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Rechtsstaatlichkeit und Handlungs­fähigkeit: Zwei Seiten einer EU-Medaille

Um drei aktuelle Herausforderungen zu bestehen, muss die EU die Erosion ihrer Rechtsstaatlichkeit stoppen

SWP-Aktuell 2021/A 49, 29.06.2021, 4 Pages

doi:10.18449/2021A49

Research Areas

Seit Jahren erodiert die Rechtsstaatlichkeit in der Europäischen Union (EU), vor allem in Polen und Ungarn. Dem Rat der EU hat es bisher an politischem Willen gemangelt, dieser Aus­zehrung Einhalt zu gebieten; überdies erschweren vertragliche Hürden eine Sank­tio­nie­rung der betroffenen Länder bis hin zur Aussetzung ihres Stimmrechts. Die Corona-Pandemie könnte das ändern. Als Reaktion auf den wirtschaft­lichen Ein­bruch wurde gleichzeitig mit dem mehrjährigen EU-Haushalt (2021–27) beschlossen, den Mitgliedstaaten zusätzlich beträchtliche Finanzmittel zu gewähren. Wie auch der Haushalt selbst sind diese Mittel konditioniert: Ländern, die die Rechtsstaatlichkeit missachten, können sie gesperrt oder gar gekürzt werden. Dieser Hebel sollte konse­quent genutzt werden. Dafür sprechen neben dem im EU-Vertrag (EUV) verankerten Selbstverständnis der EU als Werte- und Demokratieunion drei aktuelle Herausforderungen, vor denen die Union steht: EU-Gelder effektiv einzusetzen; ihre Handlungs­fähigkeit durch Mehrheits­entscheidungen zu stärken; sich im Wettbewerb mit auto­kratischen Regimen zu behaupten. Nur als Demokratieunion kann sie diese Herausforderungen meistern.

Auf Veranlassung der EU-Kommission war Polen 2017 das erste EU-Mitglied, gegen das ein Verfahren nach Arti­kel 7 EUV eingeleitet wurde, auf Initia­tive des Europäischen Par­laments kam Ungarn 2018 hinzu. Im Zusammenhang mit ihrem im September 2020 vorgelegten Bericht über die Rechtsstaatlichkeit 2020. Die Lage der Rechtsstaatlichkeit in der Europäischen Union beschreibt die EU-Kommission das Verfahren als »ein außer­gewöhnliches Instrument, mit dem die EU tätig werden kann, wenn die ein­deutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der in Arti­kel 2 EUV genannten Werte, ein­schließlich der Rechtsstaatlichkeit, besteht oder eine schwerwiegende und anhaltende Verletzung dieser Werte vor­liegt«. Im Kon­kreten besteht in Polen wie in Ungarn die schwer­wiegende Verletzung in Maßnahmen, die die Unabhängigkeit der Justiz bedrohen. Diese Unabhängigkeit sieht die Kommission auch in Rumänien, Kroatien und der Slo­wakei gefährdet. Dar­über hin­aus äußert sie Bedenken wegen der poli­ti­schen Ein­fluss­nahme auf Medien in Ungarn, Österreich, Bulgarien, Malta und Polen.

Es ist eine Stärke der EU, dass ihre Mitgliedstaaten bereit sind, durch eine supra­nationale Instanz wie die Kommission ihre Rechtsstaatlichkeit überprüfen zu lassen. Der Kommissionsbericht nennt dafür zwei maßgebliche Gründe: Die Achtung des Rechts­staats­prinzips sei von wesentlicher Bedeutung sowohl für das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in öffentliche Ein­richtungen als auch für das Funktionieren des Binnenmarkts, die Zusammenarbeit im Bereich Justiz und den Schutz der finan­ziellen Interessen der Union.

In der Tat: Das politische Projekt EU kann dauerhaft nur als Demokratie- und Rechts­staatsunion erfolgreich sein. Aktuell unter­streichen das drei Herausforderungen, die Europa nur meis­tern und deren Chancen es nur nutzen kann, wenn die Erosion seiner demokratischen und rechts­staatlichen Ver­fasstheit aufgehalten wird.

