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Neue Handelsabkommen in Asien

Liberalisierung in Zeiten geopolitischer Rivalität

SWP-Aktuell 2021/A 23, 18.03.2021, 8 Pages

doi:10.18449/2021A23

Research Areas

Unterzeichnung des asiatisch-pazifischen Freihandelsabkommens RCEP am 15. Novem­ber 2020, Vereinbarung eines Investitionsabkommens zwischen der EU und China (CAI) am 30. Dezember, und nun Erweiterungsperspektiven für das Transpazifische Partnerschaftsabkommen CPTPP – die Handelspolitik in und mit Asien nimmt sicht­lich Fahrt auf. In der Großregion Ostasien, die aus Japan, Südkorea, China und der ASEAN-Gemeinschaft besteht, wird sich die ökonomische Integration über Handel, Investitionen, Lieferketten und digitale Vernetzung beschleunigen. Dagegen müssen die außen vor bleibenden Regionen Nordamerika, Europa und Indien befürchten, dass Handelsströme umgelenkt werden. Gleichzeitig ist die Geopolitik zu einem bestimmenden Faktor der Handelspolitik geworden. Jegliche Vereinbarung ist immer auch eine politische Positionierung im Kontext der sino-amerikanischen Rivalität oder zumindest eine Rückversicherung gegenüber kommerziellen bzw. technologischen Decoupling-Risiken. Welche wirtschaftlichen und politischen Perspektiven ergeben sich aus den Handels- und Investitionsabkommen? Welche Ziele und Strate­gien verfolgen die maßgeblichen Akteure? Und welche Konsequenzen ergeben sich daraus für Europas Handelspolitik?

Die bemerkenswerten Erfolge, die Ostasien wirtschaftlich in den vergangenen fünf De­kaden erzielte, beruhen nicht auf Isola­tion und Autarkie. Im Gegenteil – die hohen Wachstumsraten, die rasche Industrialisierung und die regionale Wohlstandsbildung wären ohne Außenhandel und handels­bezogene Direktinvestitionen kaum mög­lich gewesen. Der innerasiatische Handel ist inzwischen größer als der Handel Asiens mit der übrigen Welt. Asien selbst ist zur weltweit größten Handelsregion geworden, mit China als ihrem natürlichen Zentrum. Allerdings verändern sich die außenwirtschaftlichen Rahmenbedingungen seit der Jahrtausendwende fundamental. Dass der jahrzehntelange Aufwärtsprozess der Region sich fortsetzt, ist nicht mehr gesichert.

Von der Handelspolitik zur Geoökonomie

Ob bzw. wie lange noch die etablierte Sicherheitsordnung der Pax Americana die geopolitische Stabilität Asiens sichern kann, ist ungewiss geworden. Während die sicher­heitspolitische Rolle Amerikas von seinen regionalen Allianz- und Handelspartnern nach wie vor hoch geschätzt wird, ist China der wichtigste Handelspartner für inzwischen alle Länder der Region, bei weiterhin zunehmenden Anteilen an den regionalen Liefer- und Absatzmärkten. Dabei geriert sich das »Reich der Mitte« mehr und mehr als revisionistische Großmacht. Pekings aggressive Außenpolitik zeigt, dass politi­sche Vormachtstellung und wachsende militärische Schlagkraft die chinesische Bereitschaft gesteigert haben, eigene Inter­essen konfliktiv durchzusetzen – notfalls auch brachial unter Zuhilfenahme ökono­mischer und militärischer Drohungen.

Generell wird die vordergründig an nationalen Wirtschaftsinteressen orientierte Handelspolitik zunehmend von außen- und sicherheitspolitischen Überlegungen dominiert. So betreiben die USA in techno­logisch sensiblen Bereichen aktiv ein De­coupling Chinas und nötigen Verbündete wie Partnerstaaten, dieser Politik Folge zu leisten. Die Volksrepublik wiederum ver­sucht, ihre Verwundbarkeit zu mindern, und strebt nach technologischer Autonomie. Unternehmen aus Drittländern fürch­ten mit gutem Grund, sich im Zuge dieses Konflikts definitiv für die eine oder die andere Seite entscheiden zu müssen. China und die USA scheuen nicht davor zurück, Sanktionen, Boykott und Strafzölle als außenpolitische Zwangsmittel einzusetzen. Aber auch andere Länder, zuvorderst Japan, gestalten ihre Handelspolitik sehr strategisch und verfolgen dabei explizit geopolitische Ziele.

