Seit Jahren erodiert die Rechtsstaatlichkeit in der Europäischen Union (EU), vor allem in Polen und Ungarn. Dem Rat der EU hat es bisher an politischem Willen gemangelt, dieser Auszehrung Einhalt zu gebieten; überdies erschweren vertragliche Hürden eine Sanktionierung der betroffenen Länder bis hin zur Aussetzung ihres Stimmrechts. Die Corona-Pandemie könnte das ändern. Als Reaktion auf den wirtschaftlichen Einbruch wurde gleichzeitig mit dem mehrjährigen EU-Haushalt (2021–27) beschlossen, den Mitgliedstaaten zusätzlich beträchtliche Finanzmittel zu gewähren. Wie auch der Haushalt selbst sind diese Mittel konditioniert: Ländern, die die Rechtsstaatlichkeit missachten, können sie gesperrt oder gar gekürzt werden. Dieser Hebel sollte konsequent genutzt werden. Dafür sprechen neben dem im EU-Vertrag (EUV) verankerten Selbstverständnis der EU als Werte- und Demokratieunion drei aktuelle Herausforderungen, vor denen die Union steht: EU-Gelder effektiv einzusetzen; ihre Handlungsfähigkeit durch Mehrheitsentscheidungen zu stärken; sich im Wettbewerb mit autokratischen Regimen zu behaupten. Nur als Demokratieunion kann sie diese Herausforderungen meistern.
Auf Veranlassung der EU-Kommission war Polen 2017 das erste EU-Mitglied, gegen das ein Verfahren nach Artikel 7 EUV eingeleitet wurde, auf Initiative des Europäischen Parlaments kam Ungarn 2018 hinzu. Im Zusammenhang mit ihrem im September 2020 vorgelegten Bericht über die Rechtsstaatlichkeit 2020. Die Lage der Rechtsstaatlichkeit in der Europäischen Union beschreibt die EU-Kommission das Verfahren als »ein außergewöhnliches Instrument, mit dem die EU tätig werden kann, wenn die eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der in Artikel 2 EUV genannten Werte, einschließlich der Rechtsstaatlichkeit, besteht oder eine schwerwiegende und anhaltende Verletzung dieser Werte vorliegt«. Im Konkreten besteht in Polen wie in Ungarn die schwerwiegende Verletzung in Maßnahmen, die die Unabhängigkeit der Justiz bedrohen. Diese Unabhängigkeit sieht die Kommission auch in Rumänien, Kroatien und der Slowakei gefährdet. Darüber hinaus äußert sie Bedenken wegen der politischen Einflussnahme auf Medien in Ungarn, Österreich, Bulgarien, Malta und Polen.
Es ist eine Stärke der EU, dass ihre Mitgliedstaaten bereit sind, durch eine supranationale Instanz wie die Kommission ihre Rechtsstaatlichkeit überprüfen zu lassen. Der Kommissionsbericht nennt dafür zwei maßgebliche Gründe: Die Achtung des Rechtsstaatsprinzips sei von wesentlicher Bedeutung sowohl für das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in öffentliche Einrichtungen als auch für das Funktionieren des Binnenmarkts, die Zusammenarbeit im Bereich Justiz und den Schutz der finanziellen Interessen der Union.
In der Tat: Das politische Projekt EU kann dauerhaft nur als Demokratie- und Rechtsstaatsunion erfolgreich sein. Aktuell unterstreichen das drei Herausforderungen, die Europa nur meistern und deren Chancen es nur nutzen kann, wenn die Erosion seiner demokratischen und rechtsstaatlichen Verfasstheit aufgehalten wird.
Die erste Herausforderung lautet, die wirtschaftlichen Einbrüche im Gefolge der Corona-Pandemie wettzumachen. Damit verbunden ist die Chance, die dafür eingesetzten Mittel nicht nur für einen Wiederaufbau zu verwenden, sondern gleichzeitig für einen nachhaltigen, digitalen und sozial inklusiven Umbau von Produktion und Konsum. Europa will bis 2050 klimaneutral werden und dabei wirtschaftlich wettbewerbsfähig und sozial solidarisch bleiben. Der mit dieser Transformation einhergehende Wandel und seine Kosten bergen Konfliktpotential in und zwischen den EU-Staaten, was wiederum den europäischen Zusammenhalt strapazieren kann.
