger Höhepunkt dieser Entwicklung.

Mit der sich verschärfenden Legitimations­krise sieht der Staat auch seine Stabilität zunehmend gefährdet. Er hat bislang keine anderen Legitimationsquellen erschlossen und erweist sich als unfähig, mit politischem Dissens in der Gesellschaft umzugehen. Die »Angst der Herrschenden«, von der nun häu­fig die Rede ist, sollte jedoch nicht über­schätzt werden. Der Staat greift schließlich vielfach auf »altbewährte Rezepte« zurück und vertraut auf ihre Wirksamkeit. Aus Sicht der politischen Führung kann bei­spielsweise die Repressionswelle 2011/12 als Erfolg gewertet werden: Die Proteste flauten nach dem Zusammenprall auf dem Bolot­naja-Platz im Mai 2012 rasch ab.

Die gegenwärtige Repressions-Dynamik wird wesentlich von zwei Kontextfaktoren geprägt, die seit 2020 den innenpolitischen Druck in Russland enorm erhöht haben. Die Covid-19-Pandemie gefährdete im Früh­jahr vorübergehend die Verfassungsreform, die den Fortbestand des herrschenden poli­tischen Systems und die Zukunft Wladimir Putins sichern sollte. Das Virus war für das gesamte Jahr 2020 bestimmend, belastete die russische Wirtschaft schwer und for­derte entgegen deutlich geringerer offi­zieller Angaben wahrscheinlich mehrere Hunderttausend Menschenleben.

Der eigentliche politische Paukenschlag des Jahres 2020 war jedoch die politische Krise in Belarus. Die Protestbewegung im Nachbarland wurde für die politische Füh­rung und für regierungskritische Kräfte in Russland vom ersten Augenblick an zur Projektionsfläche eigener Befürchtungen bzw. Hoffnungen. Moskau stellte sich früh hinter den belarussischen Herrscher und gab zu erkennen, dass es einen Macht­wechsel in Minsk nicht dulden werde. Mitt­lerweile scheint die »autokratische Schick­salsgemeinschaft« mit Minsk unauflöslich und nicht aufkündbar. Ein Ende des bela­russischen Regimes, das einen veritablen Krieg gegen die eigene Gesellschaft führt, wäre für Moskau ein gefährlicher Präzedenzfall und eine schwer zu verkraftende Niederlage auf der internationalen Bühne. Die innenpolitischen Entwicklungen in beiden Ländern sind inzwischen noch eng­maschiger verwoben, als sie es zuvor schon waren.

Effizienz und Auswirkungen der neuen Repressionswelle

Aus Sicht des Staates zeitigen die Repressio­nen der ersten Jahreshälfte bereits »Erfolge«. Die Protestbereitschaft hat laut jüngsten Um­fragen des unabhängigen Lewada-Zentrums seit Januar deutlich nachgelassen. Auch die Sympathiewerte für jene Menschen, die in den vergangenen Monaten auf die Straße gegangen sind, waren zuletzt wieder rück­läufig. Der Bekanntheitsgrad von Alexej Nawalny ist zwar seit August 2020 gestie­gen; das gilt jedoch nicht für die Rate sei­ner politischen Unterstützung. Er sitzt im Gefängnis, viele seiner engsten Mitarbei­terinnen und Mitarbeiter sind ins Ausland geflohen, und die Struktur seiner Organisationen wurde durch die jüngsten Gesetze und Gerichtsurteile schwer beschädigt. Unter diesen Bedingungen werden es Nawalny und seine Mitstreiterinnen und Mitstreiter sehr schwer haben, ihre politi­schen Ziele weiterhin zu verfolgen.

Wladimir Putins Zustimmungswerte hin­gegen liegen nach einem pandemiebeding­ten Tief von 59 Prozent im vergangenen Frühjahr nun wieder bei 67 Prozent. Dazu trägt auch das offizielle Narrativ vom Sieg über die Corona-Pandemie bei, ebenso der Verzicht auf weiterreichende Einschrän­kungen selbst während der zweiten, von hohen Infektionszahlen bestimmten Pande­miewelle im Herbst und Winter 2020/21.

Dies ändert freilich nichts an der anhaltenden Legitimationskrise des Systems. Sie teilt die russische Gesellschaft in eine lang­sam wachsende Minderheit der Unzufriede­nen und Protestwilligen und eine schrumpfende Mehrheit, die aus Traditionalismus, Resignation oder Angst vor Veränderungen das politische System – häufig nolens volens – weiterhin mitträgt. Umfragen sind in autoritären Kontexten wie dem rus­sischen mit großer Vorsicht zu behandeln. Es ist gut möglich, dass sich Responden­tinnen und Respondenten auch in anony­men Befragungen aus Angst vor negativen Konsequenzen mit Kritik zurückhalten. Träfe dies zu, wäre sogar von mehr als nur rund 35 Prozent Unzufriedenen auszugehen, auf die beispielsweise Lewada-Umfra­gen derzeit schließen lassen.