Der Trend zur Geoökonomie wird befördert durch die fortschreitende Erosion des multilateralen Rahmenwerks der Welthandelsorganisation (WTO). Ihrer vertraglich festgelegten Aufgabe einer multilateralen Handelsliberalisierung ist die 1994 gegrün­dete WTO bislang ohnehin nur rudimentär nachgekommen. Die handelspolitische Streitschlichtung der Organisation liegt auf Eis, seit im Dezember 2019 entsprechende Richterstellen nicht nachbesetzt wurden. China missachtet fortlaufend so fundamentale Prinzipien wie Nichtdiskriminierung, Meistbegünstigung und Transparenz, wäh­rend die USA (unter Trump) das Vertragsrecht der Organisation mehrfach verletzt haben – Vorgänge, denen die WTO und ihre betroffenen Mitgliedstaaten nichts entgegensetzen. Wenn zugleich Handelsrecht und Liberalisierung von der WTO nicht weiterentwickelt werden, ist es wenig überraschend, dass Asiens von der Welt­wirtschaft so abhängige Handelsstaaten ihre eigenen bi- und multilateralen Verein­barungen treffen. Das Interesse an Handel und Investitionen, die entwicklungs- und wachstumsstimulierend wirken, ist in der Region ungebrochen. Es wird nun aber zunehmend strukturbildend ergänzt durch das Element der Geopolitik.

RCEP – Handelsliberalisierung »ASEAN Way«

Mit dem am 15. November 2020 unterzeich­neten Handelsabkommen einer Regio­nalen Umfassenden Wirtschaftlichen Part­ner­schaft (Regional Comprehensive Economic Part­nership, RCEP) begründen die zehn ASEAN-Staaten zusammen mit Japan, China, Süd­korea, Australien und Neuseeland die größ­te Freihandelszone der Welt. Das Abkommen wird in Kraft treten, sobald mindestens sechs ASEAN-Staaten und drei weitere Partner es ratifiziert haben. Von seiner Dimension her – 2,2 Milliarden Menschen, rund 30 Prozent der Weltproduktion und des Welthandels – kann das Abkommen kaum überschätzt werden. Erstmals sind mit RCEP auch die nordostasiatischen G20-Länder Japan, China und Südkorea in einem Handelsabkommen verbunden.

RCEP dokumentiert die handels- und außenpolitische Zentralität der ASEAN-Gemeinschaft, der die Initiative und die Federführung für das Abkommen oblag. Unmittelbares Motiv der Verhandlungen war, die bestehenden ASEAN+1-Freihandels­abkommen mit ihren Dialogpartnern zu konsolidieren. Im Ergebnis ist RCEP kein tiefes, anspruchsvolles Handelsabkommen geworden. Die vereinbarten Standards – etwa bei geistigen Eigentumsrechten, Dienstleistungen, Investitionen, handels­bezogener Personenfreizügigkeit – sind durchgehend schwach ausgeprägt und wenig zukunftsweisend. Andererseits hat es gerade das geringe Anspruchsniveau ermög­licht, Entwicklungsländer einzubeziehen, denen zudem individuell längere Übergangsfristen und eine differenzierte Anpas­sung zugestanden wurden. Diese Vorgehensweise entsprang dem Anspruch und der Zielsetzung, wie sie von ASEAN verfolgt werden: nämlich die Staaten der indo-pazifischen Region zur Förderung von wirt­schaftlicher Integration, von Wachstum und Entwicklung in einem großen, offenen Handels- und Investitionsraum zu vereinen, dabei auch die weniger entwickelten Staa­ten zu integrieren und den als spalterisch empfundenen Tendenzen der vormaligen Initiative für eine Transpazifische Partnerschaft (TPP) entgegenzuwirken. Die Unter­zeichnung des Abkommens markiert dabei nicht das Ende der Verhandlungen. Für Drittstaaten, insbesondere das bislang nicht einbezogene Indien, soll RCEP beitrittsoffen sein. Auch eine inhaltliche Weiterentwicklung ist angedacht. Tatsächlich weiß man aus der Vergangenheit, dass ASEAN-Han­delsabkommen schwach beginnen, dann aber sukzessive nachgebessert und moder­nisiert werden. Vorgesehen ist, dass ein noch zu schaffendes RCEP-Sekretariat dafür Sorge tragen soll, das Abkommen kontinuierlich anzupassen und fortzuentwickeln.

