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Einen digitalen Stellungskrieg zwischen EU und China verhindern

Die digitale Geopolitik ist von zentraler Bedeutung für die EU-China-Beziehungen. Welche Konflikte könnten hier in den nächsten 15 Jahren vorherrschen? Annegret Bendiek, Nadine Godehardt, Jürgen Neyer und David Schulze stellen vier Szenarien vor.

Kurz gesagt, 01.03.2019 Research Areas

Die digitale Geopolitik ist von zentraler Bedeutung für die EU-China-Beziehungen. Welche Konflikte könnten hier in den nächsten 15 Jahren vorherrschen? Annegret Bendiek, Nadine Godehardt, Jürgen Neyer und David Schulze stellen vier Szenarien vor.

Die digitale Transformation ändert die Rahmenbedingungen politischen Handelns fundamental und oftmals schlagartig. So gewinnt die Fähigkeit zu disruptiver, also grundlegende Spielregeln verändernder Innovation, an Bedeutung. In diesem Zusammenhang müssen Staaten technisches Wissen aufbauen bzw. das Feld der künstlichen Intelligenz stärken. Die Kontrolle über globale Produktionsnetze und zentrale Knotenpunkte, die Mobilisierung privater Expertise und die Einbindung zivilgesellschaftlicher Akteure werden zu zentralen Inhalten internationaler Politik und geopolitischer Rivalität.

Die digitale Geopolitik ist vor diesem Hintergrund von zentraler Bedeutung auch für die EU-China-Beziehungen. Welche Konflikte könnten hier in den nächsten 15 Jahren vorherrschen? Gegenüber welchen Szenarien müssen wir besonders aufmerksam sein und auf welche Herausforderungen können wir uns heute schon vorbereiten? Wie sich die Situation entwickeln wird, ist abhängig von zwei Entwicklungen: einerseits von dem Maß der Interoperabilität zwischen den sozialen und technischen Systemen (Fragmentierung vs. Integration) und andererseits von der Nachhaltigkeit der digitalen Ökosysteme (Verwundbarkeit vs. Resilienz). Die folgenden vier Szenarien entfalten sich entlang dieser Achsen.

 

Cyberfrieden*

Im konfliktärmsten Zukunftsszenario ist die politische, ökonomische und technologische Integration zwischen der EU und China weit vorangeschritten; gemeinsame Institutionen wie ein Sino-European Council on Cybersecurity und Abkommen wie das Shenzhen Agreement mit Finanzierungsmöglichkeiten für die gemeinsame Entwicklung von Cybersicherheitstechnologien erhöhen das Vertrauen auf beiden Seiten nachhaltig. Aufgrund des hohen Grades an technologischer Innovation befinden sich Peking und Brüssel jedoch weiterhin in einem produktiven Wettbewerb darum, wessen Standards, regulative Praktiken oder gesetzliche Vorschriften den gemeinsamen Wirtschaftsraum auch in Zukunft kontrollieren werden. Ausgangspunkt für diesen positiven Verlauf der EU-China-Beziehungen waren eine Reihe von Cyberattacken auf digitale Haushaltsysteme, den öffentlichen Nahverkehr sowie die Software medizinischen Geräts, von denen viele Menschen global direkt betroffen waren. In der Folge standen sowohl die Regierungen in Europa als auch die Kommunistische Partei in China unter Druck, gemeinsame Lösungen zu finden, um den Zusammenhalt in ihren Gesellschaften dauerhaft gewährleisten zu können. Gegenseitiges Verständnis und Lernbereitschaft ermöglichen einen Cyberfrieden.

 

Kollaps digitaler Gemeingüter

Das Szenario »Kollaps digitaler Gemeingüter« geht ebenso wie das erste von einem hohen Maß technischer und ökonomischer Integration aus; allerdings ist diese Welt geprägt von verwundbaren digitalen und gesellschaftlichen Systemen. Staatliche, terroristische und kriminelle Cyberattacken stehen an der Tagesordnung. Lebensdauer und Nutzen digitaler Produkte sind stark eingeschränkt. Wirtschaftlich profitieren China und Europa von hochintegrierten Märkten und Produktionsketten, doch die angespannte Sicherheitslage sorgt für politische und soziale Verwerfungen, die Europas Gesellschaften vor eine Zerreißprobe stellen. Gemeingüter wie Frieden, soziale Gerechtigkeit und Demokratie sind keine Priorität politischen Handelns mehr, mit verheerenden Folgen für Armut und Grundrechte wie Privatsphäre. Das Resultat ist die politische Radikalisierung in Europa, gepaart mit einer offenen China-Feindlichkeit.