In dieser Hinsicht hält die Corona-Pandemie eine zwiespältige Lehre bereit. Zu Anfang zeigten sich nationalistische Reflexe, als Mitgliedstaaten eigenmächtig Grenzen schlossen und Exportverbote für medizinische Güter verhängten. Rasch folgte jedoch die Einsicht, dass die Pandemie-Krise nicht gegeneinander, sondern nur miteinander zu bewältigen sei. Das hat zu einem für die EU präzedenzlosen Schritt geführt, dem sich Länder wie Deutschland bis dahin widersetzt hatten: in großem Umfang gemeinsame Schulden aufzunehmen.
Zu den dafür vorgesehenen 750 Milliarden Euro kommen reguläre Haushaltsmittel von 1,1 Billionen Euro für 2021–27 hinzu. Der größte Teil der Corona- wie auch der regulären Haushaltsmittel soll zügig und zielgerichtet dafür eingesetzt werden, die EU-Volkswirtschaften wiederauf- und umzubauen. Mangelnde Rechtsstaatlichkeit könnte dem entgegenstehen: Eine neu eingeführte Konditionalitätsregelung sieht vor, dass in Fällen, in denen Rechtsstaatlichkeit nicht gewährleistet ist, Corona-Aufbaugelder ebenso wie normale Haushaltsmittel zurückgehalten werden können. Das wäre eine drastische Sanktion mit EU-interner Sprengkraft – und zwar nicht erst, wenn es tatsächlich dazu käme, sondern bereits dann, wenn über das Ob und Wie einer solchen Sanktion gestritten würde. Derartige Konflikte könnten auf andere Politikfelder ausstrahlen und so die desintegrativen Auswirkungen verschärfen, die ohnehin von der Missachtung demokratischer und rechtsstaatlicher Grundsätze ausgehen.
Mehrheitsprinzip und Demokratieunion gehören zusammen
Die zweite Herausforderung besteht darin, die EU-Handlungsfähigkeit durch Mehrheitsentscheidungen zu erhalten und zu stärken. Die Ausdehnung der Möglichkeit, per Mehrheit im Rat abstimmen zu können, statt einstimmig beschließen zu müssen, kam mit der vertikalen Vertiefung und horizontalen Erweiterung der EU. Zum einen sind zunehmend nationale Politikfelder europäisiert, also von der nationalen auf die EU-Ebene verlagert worden, zum anderen ist die EU von ursprünglich sechs auf heute 27 Mitgliedstaaten angewachsen. Mehr Kompetenzen für die Union und zugleich mehr Mitglieder mit heterogenen Interessen und Orientierungen – hätte man an der Einstimmigkeit festgehalten, wäre eine Selbstblockade der EU vorprogrammiert gewesen.
Der Übergang zum Mehrheitsmodus wirft allerdings ein Spannungsverhältnis zwischen der Effektivität und der Legitimität von EU-Entscheidungen auf: Die Bereitschaft, sich überstimmen zu lassen und den so gefassten Beschluss trotzdem zu respektieren, wird strapaziert, wenn Minderheiten wesentliche nationale Interessen berührt sehen. Das gilt umso mehr, wenn zur jeweiligen Minderheit Mitgliedstaaten gehören, die wegen mangelnder Rechtsstaatlichkeit ohnehin am Pranger stehen. So widersetzen sich Polen und Ungarn der Umverteilung von Flüchtlingen, die nach den geltenden Regeln per Mehrheit beschlossen wurde.
Um Desintegration durch einen Konflikt zwischen Effektivität und Legitimität zu verhindern, bemühen sich die Mitgliedstaaten, möglichst im Konsens zu entscheiden. Dabei hilft, die Vetomacht einzelner oder kleiner Gruppen zu beschneiden. Einerseits begünstigt die Möglichkeit, überstimmt zu werden, die Kompromiss- und damit Konsensbereitschaft aller. Andererseits wird inzwischen in vielen Fällen routinemäßig und von allen akzeptiert im Mehrheitsverfahren entschieden. Im Ergebnis hat diese Abstimmungsoption, die Hand in Hand ging mit dem Kompetenzzuwachs für die europäische Ebene und der Erweiterung auf 27 Mitglieder, die Handlungsfähigkeit der EU gesichert.
