Jump directly to page content

Neuwahlen nach Wahldebakel in Spanien: Nationale und europäische Verwerfungen

Kurz gesagt, 02.06.2023 Research Areas

Nach dem Triumph der Opposition bei den spanischen Kommunal- und Regionalwahlen hat Regierungschef Pedro Sánchez Neuwahlen ausgerufen. Die Folgen könnten bis auf die europäische Ebene ausstrahlen. Dann müssten die Mitgliedstaaten und die Brüsseler Instanzen sie abfedern, meint Günther Maihold.

Nur wenige Stunden nach dem Debakel seiner sozialistischen Partei PSOE bei den Kommunal- und Regionalwahlen am 28. Mai hat Pedro Sánchez einen Coup gelandet: Der spanische Ministerpräsident zog die ursprünglich für Ende Dezember angesetzten Parlamentswahlen auf den 23. Juli vor. Mit diesem riskanten Schritt, der ihn das Amt kosten könnte, überraschte er nicht nur politische Freunde und Gegner. Er hat sich auch einige taktische Vorteile verschafft: Die laute Kritik an seiner Person und seinem Führungsstil in der eigenen Partei wird schnell verstummen, alle Landesfürsten seiner Partei müssen sich trotz schmerzhafter Niederlagen in ihren Hochburgen hinter dem Ministerpräsidenten versammeln. Auch sein linker, zerstrittener Koalitionspartner Unidas Podemos wird durch diesen Schachzug gezwungen sein, sich schnell intern zu einigen, um in einer Allianz mit der PSOE in die Wahlen gehen zu können.

Es zeichnet sich ein klarer Lagerwahlkampf ab, der die politische Polarisierung im Land weiter vorantreiben dürfte. Denn mit der siegreichen konservativen Volkspartei Partido Popular steht dem Regierungslager ein politischer Gegner gegenüber, der das politische Momentum auf seiner Seite hat. PP-Chef Alberto Núñez Feijóo wird allerdings erklären müssen, wie er sich ein mögliches Bündnis der Volkspartei mit der rechtsextremen Vox als wichtigstem potenziellen Partner auf nationaler Ebene vorstellt. Die Vorverlegung der Wahlen könnte der PP und den anderen rechten Kräften weniger schaden als dem aktuellen Regierungsbündnis, das sich jetzt schnell neu aufstellen muss, um den Wählern noch als tragfähige Option für eine Fortsetzung der gemeinsamen Regierung zu erscheinen.

Ein Regierungswechsel könnte zu einer Verschiebung der innenpolitischen Prioritäten führen und damit alte Gräben wieder aufreißen – sei es im Umgang mit Autonomiebestrebungen, Minderheiten und Migranten, der erreichten Neuausrichtung in der Klima- und Energiepolitik oder der Rücknahme der umstrittenen Sexualgesetzgebung. Mit der in den vergangenen Jahren zunehmenden Polarisierung ist die politische Mitte in Spanien erodiert, jede neue Regierung hat die Politik ihrer Vorgängerin zurückgedreht. Im Vorfeld der Wahlen, die die spanischen Wählerinnen und Wähler erstmals mitten in den Sommerferien zu den Urnen rufen, ist jedoch mit einer starken Personalisierung auf die beiden Spitzenkandidaten zu rechnen.

Belastungen für Europa

Da ein Regierungswechsel nur drei Wochen nach der Übernahme der sechsmonatigen EU-Ratspräsidentschaft durch Spanien stattfinden könnte, bringt die Vorverlegung der Wahlen auch eine gewisse Unsicherheit für die EU mit sich. Zwar ist es nicht das erste Mal, dass die rotierende Ratspräsidentschaft mit einer Parlamentswahl zusammenfällt – doch könnte die Polarisierung der spanischen Politik auch auf die europäische Ebene ausstrahlen, indem Themen, die auf europäischer Ebene zu entscheiden sind, im Wahlkampf instrumentalisiert und Entscheidungen aus Angst vor Gesichtsverlust blockiert oder aufgeschoben werden. Der parteiübergreifende Konsens über die Prioritäten der spanischen Ratspräsidentschaft kann nicht mehr im Parlament beschlossen werden und droht im Wahlkampfgetöse unterzugehen.

Es ist nicht auszuschließen, dass die Wahlen keine klare Mehrheit im Parlament ergeben - die letzten Wahlen in Spanien im April 2019 mussten im November wiederholt werden, nachdem die Verhandlungen über eine Koalitionsregierung gescheitert waren. Eine solche Hängepartie wäre für den europäischen Prozess sehr belastend, da Verhandlungen über europäische Schlüsselfragen aus Zeitmangel der durch den Wahlkampf zu Hause gebundenen spanischen Führung verschoben werden müssten. Dies gilt umso mehr, als die spanische Ratspräsidentschaft als letzte rotierende Ratspräsidentschaft vor den Europawahlen 2024 eine Vielzahl von Gesetzgebungsdossiers abschließen müsste, um einen Rückstau zahlreicher europäischer Entscheidungsprozesse zu vermeiden, darunter die Reform des Strommarktes nach der Krise, die Regulierung künstlicher Intelligenz oder die Strategie zur Verhinderung der Abwanderung grüner Industrien.

Hinzu kommt die auch für Spanien zentrale Frage der Regulierung der Migration, bei der gemeinsame Positionen mit den Regierungen Italiens und Griechenlands gefunden werden müssen. Gerade auf den Schultern der Ratspräsidentschaft lastet hier die schwierige Aufgabe, mit diplomatischem Geschick einen Konsens der EU-27 herbeizuführen und den Verlauf der politischen Debatte zu beeinflussen.

Wenn Madrids Handlungsspielraum im Europäischen Rat durch den Wahlkampf und einen möglichen Regierungswechsel, ein politisches Führungsvakuum in Spanien und damit auch an der Spitze des Rates bedroht ist, werden viele Dossiers auf die nächste Ratspräsidentschaft verschoben, die Belgien im ersten Halbjahr 2024 innehaben wird, das bereits im Zeichen des Wahlkampfes zum Europäischen Parlament stehen wird. Um Verzögerungen zu vermeiden, wird es daher an den Mitgliedstaaten und den Brüsseler Instanzen liegen, die möglichen Bremsspuren der vorgezogenen Neuwahlen kurz zu halten und für Stabilität bei den internen Prozessen der europäischen Entscheidungsfindung zu sorgen.