Eine gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik ist existenziell für das Fortbestehen der EU, schreibt Ronja Kempin. Deutschland und Frankreich müssen hier wieder auf einen gemeinsamen Weg finden.
Kurz gesagt, 31.10.2011 Research AreasRonja Kempin
Eine gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik ist existenziell für das Fortbestehen der EU, schreibt Ronja Kempin. Deutschland und Frankreich, die in der Eurokrise so eng zusammenarbeiten, müssen auch hier wieder auf einen gemeinsamen Weg finden.
Die Einheit zwischen Deutschland und Frankreich ist dieser Tage wichtiger denn je. An ihr hängt die Rettung des Euros. Von ihr hängt aber auch die Zukunft der EU als außen- und sicherheitspolitischer Akteur ab. Eine Union, die weder in der Lage ist, ihre Bürger vor Bedrohungen zu schützen noch Klarheit darüber hat, welchen sicherheits- und verteidigungspolitischen Herausforderungen sie künftig entgegentreten will, kann auf Dauer keinen Bestand haben. Während Berlin und Paris intensiv daran arbeiten, die Krise der Eurozone zu lösen, driften beide Partner in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik immer weiter auseinander.
Seit nunmehr drei Jahren gelingt es hier nicht, der beiderseitigen Entfremdung Einhalt zu gebieten. Im Sommer 2008 verhandelte Paris seine Rückkehr in die militärische Integration der Nato mit Großbritannien und den USA. Im Gegenzug verweigerte Berlin, welches in diesem Prozess, auf den es über 40 Jahre lang hingewirkt hatte, nur Zaungast sein durfte, seinem wichtigsten EU-Partner die Zustimmung zu einer weitreichenden Stärkung der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP).
Heute trifft die Bundesregierung Frankreich mit ihrer Forderung nach einer Denuklearisierung Europas ebenso ins Mark wie mit ihrem Kurs sicherheits- und verteidigungspolitischer Enthaltsamkeit, welche in der Verweigerung gipfelte, an der alliierten Luftoperation zum Schutz der libyschen Bevölkerung teilzunehmen. Paris dagegen intensiviert demonstrativ die Zusammenarbeit mit Großbritannien – im November 2010 unterzeichneten London und Paris zwei rechtsverbindliche Verträge zur sicherheits- und verteidigungspolitischen Kooperation – und droht, aus der deutsch-französisch-polnischen Initiative zur Einrichtung eines Hauptquartiers zur Planung und Führung von EU-Operationen und Missionen auszusteigen. Ihrem bilateralen Ränke- und Kränkespiel haben die beiden Partner die Erreichung der Lissabonner Vertragsziele in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik längst untergeordnet.
Es droht eine sicherheits- und verteidigungspolitische Spaltung Europas
Beenden die Regierungsverantwortlichen in Berlin und Paris dieses kontraproduktive Verhalten nicht möglichst rasch, werden die Folgen für die EU gravierend, die Kollateralschäden für Nato sowie für die sicherheits- und verteidigungspolitische Handlungsfähigkeit einzelner europäischer Staaten kaum zu beheben sein. Gegenwärtig setzt Frankreich darauf, seine Verteidigung sowie den eigenen sicherheitspolitischen Handlungsspielraum außerhalb der EU-Strukturen zu realisieren. Aus Frustration über die mangelnden Fortschritte der Mitgliedstaaten bei der Verbesserung der militärischen Fähigkeiten der EU hat sich Paris mit London darauf geeinigt, strategische Kernfähigkeiten – Drohnen, Satellitenkommunikation, Flugzeugträger – gemeinsam zu entwickeln und anzuschaffen.