Fast vollständig von dieser Entwicklung ausgenommen war bisher die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP). Das hat dazu geführt, dass die Frustration steigt, sowohl unter Mitgliedstaaten als auch in der Öffentlichkeit (vgl. SWP-Aktuell 31/2018). So war die EU im Herbst 2020 wochenlang unfähig, auf die Repression gegen die belarussische Opposition mit Sanktionen zu reagieren, weil Zypern mit seinem Veto drohte. Es brauchte ein Treffen der EU-Staats- und Regierungschefs, um das Land zu bewegen, den Weg für Sanktionen freizumachen. Ungarn hat sich einer Peking-kritischen Erklärung zu Hongkong ebenso widersetzt wie einer Erklärung zur Eskalation des Nahostkonflikts im Mai dieses Jahres. Selbst wenn es gelingt, solche Blockaden aufzulösen – die europäische Handlungsfähigkeit leidet, wenn Beschlüsse erst spät oder in abgeschwächter Form gefasst werden oder Mitgliedstaaten nur zustimmen, wenn sie in anderen Fragen Zugeständnisse erreicht haben.
Deshalb wird in Politik und Kommentaren gefordert, vom GASP-Einstimmigkeitsgebot abzurücken, von dem derzeit nur in eher unbedeutenden Fällen abgewichen werden könnte, etwa bei der Ernennung von EU-Sonderbeauftragten. Deutschland und Frankreich haben diese Forderung im Juni 2018 in ihrer »Erklärung von Meseberg« vorgebracht, auch Kommissionspräsidentin von der Leyen und der Hohe Vertreter für Außen- und Sicherheitspolitik Borrell haben sich dafür ausgesprochen. In gleicher Weise haben sich die Kanzlerkandidaten von CDU/CSU und SPD sowie die Kanzlerkandidatin von Bündnis 90/Die Grünen geäußert.
Weniger Einstimmigkeit und mehr Mehrheitsverfahren können die EU handlungsfähiger machen. Das trifft grundsätzlich ebenfalls auf die GASP zu. Doch müssen zwei Anforderungen erfüllt sein.
Erstens bräuchte es verlässliche Regeltreue, also das Vertrauen aller darauf, dass alle bereit sind, auch gegen sie erfolgte Entscheidungen zu respektieren. Vor allem große Mitgliedstaaten müssen das glaubwürdig vermitteln, denn sie können einfacher verhindern, dass gegen sie entschieden wird. Zum einen, weil sie mächtiger sind: Wirtschaftliche, finanzielle und militärische Macht verleiht auch unabhängig von formalen Entscheidungsregeln mehr Einfluss. Der andere Grund liegt in den Regeln selbst. Zwar bevorteilt die EU-Stimmenverteilung die bevölkerungsmäßig kleineren Mitglieder; gleichwohl erleichtert der Bevölkerungsfaktor großen Mitgliedstaaten, eine Sperrminorität zu organisieren. Deutschland zum Beispiel verfügt mit seinem Anteil von aktuell 18,5 Prozent an der EU-Gesamtbevölkerung über mehr als die Hälfte der für eine Sperrminorität erforderlichen 35 Prozent.
Die zweite Voraussetzung ist die demokratische und rechtsstaatliche Verfasstheit der EU und ihrer Mitgliedstaaten. Wie für Entscheidungen in nationalen Demokratien gilt ebenso für solche auf EU-Ebene, dass die Legitimität von Mehrheitsentscheidungen an Grundnormen gebunden ist, unter ihnen gemäß Artikel 2 EUV die Rechtsstaatlichkeit. Mehrheitsprinzip einerseits und Rechtsstaatlichkeit andererseits gehören zusammen.