Handelspolitisch stehen Liberalisierung und Erleichterung des Warenverkehrs im Mittelpunkt des Abkommens. Mit seinem Inkrafttreten sind 65 Prozent des RCEP-Intrahandels zollfrei, nach zwanzig Jahren sollen es mindestens 92 Prozent sein. Aller­dings erfolgt die Liberalisierung nicht ein­heitlich. In etwa der Hälfte der Länder gel­ten weiterhin je nach RCEP-Handelspartner differenziert unterschiedliche Zollsätze. Außerdem kommen verschiedene Zolltarif­systeme zur Anwendung. Aber die Zoll­abwicklung wird künftig sehr viel einfacher vonstattengehen. Um etwa einen Waren­ursprung zu belegen, genügt fortan ein einzi­ges Dokument über mehrere Verarbeitungs­stufen und Grenzwechsel. Die han­delsbegleitende Datendokumentation ist zen­tral in einem RCEP-Mitgliedsland möglich.

Die Zollsenkungen betreffen vor allem Industriewaren, weniger Agrargüter. Wäh­rend die ASEAN-Staaten ihre aufgrund frü­herer ASEAN+1-Abkommen bilateral ohne­hin niedrigen Außenzölle kaum wei­ter reduzieren, sind die Zollsenkungen Chinas (und in geringerem Maße Südkoreas) gegen­über Japan durchaus substantiell. Einige Beobachter in Japan bezeichnen RCEP daher gar als »China-Japan-Freihandels­abkommen«. Eine herausragende Handels­erleichterung ist die RCEP-intern künftig einheitliche Geltung der vergleichsweise einfach handhabbaren ASEAN-Ursprungs­regeln, die als Beleg dafür dienen, dass nur Waren aus der Freihandelszone, nicht jedoch aus Drittländern in den Genuss der Zollbefreiung kommen.

Mit einem überschaubaren bürokratischen Aufwand wird es möglich, die Ur­sprungswerte über mehrere nationale Ver­arbeitungsstufen zu kumulieren. In der Regel wird der Mindestwertschöpfungs­anteil auf FOB-Basis mit bescheidenen 40 Pro­zent angesetzt, das heißt ein Höchst­anteil für Zulieferungen aus Drittländern in Höhe von 60 Prozent. Die Harmonisierung der Informationspflichten und die Fest­legung auf eine einheitliche Mindestwertschöpfung würden nach einer Prognose von Euler Hermes im Intra-RCEP-Warenverkehr pro Jahr 90 Milliarden US-Dollar an Kosten ein­sparen.

Die amerikanischen Ökonomen Peter Petri und Michael Plummer schätzen, dass der RCEP-Handel nach Vertragsumsetzung um 500 Milliarden US-Dollar pro Jahr zu­nehmen wird und die handelsbezogenen Einkommenseffekte sich jährlich auf 186 Milliarden US-Dollar belaufen werden, wobei davon etwa knapp die Hälfte auf China und knapp ein Viertel auf Japan ent­fallen. Von den Zollsenkungen profitiert demnach Nordostasien stärker, als dies Südostasien und Australien/Neuseeland tun. Dafür gibt es zwei Gründe. Erstens liegen in Nordostasien die nach absoluten Werten größeren Volkswirtschaften, zwei­tens senken China und Südkorea die Zölle am meisten. Den Handelsgewinnen stehen zugleich Handelsablenkungen gegenüber. So geht die Intensivierung der Handels- und Investitionsverbindungen im RCEP-Raum in dynamischer Perspektive zu Lasten der transpazifischen und eurasischen Handels- und Investitionsströme, auch wenn die asiatischen Niederlassungen europäischer oder amerikanischer Unternehmen von den Erleichterungen und Liberalisierungen im Warenhandel gleichermaßen wie die Be­trie­be vor Ort profitieren.

