China möchte das Internet reformieren und hat mit einem kürzlich unterbreiteten Vorschlag für internationale Aufregung gesorgt. Digitalisierungs-Experte Daniel Voelsen und China-Expertin Nadine Godehardt erklären im Interview, was hinter den Vorschlägen steckt und wie Europa reagieren könnte.
China drängt darauf, die Gremien der International Telecommunication Union (ITU) zu nutzen, um Protokolle und Standards für das Internet der Zukunft zu entwickeln. Viel Aufmerksamkeit erfährt dabei der chinesische Vorschlag, eines der grundlegenden Protokolle zur Datenübertragung im Internet – das »Internet Protocol« (IP) – durch »NewIP« zu ersetzen. Vor wenigen Wochen griff die Financial Times den Vorgang auf, was eine internationale Debatte auslöste. Warum die Aufregung?
Daniel Voelsen: China ist bekannt dafür, das eigene Internet sehr genau zu kontrollieren. Mit hohem technischem und personellem Aufwand versucht der Staat dort zu kontrollieren, welche Informationen ausgetauscht werden. So soll es gelingen, das wirtschaftliche Potential des weltweiten Internets zu nutzen, ohne die eigene politische Macht zu gefährden. Schon länger formuliert China dabei den Anspruch, auch die globale Entwicklung des Internets zu prägen. NewIP wird insofern als ein weiterer Beleg für den globalen Gestaltungsanspruch Chinas in diesem Bereich gedeutet.
Nadine Godehardt: Dieses Vorgehen ist nicht untypisch für das China unter Xi Jinping. In vielerlei Hinsicht nutzt die chinesische Regierung den Rückzug der USA aus den Vereinten Nationen und anderen internationalen Organisationen, um ihre Vorstellungen, Regeln und Ideen prominent zu platzieren. Ihr Ziel ist es, das internationale System mehr an China anzupassen, während sie auf diplomatischer und medialer Ebene breites Engagement und Offenheit signalisiert. Das Engagement der chinesischen Akteure innerhalb der ITU, die eine Sonderorganisation der Vereinten Nationen ist, ist tatsächlich nur ein weiteres Beispiel dafür.
Woher rührt das große politische Interesse an – auf den ersten Blick technischen – Standards?
Daniel Voelsen: Digitale Technologien basieren fundamental auf Standards und Protokollen. Ein modernes Handy braucht etwa WLAN und LTE für drahtlose Verbindungen, breit geteilte Standards für Bild-Dateien oder Protokolle für den Versand von E-Mails. Wer diese Standards und Protokolle prägt, hat wirtschaftliche Vorteile und kann auch politisch Einfluss nehmen. Weil es in nahezu allen Fällen um globale Standards geht, ist auch dieser Wettstreit um Einfluss global.
Nadine Godehardt: Die Durchsetzung und Verbreitung von technischen und regulativen Standards spielt für die chinesische Regierung mittlerweile eine zentrale Rolle. Denn Standards repräsentieren im chinesischen Sinne »Konnektivitätsressourcen«, die es Peking ermöglichen, andere Akteure indirekt oder direkt zu beeinflussen. Die Kontrolle über Infrastrukturen und zentrale Knotenpunkte wie beispielweise durch den Vorstoß mit NewIP ist daher ein wichtiger Bestandteil der chinesischen Strategie, die zukünftige Struktur des internationalen Systems aktiv mitzugestalten.
Welche Ziele verfolgt China mit dem Vorstoß in der ITU?
Daniel Voelsen: Über die technischen Details von NewIP ist bisher wenig bekannt. Bis jetzt ist das noch eine recht vage Idee, aus der nach dem Willen der Chinesen in den nächsten Jahren ja erst noch ein technisches Protokoll entstehen soll. Aber schon die bisher verfügbaren Informationen lassen recht deutlich die Ziele Pekings erkennen: Mit NewIP sollen bereits auf Ebene der grundlegenden Protokolle des Internets neue Möglichkeiten geschaffen werden, Datenflüsse im Internet zentral zu steuern. Bisher muss der chinesische Staat hierfür einen großen Aufwand betreiben, weil das Internet ursprünglich eine solche Kontrolle nicht vorsah. Auch die Wahl der ITU ist nicht zufällig: Hierin kommt der Anspruch Chinas zum Ausdruck, die Entwicklung von Standards und Protokollen für das Internet staatlich zu steuern, also nicht wie bislang weithin privaten Akteuren zu überlassen.
Nadine Godehardt: Für die chinesische Regierung bietet sich so die Möglichkeit, zwei zentrale Ziele zu verbinden. Wenn sich diese noch sehr vage Idee durchsetzt, dann unterstützt sie erstens die Aufrechterhaltung digitaler Souveränität auf dem Territorium Chinas, das heißt die Zentralregierung kann das chinesische Internet weiterhin und mit weitaus geringerem Aufwand als bisher in ihrem Sinne kontrollieren. Zweitens würde ein neues, von chinesischen Akteuren mitentwickeltes Internetprotokoll aber auch die internationale Offenheit, Verantwortung und Kooperationsbereitschaft Chinas unterstreichen. Es ist Teil von Pekings Staatsdoktrin, »Win-win-Situationen« in diesem Sinne zu schaffen.
Wie sollten Deutschland und Europa auf Chinas Vorschlag reagieren?
Daniel Voelsen: Die aktuelle Diskussion um NewIP scheint mir etwas überhitzt. Nach allen bekannten Informationen ist NewIP noch weit davon entfernt, eine echte Alternative darzustellen. Sehr wohl aber sollten wir ernst nehmen, dass China mit Blick auf das Internet einen globalen Gestaltungsanspruch hat. Hinzu kommt, dass das chinesische Modell eines Internets, das wirtschaftliche Freiheit mit engmaschiger politischer Kontrolle verbindet, für viele Staaten der Welt attraktiv sein dürfte. Um dem etwas entgegenzusetzen, ist es zuerst einmal notwendig, die eigene Position klar zu formulieren. Wir müssen erklären können, wie sich ein digital durchsetzungsfähiger Rechtsstaat von dem Herrschaftsanspruch der chinesischen Regierung unterscheidet. Anders als in der Vergangenheit wird es zudem notwendig sein, für dieses Modell einer liberalen digitalen Gesellschaft proaktiv zu werben. Dem für viele Staaten verlockenden Angebot Chinas müssen wir politisch, wirtschaftlich und letztlich dann auch technisch ein besseres Angebot gegenüberstellen.
Das Interview führte Candida Splett von der Online-Redaktion.
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