Deutschland nimmt an diesem Prozess nicht teil. Berlin bemüht sich hingegen innerhalb der EU darum, militärische Defizite künftig mit allen willigen Partnern über ein gezieltes Pooling und Sharing von Fähigkeiten zu beheben. Der Fokus dieser Initiative ist jedoch zuvorderst auf die Bereiche Ausbildung, Logistik und Kommandostrukturen konzentriert, weshalb Frankreich und Großbritannien ihm wenig Beachtung schenken. Ihr Ziel ist eine substantielle Verbesserung der militärischen Kapazitäten ihrer europäischen Verbündeten.
Damit droht eine sicherheits- und verteidigungspolitische Spaltung Europas. Während eine Gruppe von Staaten die Fähigkeit zu militärischer Machtprojektion weiterhin als zentral erachtet und auf deren Erhaltung abzielt, begnügt sich eine andere damit, eine minimale Verteidigungsfähigkeit aufrecht zu erhalten. Erstes Opfer dieser Teilung wird die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU sein. Ohne die Beteiligung ihre beiden militärisch potenten Länder – Frankreich und Großbritannien – sind die Mitgliedstaaten der EU nicht in der Lage, militärische Operationen mittlerer Größe und Reichweite durchzuführen. Ob das Langfristprojekt einer Politischen Union Europas ohne eine gemeinsame Sicherheitspolitik zu realisieren ist, darf bezweifelt werden. Nach der GSVP wird die Nato Schaden aus der sicherheits- und verteidigungspolitischen Zweiteilung Europas nehmen. Die Hoffnung der USA auf eine verbesserte Lastenteilung werden allein Frankreich und Großbritannien erfüllen können. Ähnlich wie in Libyen laufen die übrigen Mitglieder der Union Gefahr, zu Randfiguren des Weltgeschehens zu werden. Mittelfristig ist darüber hinaus nicht auszuschließen, dass sich Washington wirklich aus einer euro-atlantischen Partnerschaft zurückzieht, die ihm so wenig Unterstützung und Entlastung bietet – eine Option, die Frankreich und Deutschland ebenso wenig zulassen sollten wie das Zerfasern des europäischen Projektes.
Berlin und Paris müssen sich über die strategischen Ambitionen verständigen
Um Europa vor weiterem Schaden zu bewahren, sind Deutschland und Frankreich verpflichtet, der Erosion der GSVP Einhalt zu gebieten. Zwei Schritte sollten dazu unmittelbar eingeleitet werden. Zum einen sollten sich Berlin und Paris schnellstmöglich darüber verständigen, welche Ziele die EU außen-, sicherheits- und verteidigungspolitisch erreichen will. Bis heute fehlt es der EU an einem Konsens über die strategischen Ambitionen. In welche Konflikte will die EU eingreifen, wie weit soll ihr Aktionsradius reichen, welchen Stellenwert sollen militärische Fähigkeiten genießen? Diese Fragen bedürfen alsbald einer Beantwortung. Diese Antwort können allein Berlin und Paris vorformulieren, die in diesem Politikfeld derart weit voneinander entfernt liegen, dass ihre Vorgaben für die EU-Mitglieder noch immer konsensfähig sind.
Parallel zu diesem Schritt sollten beide Seiten das Instrument der Ständigen Strukturierten sicherheits- und verteidigungspolitische Zusammenarbeit im EU-Rahmen mit Leben erfüllen. Hierzu müssten dringend Kriterien definiert werden, welche Erfordernisse erfüllt sein sollten, um in kleineren Gruppen sicherheits- und verteidigungspolitisch voranschreiten zu können – auf operativer Ebene ebenso wie bei der Generierung militärischer Fähigkeiten.
Verschließen beide Seiten weiter die Augen vor den Konsequenzen ihrer bilateralen Agonie in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik, drohen wir bald, da anzukommen, wo wir heute in der Euro-Krise stehen: Sehr nahe am Abgrund.
Die Notwendigkeit einer Wiedereinbindung Frankreichs und Großbritanniens
Französisch-britischer Bilateralismus in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik
Sinneswandel, Pragmatismus, Politik für Europa?