Zwar hat die Möglichkeit, per Mehrheit entscheiden zu können, den Vorteil, dass es einfacher wäre, Beschlüsse auch ohne oder gar gegen rechtsstaatlich zweifelhafte Mitgliedstaaten zu fassen. Doch gibt es eine Kehrseite. Erstens verschärfen solche Beschlüsse möglicherweise eine ohnehin existierende Konfliktlinie mit ihnen, belasten mithin den Zusammenhalt innerhalb der EU zusätzlich. Zweitens kann es dazu kommen, dass Mehrheitsbeschlüsse nicht ohne oder gegen, sondern mit Hilfe von Mitgliedstaaten getroffen werden, deren Rechtsstaatlichkeit in Frage steht. Das untergräbt die Legitimität solcher Beschlüsse. Zudem hätte drittens von den rechtsstaatlich untadeligen EU-Mitgliedern keiner mehr ein Vetorecht. Im Ergebnis könnten gegen sie Beschlüsse gefasst werden, an denen Mitgliedstaaten beteiligt sind, deren Rechtsstaatlichkeit in Zweifel steht.
Fazit: Damit die EU durch das Mehrheitsprinzip handlungsfähig bleibt und handlungsfähiger wird, indem es zum Beispiel auf die GASP ausgeweitet wird, muss die Erosion der europäischen Demokratie- und Rechtsstaatsgemeinschaft gestoppt werden.
Nur als Demokratieunion kann die EU im Systemwettbewerb bestehen
Die dritte Herausforderung, mit der sich die EU konfrontiert sieht, ist China. Sein phänomenaler Aufstieg hat das Land in nur drei Jahrzehnten zur Weltmacht katapultiert. China ist nicht unverwundbar, doch ist es das einzige Land, das das Potential hat, die USA wirtschaftlich und technologisch nicht nur einzuholen, sondern zu überholen.
Dabei ist die chinesische Herausforderung mehr als eine machtpolitische. Chinas kommunistische Autokratie versteht sich als systemischer Gegenpol, der demonstriert, dass Wohlstand und Weltgeltung nicht nur mit westlicher Demokratie und Marktwirtschaft erreicht werden können, sondern auch – und vielleicht sogar besser – mit politischer Entmündigung und staatlicher Wirtschaftslenkung.
In ihrer Gipfelerklärung vom 15. Juni 2021 haben die EU und die USA bekundet, die systemische Herausforderung durch China anzunehmen. Zusammen sei man weltweit ein Anker für Demokratie, Frieden und Sicherheit; man sei entschlossen, durch eigenes Vorbild zu führen (»lead by example at home«). Das wird auch notwendig sein: Nur wenn globaler Anspruch und die Wirklichkeit im eigenen Land übereinstimmen, kann man glaubwürdig Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte vertreten und einfordern.
Der Biden-Administration ist bewusst, dass die USA ihre Demokratiemängel beheben müssen, die während der Präsidentschaft Trumps eklatant geworden sind. Das gilt im Prinzip ebenfalls für die EU: Um nicht nur im wirtschaftlich-technologischen, sondern gleichermaßen im politisch-systemischen Wettbewerb mit China zu bestehen, muss sie glaubwürdig sein. Das kann sie nur als intakte Demokratieunion.
Krisen und Herausforderungen bergen fast immer auch Chancen, die den Weg für Korrekturen und Reformen ebnen können. Im Hinblick auf die angeschlagene Rechtsstaatlichkeit in einigen EU-Staaten ist der wirksamste Hebel das Geld, sprich die Bindung von EU-Mitteln an die Beseitigung rechtsstaatlicher Defizite in den betroffenen Ländern. Die Kommission und die Mitgliedstaaten sollten verdeutlichen, dass sie gewillt sind, diesen Hebel nötigenfalls anzusetzen. Dann kann er, ähnlich wie das Mehrheitsprinzip die Bereitschaft zum Konsens fördert, ein Anreiz sein, rechtsstaatliche Fehlentwicklungen zu korrigieren, ohne dass Sanktionen verhängt werden.
Botschafter a. D. Dr. Eckhard Lübkemeier ist Gastwissenschaftler in der Forschungsgruppe EU / Europa.
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