 

Cold War 4.0

Eine ähnliche Entwicklung beschreibt das Szenario »Cold War 4.0«. In einer Welt, in der nationale Gesellschaften hochgradig verwundbar gegenüber Cyberangriffen geworden sind, ist der staatliche Versuch, sich hinter hohen digitalen Mauern abzuschotten, gescheitert. Misstrauen ist allgegenwärtig, Handel und Produktion sind auf einen nationalen protektionistischen Rahmen geschrumpft, und die internationale Rüstungskontrolle spielt keine Rolle mehr. Der »Block unabhängiger Staaten« (BUS), die Nachfolgeorganisation der EU, ist im Bereich der Hard- und Software-Entwicklung völlig von US-amerikanischen und chinesischen Zulieferern abhängig. Europäische Daten- und Sicherheitsvorkehrungen wurden zwar beschlossen, aber von den führenden Unternehmen nicht weiter umgesetzt.

 

Digitaler Stellungskrieg

Am plausibelsten erscheint allerdings das Szenario des »digitalen Stellungskriegs«. Hier kommen eine globale sozio-technische Fragmentierung und eine hohe gesellschaftliche und technologische Resilienz zusammen. In dieser Welt verschanzen sich drei Blöcke um die USA, China und Europa hinter undurchdringlichen digitalen Barrieren. Sie konkurrieren global um knapper werdende Ressourcen und führen Stellvertreterkriege in Drittstaaten. In dieser Welt ist das Internet, wie wir es kennen, verschwunden. An seiner Stelle stehen inkompatible staatliche Cyberräume. Nationale digitale Forschungsagenden beschleunigen die Divergenz der Systeme. Es ist eine ärmere, jedoch sehr sichere Welt in den jeweiligen Blöcken. Staaten dominieren die Wirtschaft, da jeder Aspekt von Technologie strengstens reguliert ist. Dies führt zu einem starken Rückgang des kommerziellen, kulturellen und wissenschaftlichen Austausches. In diesem Szenario führt die digitale Transformation nicht zu einer besseren Welt ungehinderter Kommunikation und transnationaler Vergesellschaftung, sondern befördert vielmehr neue Konflikte und Nationalismen.

Bedenklich stimmt die düstere Welt, die immerhin drei von vier Szenarien zeichnen. Es scheint nahezuliegen, dass die Diplomatie an der Aufgabe scheitert, nachhaltige Kooperation zwischen China und Europa zu realisieren und die digitale Transformation gegenseitiges Vertrauen untergräbt. Deutschland und Europa wären gut beraten, den bilateralen Cyberdialog mit China auf der Ebene der Staats- und Regierungschef personell aufzuwerten und mit inhaltlich-fachlicher Kompetenz auszustatten. Erst eine ernst gemeinte Cyberdiplomatie kann es prinzipiell ermöglichen, Konflikte kooperativ zu überwinden und globale Gemeingüter wie ein freies, offenes und sicheres Internet bereitzustellen.

* Das Szenario »Cyberfrieden« ist von den Experten und Expertinnen im Prozess der Szenarien-Entwicklung als „Sophies Welt“ betitelt worden; dieser Name ist hier im Sinne der inhaltlichen Kohärenz angepasst worden.

Dr. Annegret Bendiek ist stellvertretende Leiterin der Forschungsgruppe EU/Europa, Dr. Nadine Godehardt ist stellvertretende Leiterin, David Schulze Forschungsassistent der Forschungsgruppe Asien der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). Prof. Dr. Jürgen Neyer ist Professor für Europäische und Internationale Politik an der Europa-Universität Viadrina und dort Vize-Präsident für Internationale Beziehungen.

Dieser Text ist auch bei EurActiv.de und bei Handelsblatt.com erschienen.

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Disclaimer

Auf Einladung der SWP und der Europa-Universität Viadrina beschäftigten sich rund 30 Experten und Expertinnen aus Europa und China unter Anleitung des Deloitte Center for the Long View in einem gemeinsamen Workshop mit der Zukunft der EU-China-Beziehungen im Bereich der digitalen Geopolitik in den nächsten 15 Jahren und entwickelten diese vier möglichen Szenarien. Das Center for the Long View bringt in diesen Prozess die Methodikexpertise der Szenarioanalyse ein.