Der russische Staat jedenfalls wirkt mit seiner Repressionsstrategie auf diese gesell­schaftliche Polarisierung ein: Er verstärkt einerseits die antiliberale und antiwestliche Propaganda, die sich an die traditionalis­tische und/oder wandlungsaverse Mehrheit richtet. Andererseits unterdrückt er immer vehementer die kritische Minderheit, um sie zum Schweigen zu bringen und Protest­willen in der gesamten Gesellschaft zu unterdrücken. Die politische Führung kann sogar damit rechnen, durch die Repression der Minderheit bei Teilen der Mehrheit neue Legitimität zu erzeugen, »schützt« er sie doch auf diese Weise vor unliebsamer In­stabilität. Der Fortgang dieses Prozesses ist schwer zu prognostizieren. Viel hängt davon ab, ob nun die nächste Generation parti­zipationswilliger Menschen den Weg ins Ausland und in die Privatsphäre sucht oder sich trotz steigenden Risikos weiterhin bemüht, die Verhältnisse im Land zu ver­ändern. Die Emigrationsbereitschaft hat jedenfalls im vergangenen Jahrzehnt stetig zugenommen.

Phasen der Repression verändern auch das politische System. Sie stärken die Re­pressionsakteure, verleihen also den Sicherheitskräften mehr Einfluss im Macht­apparat. Repression schafft auf diese Weise strukturelle Fakten, die sich schwer rück­gängig machen lassen. Auch hier wird ein Trend des letzten Jahrzehnts fortgeschrieben, in dem die Macht der Sicherheitsdienste stetig angewachsen ist. Die auf autoritäre Herrschaftsstabilisierung ausgerichtete staatliche Politik trachtet danach, gesellschaftlichen Wandel zu verlangsamen. Dissens wird mit immer härteren Mitteln unterdrückt, fragmentiert und vereinzelt, um ihn »unschädlich« zu machen. Dieser Mechanismus wirkt auch auf der Ebene der politischen Elite, deren Angehörige eben­falls ins Fadenkreuz politischer Repression geraten können.

Die doppelt miteinander verschränkte Dynamik in Russland und Belarus lässt wenig Raum für Hoffnung, dass Moskau (oder Minsk) in naher Zukunft von breit(er) angelegter Repression als immer wich­tigerem Herrschaftsinstrument ablassen wer­den. Da Moskau Lukaschenkos Unter­drückung der belarussischen Volksbewegung bedingungslos unterstützt, stellt sich eher die bange Frage, ob belarussische Ver­hältnisse perspektivisch auch in Russland eintreten könnten. In jedem Fall führen die jüngsten Entwicklungen zu einer deut­lichen Verhärtung der russischen Auto­kratie, die Öffnung und Kompromiss nach innen wie nach außen auf nicht absehbare Zeit unwahrscheinlich macht.

Repression transnational – auch gegen deutsche Organisationen

Am 26. Mai 2021 stufte die russische Gene­ralstaatsanwaltschaft drei deutsche Nicht­regierungsorganisationen (NGOs) als un­erwünscht ein: den Deutsch-Russischen Austausch (DRA), das Zentrum Liberale Moderne (LibMod) und das Forum russischsprachiger Europäer. Das gleiche Schicksal hatte bereits 2018 die in Berlin ansässige European Platform for Democratic Elections (EPDE) ereilt. Das Gesetz über »unerwünschte Organisationen« von 2015 verbietet nicht­russischen Organisationen, die angeblich den russischen Staat bedrohen, jedwede Tätigkeit auf russischem Territorium. Es wurde pünktlich zur Listung der drei deut­schen Organisationen noch einmal erheb­lich verschärft. Das Gesetz belegt Angehö­rige der betroffenen Organisationen mit Einreisesperren und verbietet russischen Bürgerinnen und Bürgern und in Russland Ansässigen bei Strafe jede Kooperation mit ihnen.

Das russische Justizministerium führt der­zeit 34 ausländische Organisationen als unerwünscht. Allein 17 stammen aus den USA. Darunter sind aber auch mehrere europäische Organisationen, zum Beispiel das European Endowment for Democracy. Organisationen müssen umgehend nach ihrer Listung alle Arbeitskontakte nach Russland einstellen, um russische Partnerinnen und Partner nicht weiter zu gefähr­den. Deren Situation wird damit noch pre­kärer, denn die Anzahl der ausländischen Kooperationspartner und Finanzierungs­quellen nimmt stetig ab.

