Südkorea und die USA haben gemeinsame Militärübungen im März aufgrund der Covid‑19-Pandemie abgesagt. Pjöngjang dagegen, das Infizierungen im eigenen Land abstreitet, führte zwischen Ende Februar und Mitte April 2020 fünf Tests ballistischer Raketen durch und hielt sieben Militärübungen ab. Das nordkoreanische Regime demonstriert damit erneut seine Fähigkeiten und seine Entschlossenheit, nukleare Trägersysteme weiterzuentwickeln. Sollen die jüngsten Waffentests mit Blick auf etwaige Verhandlungen Druck auf Washington ausüben oder will Pjöngjang damit seinen Status als nuklear bewaffnete Militärmacht vorführen? Im Herbst 2020 stehen für Donald Trump die Präsidentschaftswahlen an, für das Regime Kim Jong Uns die Feierlichkeiten zum 75. Jubiläum der Arbeiterpartei. Für beide wäre ein außenpolitischer Erfolg wichtig; die derzeitige Entwicklung, die von Raketentests und dem Fehlen von Verhandlungen gekennzeichnet ist, lässt jedoch wenig Raum für positive Szenarien.
Pjöngjangs Rhetorik gegenüber Washington hat sich wieder verschärft: Staatsmedien beteuerten im März 2020 die Notwendigkeit (und den Willen), »taktische und strategische« Waffen weiterzuentwickeln, solange die USA ihre Sanktions- und Allianzpolitik fortsetzen (KCNA 2020). Schon in Kim Jong Uns Neujahrsansprache 2019 war von der »Notwendigkeit eines neuen Weges« die Rede – sollten Sanktionsdruck und Forderungen unilateraler Abrüstung aufrechterhalten werden (Kim 2019a). In seiner Rede vor der Obersten Volksversammlung im April 2019 setzte Machthaber Kim eine Frist für Verhandlungen mit Washington – bzw. für amerikanische Zugeständnisse – bis zum Ende des Jahres (Kim 2019b). Vor der Vollversammlung der Arbeiterpartei im Dezember 2019 bekräftigte Kim Jong Un, dass die Konfliktsituation unverändert sei und Nordkorea eine ominöse »neue strategische Waffe« entwickeln werde (Kim 2019c).
Diese Rhetorik und die Wiederaufnahme von Waffentests sind einerseits Teil der Selbstdarstellung des Kim-Regimes. Sie dienen als Beweis der Stärke und sollen innenpolitische Unterstützung mobilisieren. Nach außen wird signalisiert, dass Sanktionen nicht wie von Washington erhofft die Verhandlungsbereitschaft fördern und dass Pjöngjang keine Einschränkungen seiner Nuklear- und Raketenprogramme akzeptiert. Andererseits haben Nordkoreas jüngste Tests auch einen gewissen Nutzen für Beobachter: Anhand der Berichterstattung und der Informationen über die getesteten Systeme lässt sich ableiten, welche Fähigkeiten und Qualitäten des Arsenals weiterentwickelt werden und welcher Strategie das dienen soll.
Testphase für Mobilität, Fähigkeit zum Mehrfachschuss und Einsatzbereitschaft
Nachdem von Dezember 2017 bis April 2019 eine Testpause herrschte, wird nun an einen Trend angeknüpft, der in den Jahren 2016 und 2017 ersichtlich war (siehe SWP-Aktuell 58/2017): Die vier Tests von Kurzstreckenraketen im März 2020 veranschaulichen, dass Mobilität und (Einsatz-)Flexibilität ballistischer Raketen verbessert wurden, denn dabei wurden straßenmobile Abschussfahrzeuge sowie mit Feststoff betriebene Raketenmotoren genutzt. Feststoff-Raketen lassen sich in betanktem Zustand transportieren und sind damit schneller einzusetzen und schwieriger aufzufinden. Während 2017 auch Mittelstreckenraketen mit diesen zwei Eigenschaften getestet wurden, erprobte Pjöngjang zwischen Mai 2019 und März 2020 die Einsatzbereitschaft von drei neuartigen Typen von Kurzstreckenraketen: KN-23, KN‑24 und KN-25. KN‑23 hat äußere Ähnlichkeiten mit der russischen Iskander‑M und der südkoreanischen Hyunmoo‑2B, KN‑24 mit einem taktischen Raketensystem der USA (MGM-140 Army Tactical Missile Systems); KN‑25 schließlich wird als Mehrfach-Raketenabschusssystem oder Langstreckenartillerie beschrieben.