Die erste Herausforderung lautet, die wirtschaftlichen Einbrüche im Gefolge der Corona-Pandemie wettzumachen. Damit verbunden ist die Chance, die dafür ein­ge­setzten Mittel nicht nur für einen Wiederaufbau zu verwenden, sondern gleichzeitig für einen nachhaltigen, digitalen und sozial inklusiven Umbau von Produktion und Kon­sum. Europa will bis 2050 klimaneutral werden und dabei wirt­schaftlich wettbewerbsfähig und sozial solidarisch bleiben. Der mit dieser Transformation einhergehende Wandel und seine Kosten bergen Konfliktpotential in und zwi­schen den EU-Staaten, was wiederum den europäischen Zusammenhalt strapazieren kann.

In dieser Hinsicht hält die Corona-Pan­demie eine zwiespältige Lehre bereit. Zu Anfang zeigten sich nationalistische Re­flexe, als Mitgliedstaaten eigenmächtig Grenzen schlossen und Exportverbote für medizinische Güter verhängten. Rasch folgte jedoch die Einsicht, dass die Pande­mie-Krise nicht gegeneinander, sondern nur miteinander zu bewältigen sei. Das hat zu einem für die EU präzedenz­losen Schritt geführt, dem sich Länder wie Deutschland bis dahin widersetzt hatten: in großem Um­fang gemeinsame Schulden aufzunehmen.

Zu den dafür vorgesehenen 750 Milliar­den Euro kommen reguläre Haushaltsmittel von 1,1 Billionen Euro für 2021–27 hinzu. Der größte Teil der Corona- wie auch der regulären Haushaltsmittel soll zügig und zielgerichtet dafür eingesetzt werden, die EU-Volkswirt­schaf­ten wiederauf- und um­zubauen. Mangelnde Rechtsstaatlichkeit könnte dem entgegenstehen: Eine neu ein­geführte Konditionalitäts­regelung sieht vor, dass in Fällen, in denen Rechtsstaatlichkeit nicht gewähr­leistet ist, Corona-Aufbau­gelder ebenso wie normale Haus­haltsmittel zurückgehalten werden können. Das wäre eine drastische Sanktion mit EU-interner Sprengkraft – und zwar nicht erst, wenn es tatsächlich dazu käme, sondern bereits dann, wenn über das Ob und Wie einer sol­chen Sank­tion gestritten würde. Der­artige Konflikte könnten auf andere Politikfelder ausstrahlen und so die des­integrativen Auswirkungen verschärfen, die ohnehin von der Missachtung demokratischer und rechts­staatlicher Grundsätze aus­gehen.

Mehrheitsprinzip und Demokra­tie­union gehören zusammen

Die zweite Herausforderung besteht darin, die EU-Handlungsfähigkeit durch Mehrheits­entscheidungen zu erhalten und zu stär­ken. Die Ausdehnung der Möglichkeit, per Mehrheit im Rat abstimmen zu können, statt einstimmig beschließen zu müssen, kam mit der vertikalen Vertiefung und horizontalen Erweiterung der EU. Zum einen sind zunehmend nationale Politik­felder europäisiert, also von der natio­nalen auf die EU-Ebene verlagert worden, zum anderen ist die EU von ur­sprünglich sechs auf heute 27 Mitglied­staaten ange­wachsen. Mehr Kompeten­zen für die Union und zu­gleich mehr Mitglieder mit hetero­genen Interessen und Orientierungen – hätte man an der Einstimmigkeit fest­gehalten, wäre eine Selbstblockade der EU vorprogrammiert gewesen.

Der Übergang zum Mehrheitsmodus wirft allerdings ein Spannungsverhältnis zwischen der Effektivität und der Legitimität von EU-Entscheidungen auf: Die Bereit­schaft, sich überstimmen zu lassen und den so gefassten Beschluss trotzdem zu respek­tieren, wird strapaziert, wenn Minderheiten wesentliche nationale Interessen berührt sehen. Das gilt umso mehr, wenn zur jewei­ligen Minder­heit Mitgliedstaaten gehö­ren, die wegen mangelnder Rechtsstaatlichkeit ohne­hin am Pranger stehen. So wider­setzen sich Polen und Ungarn der Umverteilung von Flüchtlingen, die nach den geltenden Re­geln per Mehrheit beschlossen wurde.