EPDE, DRA und LibMod sind im Petersburger Dialog vertreten. Die russische politische Führung signalisiert mit der Listung, dass sie in ihrem Bestreben, Kritik und vom Regime abweichende politische Positionen auszuschalten, auch vor diesem traditionsreichen deutsch-russischen Dia­log­projekt nicht Halt macht. Es gibt Hin­weise aus der russischen Staats­duma, dass in Zukunft auch deutsche politische Stif­tungen Ziel entsprechender Maßnahmen werden könnten. Namentlich genannt wurde die Heinrich-Böll-Stiftung. Die deut­sche Seite des Petersburger Dialogs hat alle weiteren gemeinsame Aktivitäten vorerst abgesagt und die Wiederaufnahme an die Aufhebung der Listung gebunden.

Das russische Vorgehen gegen deutsche NGOs unterstreicht die isolationistischen Tendenzen in der russischen Außenpolitik und ist ein Beleg für die drastische Ver­schlech­terung der deutsch-russischen Bezie­hungen seit dem Herbst vergangenen Jah­res. Die politische Krise in Belarus und die Vergiftung Alexej Nawalnys haben die Temperatur des ohnehin frostigen Verhält­nisses weiter abgesenkt. Die nächste Bundes­regierung wird ihrer Russlandpolitik die Annahme zugrunde legen müssen, dass Verständigung und die Suche nach Kom­promissen mit Moskau angesichts der poli­tischen Verhärtung im Inneren noch schwie­riger werden wird. Gleichzeitig entsteht ein kaum auflösbarer Zielkonflikt für deutsche und europäische Russlandpolitik:

Die fünf Prinzipien der EU für den Um­gang mit Russland sind darauf ausgerichtet, Übergriffe des russischen Staates in der gemeinsamen Nachbarschaft und gegen­über der EU und ihren Mitgliedstaaten auf allen Ebenen entgegenzutreten. Gleichzeitig sollen die Kontakte mit der russischen Gesellschaft gestärkt und ausgebaut wer­den. Der Außenbeauftragte der EU, Josep Borrell, hat dem Europäischen Rat jüngst vorgeschlagen, diesen Ansatz im Prinzip beizubehalten. Angesichts der angespann­ten Lage soll jedoch mit größerem Nachdruck auf russische Vorstöße reagiert werden (push back), um die russische Poli­tik stärker einzuhegen (constrain).

Gleichzeitig bleiben gesellschaftliche Kontakte ein wichtiges Ziel. Die negative Dynamik auf der politischen Ebene verengt jedoch die Spielräume dafür erheblich – zumal Moskau alles daransetzt, die rus­sische Gesellschaft nach außen abzuschotten. Das fünfte Prinzip der EU, die Förderung von gesellschaftlichen Kontakten, wird auf diese Weise konterkariert. Die Listung der deutschen NGOs und die Unter­brechung des Petersburger Dialogs zeigen dies sehr deutlich. Deutschland und die EU mussten bereits in den vergangenen Jahren ihre Zu­sammenarbeit mit gesellschaftlichen Akteu­ren in Russland an die restriktiveren Bedin­gungen anpassen und mit einem hohen Maß an Sensibilität für den schwie­rigen Kontext agieren. Es gilt nun, auf die­sem Weg weiter vorsichtig voranzugehen und gleich­zeitig den Menschen in Russland zu signalisieren, dass das Interesse am Kontakt mit ihnen groß ist.

Deutschland und die EU werden sich außerdem auf einen Anstieg der Emigration aus Russland und Belarus einstellen müssen. Diese Menschen müssen unterstützt werden. Sie, wie die russische Com­munity generell, sind aber auch wichtige Ansprechpartnerinnen und ‑partner und mögliche Transmissionsriemen in die russische Gesellschaft hinein. Der direkte Kontakt mit der Bevölkerung in Russland ist durch die Pandemie abrupt unterbrochen worden und wird nach deren Über­windung schwierig bleiben. Visafreiheit für russische Bürgerinnen und Bürger, ein in der EU seit langem umstrittenes Thema, wird perspektivisch immer wichtiger wer­den, um den Kontakt mit der russischen Gesellschaft nicht abreißen zu lassen.

Dr. Sabine Fischer ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe Osteuropa und Eurasien.

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2021

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doi: 10.18449/2021A46