Die Tests von KN-24 und KN-25 im März zeigen Verbesserungen bei der Abschussschnelligkeit. So verstrichen nur 20 Sekunden zwischen zwei Abschüssen des KN‑25-Systems (vorher waren es zwischen 17 und 24 Minuten). Die KN-24 könnte außerdem technisch als konventionell oder nuklear bestückbares taktisches Raketensystem eingesetzt werden. Nordkorea besitzt insofern mindestens fünf verschiedene Kurzstreckenraketensysteme (siehe Tabelle a), S. 3), die das südkoreanische Territorium abdecken – ob sich die Raketen mit konventionellen Sprengköpfen oder mit Massenvernichtungswaffen bestücken lassen, ist schwer einzuschätzen. Diese Ambiguität steigert die Abschreckungswirkung dieser Systeme. Überdies entwickelt das Regime weitere Kurzstreckensysteme, die im Kampfeinsatz große Bedeutung hätten: Mitte April 2020 ließ Pjöngjang bodengestützte Anti-Schiffs-Marschflugkörper sowie luftgestützte, von Kampfflugzeugen abzufeuernde Raketen testen.
Im Oktober 2019 testete Pjöngjang erstmals die Pukguksong-3 (KN-26). Dieser Raketentyp hat eine Reichweite von bis zu 1 900 km und besitzt einen Feststoffantrieb. Laut nordkoreanischen Staatsmedien wurde die KN‑26 von einem neuen Unterseeboot aus abgefeuert; nach Aussagen des Pentagon handelte es sich um eine Untersee-Plattform. Denkbar ist ein ähnlicher Ablauf wie bei dem Vorläufermodell Pukguksong‑1, das im Mai 2015 zuerst von einer Plattform und dann ab November 2015 von einem Unterseeboot aus getestet wurde, letzteres fünf Mal. Eine Analyse kommerzieller Satellitenbilder deutet darauf hin, dass das Regime Anfang April 2020 eine Startsimulation in der Sinpo-Werft durchführen ließ; das ist eine Maßnahme, die den Abschuss seegestützter Raketen vorbereitet. Nordkorea besitzt ein Unterseeboot der Sinpo-B-Klasse, das sich für den Einsatz ballistischer Raketen nutzen lässt. Seit Oktober 2017 wird am Nachfolgemodell gearbeitet, der Sinpo-C-Klasse, von der im Juli 2019 Bilder in nordkoreanischen Staatsmedien gezeigt wurden.
Auch wenn höchst fraglich ist, wie weit die Entwicklung von Unterseebooten gediehen ist, die mit Raketen bestückt werden können, und welchen Grad an Einsatzbereitschaft sie erlangt haben, dürfen Pjöngjangs Ambitionen, über seegestützte ballistische Raketen zu verfügen, nicht unterschätzt werden. Auf See abgefeuerte Raketen und schnell einsatzbereite Kurzstreckenraketensysteme – vor allem mit Eigenschaften wie Mobilität, Lenkbarkeit und Fähigkeit zum Mehrfachabschuss – sind in der Lage, Raketenabwehrsysteme zu überwinden. Trotz internationaler Sanktionen und einem selbstauferlegten Moratorium scheint das
Quelle: Center for Strategic and International Studies (CSIS), »Missiles of North Korea«, <https://bit.ly/2SDojGd>. |
nordkoreanische Regime die Absicht zu haben, wichtige Teile seines Arsenals weiterzuentwickeln. Zwar lassen sich keine relevanten Aktivitäten auf der Sohae-Satellitentestanlage oder auf der Nukleartestanlage erkennen. Satellitenbilder zeigen aber, dass Nordkorea an der Produktion mobiler Abschussfahrzeuge arbeitet. Ein Dutzend mobiler Abschusssysteme waren als forstwirtschaftliche Arbeitsfahrzeuge importiert und zu militärischen Zwecken umgebaut worden. Die Konzentration knapper Ressourcen auf bestimmte Fähigkeiten lässt wiederum auf eine spezifische Abschreckungsstrategie schließen, wie sie Pjöngjang offenbar im Blick hat.