Um Desintegration durch einen Konflikt zwischen Effektivität und Legitimität zu verhindern, bemühen sich die Mitgliedstaaten, möglichst im Konsens zu entscheiden. Dabei hilft, die Vetomacht einzelner oder kleiner Gruppen zu be­schneiden. Einerseits begünstigt die Möglichkeit, überstimmt zu werden, die Kompromiss- und damit Konsens­bereitschaft aller. Andererseits wird inzwischen in vielen Fällen rou­tine­mäßig und von allen akzeptiert im Mehr­heits­ver­fahren ent­schieden. Im Ergeb­nis hat diese Abstimmungsoption, die Hand in Hand ging mit dem Kompetenzzuwachs für die europäische Ebene und der Erwei­terung auf 27 Mit­glieder, die Handlungs­fähigkeit der EU gesichert.

Fast vollständig von dieser Entwicklung ausgenommen war bisher die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP). Das hat dazu geführt, dass die Frustration steigt, sowohl unter Mitgliedstaaten als auch in der Öffentlichkeit (vgl. SWP-Aktuell 31/2018). So war die EU im Herbst 2020 wochenlang unfähig, auf die Repression gegen die bela­russische Opposition mit Sanktionen zu reagie­ren, weil Zypern mit seinem Veto drohte. Es brauchte ein Treffen der EU-Staats- und Regierungschefs, um das Land zu bewegen, den Weg für Sanktionen frei­zumachen. Ungarn hat sich einer Peking-kritischen Erklä­rung zu Hongkong ebenso widersetzt wie einer Erklärung zur Eska­la­tion des Nah­ostkonflikts im Mai dieses Jahres. Selbst wenn es gelingt, solche Blocka­den aufzulösen – die europäische Hand­lungsfähigkeit leidet, wenn Beschlüsse erst spät oder in abgeschwächter Form gefasst werden oder Mitgliedstaaten nur zustimmen, wenn sie in anderen Fragen Zugeständ­nisse erreicht haben.

Deshalb wird in Politik und Kommentaren gefordert, vom GASP-Einstim­mig­keits­gebot abzurücken, von dem derzeit nur in eher unbedeutenden Fällen abgewichen werden könnte, etwa bei der Ernen­nung von EU-Sonderbeauftragten. Deutschland und Frankreich haben diese Forderung im Juni 2018 in ihrer »Erklärung von Meseberg« vorge­bracht, auch Kommissions­präsiden­tin von der Leyen und der Hohe Vertreter für Außen- und Sicherheitspolitik Borrell haben sich dafür ausgesprochen. In glei­cher Weise haben sich die Kanzlerkandidaten von CDU/CSU und SPD sowie die Kanzler­kandi­datin von Bündnis 90/Die Grünen geäußert.

Weniger Einstimmigkeit und mehr Mehr­heitsverfahren können die EU hand­lungs­fähiger machen. Das trifft grundsätzlich ebenfalls auf die GASP zu. Doch müssen zwei Anforderungen erfüllt sein.

Erstens bräuchte es verlässliche Regeltreue, also das Vertrauen aller darauf, dass alle bereit sind, auch gegen sie erfolgte Ent­scheidungen zu respektieren. Vor allem große Mitgliedstaaten müssen das glaubwürdig vermitteln, denn sie können ein­facher verhindern, dass gegen sie entschieden wird. Zum einen, weil sie mächtiger sind: Wirtschaftliche, finanzielle und mili­täri­sche Macht verleiht auch unabhängig von formalen Entscheidungsregeln mehr Ein­fluss. Der andere Grund liegt in den Regeln selbst. Zwar bevorteilt die EU-Stim­men­verteilung die bevölkerungsmäßig kleine­ren Mitglieder; gleichwohl erleichtert der Bevöl­kerungs­faktor großen Mitgliedstaaten, eine Sperrminorität zu organi­sie­ren. Deutschland zum Beispiel verfügt mit seinem Anteil von aktuell 18,5 Prozent an der EU-Gesamt­bevölkerung über mehr als die Hälfte der für eine Sperrminorität erfor­derlichen 35 Prozent.

Die zweite Voraussetzung ist die demokratische und rechtsstaatliche Verfasstheit der EU und ihrer Mitgliedstaaten. Wie für Entscheidungen in nationalen Demokratien gilt ebenso für solche auf EU-Ebene, dass die Legitimität von Mehrheitsentscheidungen an Grundnormen gebunden ist, unter ihnen gemäß Artikel 2 EUV die Rechtsstaatlichkeit. Mehrheitsprinzip einerseits und Rechtsstaat­lichkeit andererseits gehören zusammen.