Abschreckung à la Pjöngjang
Das nordkoreanische Militär ist demjenigen Südkoreas, das zudem durch US-Streitkräfte unterstützt wird, qualitativ klar unterlegen. Die große Zahl seiner Bodentruppen, die an der Teilungslinie in günstiger Lage stationierte Artillerie und seine Massenvernichtungswaffen bringen Pjöngjang jedoch asymmetrische Vorteile. Im Konfliktfall könnte Nordkorea sowohl nukleare wie auch biologische und chemische Kampfmittel einsetzen. Das übergeordnete Ziel, das Pjöngjang mit der atomaren Bewaffnung und ihrer qualitativen Verbesserung verbindet, ist es, die Sicherheit des Regimes zu erhöhen und sein Überleben zu sichern: Nuklearwaffenfähigkeiten sind keine Trumpfkarten für nordkoreanische Angriffsszenarien, sie sollen in erster Linie einen Angriff durch die USA (oder Südkorea) abschrecken.
Das nordkoreanische Regime wird wohl nie in der Lage sein, die USA von der Stationierung strategischer Waffen in der Region abzuhalten oder sie von jeglicher Anwendung militärischer Gewalt abzuschrecken. Doch kann es die territoriale nukleare Bedrohung als asymmetrischen Vorteil dazu nutzen, Washingtons Kosten-Nutzen-Kalkulation zu beeinflussen. Aus Kim Jong Uns Aussagen und den waffentechnologischen Entwicklungen unter seiner Regentschaft lässt sich eine Strategie der minimalen nuklearen Abschreckung erkennen: Als Antwort auf die Gefahr, dass die USA das Regime in Pjöngjang stürzen oder mit einem Präventivschlag dessen Nuklearwaffenfähigkeit zerstören, dient ein Minimum nuklearer Abschreckung, das die Möglichkeit bietet, den Gegner direkt zu bedrohen. Dies wurde 2017 mittels der Fähigkeit demonstriert, einen nuklearen Sprengkopf zum amerikanischen Festland zu transportieren (siehe Tabelle b), S. 3). Zwar bleibt ungewiss, wie verlässlich der Flugkörper und wie präzise die Lenkfähigkeit im Ernstfall sind. Ebenso ist ungewiss, ob dem Sprengkopf der Wiedereintritt in die Erdatmosphäre gelingt und ob er (als wichtigstes Element der Einsatzmission) in das Ziel befördert werden kann. Doch ist die wachsende, waffentechnisch unterfütterte Bedrohung des Gegners die erste Komponente in Pjöngjangs Abschreckungslogik.
Der Vermutung potentieller Gegner – bzw. westlicher Expertinnen und Experten –, dass es den nordkoreanischen Waffensystemen an technischer Zuverlässigkeit fehle, versucht Pjöngjang zu begegnen, indem es seine technologischen Fortschritte zur Schau stellt: Nordkoreas Nuklearprogramm umfasst die Wiederaufbereitung waffenfähigen Plutoniums, die Hochanreicherung von Uran und wahrscheinlich auch die Produktion von Tritium. Die Sprengkraft nuklearer Sprengköpfe kann je nach Zusammensetzung variieren (siehe Grafik, S. 5); so kann Nordkorea wohl nicht nur Kernspaltungsbomben, sondern auch Wasserstoffbomben bauen (oder ähnliche Designs, die auf Kernfusion beruhen). Es ist davon auszugehen, dass Pjöngjang zur Miniaturisierung und kontinuierlichen Produktion nuklearer Sprengköpfe fähig ist. Das Regime arbeitet zudem, wie beschrieben, an der Verbesserung von Mobilität und Flexibilität, Präzision und Lenkbarkeit, Schnelligkeit und multipler Abschussfähigkeit seiner Kurzstreckenraketensysteme.
Kurzstreckenraketen und seegestützte Raketensysteme suggerieren eine Überlebensfähigkeit, die durch Diversität erzielt wird, ebenso wie die Möglichkeit, bestehende Raketenabwehrsysteme zu umgehen. Seegestützte Fähigkeiten können darüber hinaus als zweites Standbein der nuklearen Abschreckung fungieren. Die zweite Komponente der Abschreckungslogik Pjöngjangs ist denn auch seine Zweitschlagsfähigkeit, also die Fähigkeit, einen Angriff zu überleben und Vergeltung zu üben – diese Fähigkeit ist begrenzt, aber signifikant. Als Ziele für Vergeltungsschläge können auch Militärstützpunkte der USA auf südkoreanischem und japanischem Territorium dienen.
Die dritte Komponente ist die Einsatzwilligkeit und Risikofreude des Regimes. In der innenpolitischen Propaganda wird ständig mobilisiert und an die Aufopferungsbereitschaft appelliert; koreanisch- und englischsprachige Verlautbarungen der amtlichen Nachrichtenagentur betonen die Einsatzfähigkeit der neuen »taktischen und strategischen« Waffensysteme. Die englischsprachige Berichterstattung verweist zudem auf die Schlagkraft, Präzision und Verlässlichkeit der neuen Systeme. So wurden jüngste Waffentests als Militärübungen dargestellt, auch um deutlich zu machen, dass die Soldaten, die operative Führung und die Waffensysteme bereit und in der Lage sind, Überraschungsangriffe abzuwehren und Gegenschläge auszuführen.
1 Mary Beth D. Nikitin, North Korea’s Nuclear and Ballistic Missile Programs, Washington, D.C.: 2 Hans M. Kristensen/Matt Korda, Status of World Nuclear Forces, 2020, <https://bit.ly/3c7R5GB>. 3 S. N. Kile et al., »World Nuclear Forces«, in: SIPRI Yearbook 2019: Armaments, Disarmament and 4 Siegfried Hecker, »What We Really Know about North Korea’s Nuclear Weapons, 5 Center for Strategic and International Studies (CSIS), »Missiles of North Koreas«, <https://bit.ly/2SDojGd>. |
Auch wenn kontinuierlich suggeriert wird, dass Kim Jong Un als oberster Macht- und Befehlshaber sämtliche Waffenentwicklungen initiiert und begleitet, fanden die Tests am 29. März und 14. April in Abwesenheit Kims und ohne dessen Anleitung statt. Die Projektion allgemeiner Einsatzbereitschaft und die Demonstration von Widerstandskraft sind grundlegende Bestandteile der nordkoreanischen Abschreckungsstrategie. Selbst wenn sein oberster Befehlshaber abwesend ist, wird das nordkoreanische Militär das Regime verteidigen, so die Propaganda.
Nach Verlautbarungen Kim Jong Uns soll die nationale Verteidigungsstrategie perfektioniert werden; die Weiterentwicklung von Raketen zu Trägersystemen für nukleare Sprengsätze ermögliche hierbei die »verlässliche Abschreckung des Krieges« (KCNA 2020). Abgesehen von solchen Beteuerungen defensiver Absichten stellt sich Nordkorea als verantwortungsvoller Nuklearwaffenstaat dar, der Prinzipien wie den Nicht-Ersteinsatz und die Nicht-Verbreitung von Nuklearwaffen im Sinne globaler Bemühungen unterstützt. Dabei ist Nordkorea zwar kein international anerkannter, aber ein De-facto-Nuklearwaffenstaat, zumal sein Nuklearwaffenstatus seit 2013 in der nationalen Verfassung verankert und seit Jahren fester Bestandteil innenpolitischer Selbstdarstellung ist.
Signaling und Verhandlungstaktik
Mit seiner nuklearen Bewaffnung hat Pjöngjang zwar die eigene Isolation und seine internationale Verurteilung forciert, sich aber auch einen Vorteil für Verhandlungen verschafft. Nuklearwaffen sind ein Mittel, um »die politische Situation zu kontrollieren« (Kim 2019c); sie lassen sich nutzen, um einen Gegner zu nötigen und unter Druck zu setzen (nuclear brinkmanship), ihn durch Zurückhaltung dieser Waffen zu überzeugen oder ihm Zugeständnisse abzuringen (nuclear restraint). Beide Taktiken können kombiniert werden, um politische Anpassungen im Sinne eigener Interessen zu erlangen.