Zwar hat die Möglichkeit, per Mehrheit entscheiden zu können, den Vorteil, dass es einfacher wäre, Beschlüsse auch ohne oder gar gegen rechtsstaatlich zweifelhafte Mit­gliedstaaten zu fassen. Doch gibt es eine Kehrseite. Erstens verschärfen solche Be­schlüsse möglicherweise eine ohnehin exis­tierende Konfliktlinie mit ihnen, belas­ten mithin den Zusammenhalt innerhalb der EU zusätzlich. Zweitens kann es dazu kommen, dass Mehrheitsbeschlüs­se nicht ohne oder gegen, sondern mit Hilfe von Mitgliedstaaten getroffen werden, deren Rechtsstaatlichkeit in Frage steht. Das unter­gräbt die Legitimität solcher Beschlüsse. Zudem hätte drittens von den rechtsstaatlich untadeligen EU-Mitgliedern keiner mehr ein Vetorecht. Im Ergebnis könnten gegen sie Beschlüsse gefasst werden, an denen Mitgliedstaaten beteiligt sind, deren Rechtsstaatlichkeit in Zweifel steht.

Fazit: Damit die EU durch das Mehr­heits­prinzip handlungsfähig bleibt und hand­lungsfähiger wird, indem es zum Bei­spiel auf die GASP ausgeweitet wird, muss die Erosion der europäischen Demo­kratie- und Rechtsstaatsgemeinschaft gestoppt werden.

Nur als Demokratieunion kann die EU im Systemwettbewerb bestehen

Die dritte Herausforderung, mit der sich die EU konfrontiert sieht, ist China. Sein phä­no­menaler Aufstieg hat das Land in nur drei Jahrzehnten zur Weltmacht katapultiert. China ist nicht unverwundbar, doch ist es das einzige Land, das das Potential hat, die USA wirtschaftlich und technologisch nicht nur einzuholen, sondern zu überholen.

Dabei ist die chinesische Herausforderung mehr als eine machtpolitische. Chinas kommunistische Autokratie versteht sich als systemischer Gegenpol, der demonst­riert, dass Wohlstand und Weltgeltung nicht nur mit westlicher Demokratie und Marktwirtschaft erreicht werden können, sondern auch – und viel­leicht sogar bes­ser – mit politischer Entmündigung und staatlicher Wirtschaftslenkung.

In ihrer Gipfelerklärung vom 15. Juni 2021 haben die EU und die USA bekundet, die systemische Herausforderung durch China anzunehmen. Zusammen sei man weltweit ein Anker für Demokratie, Frieden und Sicherheit; man sei ent­schlossen, durch eigenes Vor­bild zu führen (»lead by example at home«). Das wird auch not­wendig sein: Nur wenn globa­ler Anspruch und die Wirk­lichkeit im eigenen Land über­einstimmen, kann man glaubwürdig Demo­kratie, Rechts­staatlichkeit und Menschenrechte vertreten und einfordern.

Der Biden-Administration ist bewusst, dass die USA ihre Demokratiemängel be­heben müssen, die während der Prä­sident­schaft Trumps eklatant geworden sind. Das gilt im Prinzip ebenfalls für die EU: Um nicht nur im wirtschaftlich-technolo­gi­schen, son­dern gleichermaßen im poli­tisch-systemi­schen Wettbewerb mit China zu bestehen, muss sie glaubwürdig sein. Das kann sie nur als intakte Demokratie­union.

Krisen und Herausforderungen bergen fast immer auch Chancen, die den Weg für Korrekturen und Reformen ebnen können. Im Hinblick auf die angeschlagene Rechts­staatlichkeit in einigen EU-Staaten ist der wirksamste Hebel das Geld, sprich die Bin­dung von EU-Mitteln an die Beseitigung rechtsstaatlicher Defizite in den betroffenen Ländern. Die Kommission und die Mitgliedstaaten sollten verdeutlichen, dass sie ge­willt sind, diesen Hebel nötigenfalls anzu­setzen. Dann kann er, ähn­lich wie das Mehr­heitsprinzip die Bereitschaft zum Kon­sens fördert, ein Anreiz sein, rechtsstaat­liche Fehlentwicklungen zu kor­rigie­ren, ohne dass Sanktionen verhängt werden.

Botschafter a. D. Dr. Eckhard Lübkemeier ist Gastwissenschaftler in der Forschungsgruppe EU / Europa.

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2021

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