Waffentests dienen dem Aussenden politischer Signale (signaling): Pjöngjang testete die seegestützte Pukguksong-3 wenige Tage vor Beginn der bisher letzten direkten Verhandlungen zwischen Unterhändlern der USA und Nordkoreas. Dass Kim Jong Un dabei anwesend war, wurde aus der Berichterstattung über diese Tests unterschlagen. Im Dezember 2019 ließ Pjöngjang zwei Motorentests auf der Sohae-Satellitentestanlage durchführen. Das war insofern politisch relevant, als Nordkorea die Demontage dieser Anlage laut US-amerikanischen und südkoreanischen Berichten im Zuge der Gipfeldiplomatie im Juni und September 2018 versprochen hatte; zuvor war hier an der Entwicklung von Motoren für Langstreckenraketen gearbeitet worden. Das Regime ließ keine Bilder der Tests veröffentlichen; in den knapp gehaltenen nordkoreanischen Berichten wurde die verbesserte Zuverlässigkeit der direkten strategischen Abschreckung betont.
In Kim Jong Uns nuancierten Drohungen finden sich außerdem weitere verhandlungsstrategische Signale: In seiner Rede im Dezember 2019 erklärte er, dass es keine Gründe gebe, das unilaterale Zugeständnis weiterhin aufrechtzuerhalten, keine Nuklear- und Langstreckenraketentests mehr durchzuführen (Kim 2019c). Diese Moratorien und »nukleare Zurückhaltung« seien nicht mit angemessenen Gegenleistungen honoriert worden. Washington und Seoul würden vielmehr nach wie vor Militärübungen durchführen und an Sanktionen festhalten (Kim 2019c). Auffällig ist die »Einsicht«, dass die Sanktionspolitik der USA und ihr konfrontatives Verhalten ein Fait accompli seien, das nach Pjöngjangs Auffassung die Beständigkeit der eigenen Nuklear- und Raketenprogramme (und deren Weiterentwicklung) rechtfertige. In diesem Sinne äußerte die Schwester des Machthabers, Kim Yo Jong, im März 2020, dass die persönlichen Beziehungen zwischen den Staatsführern die feindschaftlichen bilateralen Beziehungen nicht automatisch verbessern würden.
Gegenwärtig zeichnet sich eine neue Drohkulisse ab – wenn auch verbal nuancierter als im Sommer von 2017, als Präsident Trump mit der vollständigen Zerstörung Nordkoreas und Pjöngjang mit direkten Vergeltungsschlägen gedroht hatte. Im April 2019 und Januar 2020 wurden vermehrt Personen mit militärischem und geheimdienstlichem Hintergrund auf diplomatisch wichtige Regierungspositionen versetzt. Kim kündigte im Dezember 2019 an, dass die Welt bald Zeuge einer »neuen strategischen Waffe« werden würde (Kim 2019c). Erwartet wird ein Test der Pukguksong-3 vom neuen Unterseeboot der Klasse Sinpo‑C. Wirklich neu und provokativ wäre jedoch der Test einer mobilen, feststoff-betriebenen Mittel- oder Langstreckenrakete.
Pjöngjangs Raketentests und Rhetorik untermauern die nordkoreanische Verhandlungsposition und sollen helfen, gewisse »reziproke« Zugeständnisse auszuhandeln. Nordkorea verweigert einseitige Zugeständnisse und hält an seiner Maximalforderung fest, dass beide Seiten abrüsten müssten. Washington hätte folglich seine »feindselige« Politik zu beenden, die aus Sanktionspolitik und militärischer Allianz mit Südkorea bestehe. Kim hatte Präsident Trump im Februar 2019 das Herzstück des nordkoreanischen Nuklearprogramms angeboten, den Reaktorkomplex Yongbyon; im Gegenzug verlangte er die Aufhebung der 2016 verhängten VN-Sanktionen. Seit diesem gescheiterten Gipfel beharrt Pjöngjang wieder auf seiner Maximalforderung.
Trotz ausbleibender Verhandlungen, jüngster Drohungen und technologischer Entwicklungen in Nordkorea bleibt dessen vollständige, endgültige und verifizierte Denuklearisierung nach wie vor Bedingung und Endziel eines »Deals« gemäß der Trump-Administration. Solange auf hoher politischer Ebene die Kompromissbereitschaft fehlt, ist es den Verhandlungsführern auf Arbeitsebene jedoch nicht möglich, von Maximalforderungen abzurücken, größere Zugeständnisse zu machen und eine technisch detaillierte Vereinbarung auszuhandeln (siehe SWP-Aktuell 71/2019).
Innenpolitisch dienen die Waffentests dazu, die Bevölkerung zu mobilisieren, Stärke zu zeigen und in Zeiten von Isolation und Pandemie Normalität zu demonstrieren. Das Nuklearwaffenprogramm wird propagiert als Symbol des Widerstands gegen US-amerikanischen Imperialismus, als Maßnahme zum Schutz der nationalen Souveränität und als legitimes Mittel im andauernden Kriegszustand. Das Erdulden wirtschaftlicher Entbehrungen wird gleichgesetzt mit der Bereitschaft, im nationalen Verteidigungskampf gegen feindselige Sanktionspolitik zum Märtyrer zu werden.
Gelegenheiten für Diplomatie und deren Hindernisse im Jahr 2020
Das Jahr 2020 hat nicht nur politische Bedeutung für Washington und Pjöngjang, es bietet auch eine Reihe von Ansatzpunkten für europäisches Engagement (siehe SWP-Studie 18/2018): Deutschland hat bis Ende 2020 einen nichtständigen Sitz im VN-Sicherheitsrat sowie den Vorsitz im Sanktionskomitee, das gemäß Sicherheitsratsresolution 1718 die Implementierung aller gegen Nordkorea verhängten VN-Sanktionen überwacht. In diesen Institutionen muss weiterhin über Pjöngjangs aktuelles Handeln diskutiert werden, auch um die Einbindung multilateraler Institutionen (wie die Internationale Atomenergie-Organisation oder die Organisation des Vertrags über das umfassende Verbot von Nuklearversuchen) in zukünftige Verhandlungen zu ermöglichen und das Nichtverbreitungsregime zu stärken. Auf europäischer Ebene übernimmt Deutschland ab Juli 2020 die EU-Ratspräsidentschaft und kann mit der neuen Europäischen Kommission die von Brüssel erklärte Strategie des kritischen Engagements in geopolitischer Vorausschau umsetzen. Dabei spielt das Beharren auf strikter Implementierung von Sanktionen ebenso eine große Rolle wie das Drängen auf Dialog und Diplomatie als Mittel der Konfliktlösung in der Beziehung zu allen Konfliktparteien und Drittstaaten.
Am 3. November 2020 finden Präsidentschaftswahlen in den USA statt. Zwar lassen sich die Gipfeldiplomatie oder gar Trumps »Freundschaft« mit Kim Jong Un nicht als außenpolitischer Gewinn vermarkten, jedoch ist die Trump-Administration bemüht, die Relevanz der Kurzstreckenraketentests herunterzuspielen und zu betonen, dass Nordkorea keine Tests oberhalb der roten Linie – also Nuklear- und Langstreckenraketentests – durchführe. Auch die Unstimmigkeiten in der Allianz mit Südkorea – sie betreffen aktuell und zuvorderst die finanzielle militärische Lastenteilung – bleiben ein Nicht-Thema.
Für Nordkorea ist 2020 das dritte Jahr unter dem umfassenden VN-Sanktionsregime, das jeglichen Handel unter Strafe stellt. Gleichzeitig ist es das letzte Jahr des ersten Fünf-Jahres-Plans von Kim Jong Un. Gesetzte Ziele innerhalb von fünf Jahren zu erreichen hat für nordkoreanische Machthaber große Bedeutung: Die »Byungjin-Linie«, die gleichzeitig die Schaffung wirtschaftlichen Wohlstands und strategischer (nuklearer) Verteidigungsfähigkeit vorsieht, wurde 2013 ausgerufen, der nukleare Teil ist Anfang 2018 als vollbracht erklärt worden. Neben den militärischen Erfolgen ist ein gewisses Maß an wirtschaftlichem Wohlstand notwendig, nicht zuletzt um Kim Jong Uns Führung zum 75. Jubiläum der Arbeiterpartei am 10. Oktober 2020 neuen Glanz zu verleihen.
In diesem Zusammenhang ist signifikant, wie sich innenpolitische Erfordernisse und Einschränkungen auf Verhandlungen auswirken, die globale sicherheitspolitische Implikationen haben. So wurde im Februar 2019 in Hanoi deutlich, dass ein technisch weitreichendes Zugeständnis (Angebot der Schließung von Teilen des Nuklearkomplexes Yongbyon) politisch nicht signifikant war: Denn es hätte innenpolitischer Kritik in den USA nicht standgehalten und nicht ausgereicht zur Rechtfertigung von Sanktionserleichterungen.
Gleichzeitig haben auch außenpolitische Erfordernisse Einfluss auf waffentechnologische Entwicklungen: Nur wenn Nordkorea auf Langstreckenraketen- und Nukleartests verzichtet (und damit das von Pjöngjang einseitig im April 2018 erklärte Moratorium einhält), ist Diplomatie mit Beijing, Moskau, Seoul und Washington möglich. Will Nordkorea diese rote Linie der Diplomatie nicht überschreiten, aber dennoch Verhandlungsdruck erzeugen und technische Entwicklungen vorantreiben, hätte es weitere Optionen: Neben dem Testen seegestützter Systeme beispielsweise Graubereich-Provokationen wie ein Satellitenstart, Motorentests von Langstreckenraketen, andere Übungsaktivitäten oder auch die Umsetzung der Ankündigung von 2017, Kurz- und Mittelstreckenraketen in Serie zu produzieren.
Blick nach vorne
Auf geopolitischer Ebene gilt es auch zu berücksichtigen, wie sich die Partnerschaften zwischen Nordkorea, China und Russland entwickeln. Während China und Russland im VN-Sicherheitsrat für Erleichterungen im Sanktionsregime argumentieren, erwirtschaftete Pjöngjang mehrere Millionen US-Dollar im gemeinsamen Handel (Report 2020). Die Beziehungen innerhalb der Region und mit den USA sind dagegen politisch und wirtschaftlich angespannt. Auch zwischen den Alliierten in Seoul, Tokio und Washington mangelt es an Koordinierung und einer einheitlichen, proaktiven Strategie.
Das Jahr 2020 dürfte Entwicklungen fördern, die das Regime in Pjöngjang in seinem Bestreben unterstützen, sich als Kernwaffenmacht zu etablieren; das Nichtverbreitungsregime würde somit weiter unterminiert. Washington wird dadurch vor die Wahl gestellt, einen Kompromiss unterhalb des Maximalziels der vollständigen Denuklearisierung einzugehen oder militärisch zu eskalieren. Präsident Trump dürfte im aktuellen Wahljahr weder einen absehbaren Misserfolg in Verhandlungen riskieren noch einen militärischen Konflikt mit unvorhersehbaren Folgen eingehen wollen. Er dürfte daher in den nächsten Monaten wie bisher versuchen, den Atomkonflikt konsequent zu ignorieren. Solange Pjöngjang keine Langstreckenraketen- oder Nukleartests durchführt, ist diese Ignoranz aus Sicht der Trump-Administration wohl auch gerechtfertigt.
Bibliographische Hinweise
Kim Jong Un, »New Year Address of Supreme Leader Kim Jong Un for 2019«, in: Rodong Shinmun, 1.1.2019 (Kim 2019a).
Kim Jong Un, »On Socialist Construction and the Internal and External Policies of the Government of the Republic at the Present Stage«, KCNA, 12.4.2019 (Kim 2019b).
Kim Jong Un, »Report of the Fifth Plenary Meeting of the 7th Central Committee of the Workers’ Party Korea«, KCNA, 31.12.2019 (Kim 2019c).
Korean Central News Agency (KCNA), »Supreme Leader Kim Jong Un Observes Demonstration Fire of Tactical Guided Weapon«, 22.3.2020 (KCNA 2020).
Panel of Experts, Report of the Panel of Experts Established Pursuant to Resolution 1874 (2009), S/2020/151, 13.4.2020 (Report 2020).
Elisabeth Suh ist Gastwissenschaftlerin in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik.
Dr. Michael Paul ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik.
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doi: 10.18449/2020A33