Wichtiger noch als die unmittelbaren Handelswirkungen dürften die Impulse sein, die das Abkommen für Investitionen und die Konfigurierung der Wertschöpfungsketten liefert. Die Kombination aus Zollsenkungen, Erleichterung des grenzüberschreitenden Warenverkehrs und Ver­einheitlichung von Ursprungsregeln wird eine Reorganisation der Zuliefererketten anstoßen. Dies gilt umso mehr, als der Produktionsstandort China aufgrund der Kostensituation und amerikanischer Straf­zölle ohnehin unter Druck steht und Peking selbst eine Wirtschaftspolitik des ökonomischen und technologischen Up­grading verfolgt. Von diesem Trend könn­ten gerade die ärmeren Länder Südostasiens – darunter Kambodscha, Myanmar, Indo­nesien, Philippinen – profitieren, deren Profile als Investitionsstandort nun den neuen harmonisierten RCEP-Standards ent­sprechen müssen.

Gewinner China

Der wirtschaftliche Integrationsschub, der von RCEP ausgeht, wird insbesondere China zugutekommen. RCEP und das komplemen­täre CPTPP-Abkommen (siehe unten) stüt­zen die nationalen Wachstumskräfte in der Region und deren außenwirtschaftliche Ausrichtung auf China als industriellen Kern, indem sie die Handelsintegration in einem erweiterten Ostasien ermöglichen und dabei die Wettbewerbsfähigkeit von Gütern und Dienstleistungen »Made in Asia« erhöhen. Die Volksrepublik dürfte ihre Rolle als regionales Gravitations- und Kraftzentrum damit weiter ausbauen. Pekings Belt-and-Road-Initiative unterstützt diesen Trend zusätzlich, weil sie ökono­mische Abhängigkeiten zugunsten Chinas schafft. Dessen Position wird auch dadurch gestärkt, dass sich der seit vier Dekaden an­haltende Trend eines im Vergleich zu ande­ren Weltregionen höheren Wirtschaftswachstums Ostasiens fortsetzen wird. Dies gilt umso mehr, als die Region die Covid-19-Pandemie gesundheitspolitisch und ökono­misch vergleichsweise gut meistert und nach dieser Krise weniger strukturelle Ver­werfungen wird abarbeiten müssen.

China ist zudem der politische Gewinner von RCEP. Politische Motive dürften die Kompromissbereitschaft des Landes in den Verhandlungen denn auch befördert haben. Denn mit deren Abschluss Ende 2019 hat China bewiesen, dass es Amerikas Bemühungen, die Volksrepublik einzuhegen und zu isolieren, widerstehen kann. Die Unter­zeichnung des Abkommens im November 2020 dokumentierte ein regionales Einver­nehmen, ungeachtet der aggressiven Außen­politik, die Peking im selben Jahr gegenüber einigen der Nachbarn betrieben hatte.

Verlierer Indien

Indien hat den RCEP-Kompromiss, der nach 31 Verhandlungsrunden und 18 Minister­treffen gefunden wurde, letztlich nicht mit­getragen und ist im November 2019 aus dem Prozess ausgestiegen. Durch die Nicht­teilnahme am Abkommen entgehen Indien Einkommen in Höhe von 60 Mil­li­arden US‑Dollar jährlich, wie die Ökonomen Petri und Plummer schätzen. Der Ausschluss des Landes von Asiens Lieferketten wird die Entwicklung und Industrialisierung des indischen Subkontinents nachhaltig belas­ten. Politökonomisch ist Neu-Delhis Vor­gehen aber zumindest teilweise nachvollziehbar. Indiens Bundesregierung fürchtete die Importkonkurrenz aus China (Industrie­waren), aus Australien (Molkereiprodukte) und aus Südostasien (Gewürze) und war nicht bereit, Freihandel bei digitalen Daten und Quellcodes zu akzeptieren. Andererseits konnte Indien eigene Forderungen nicht durchsetzen, wie die nach einem Snapback-Mechanismus bei übermäßigen Warenimporten, nach restriktiveren Ur­sprungsregeln – die seine Industrie schüt­zen sollten – und nach einer weiterreichenden Öffnung der RCEP-Dienstleistungs­märkte. Vor allem war und ist eine Libera­lisierung des Warenhandels mit China in dem Land politisch nicht durchsetzbar. Denn Indien hat hier ohnehin schon ein hohes Defizit; die bilaterale Handelsstruktur wird als kolonialistisch empfunden, der chinesische Wettbewerb als unfair.

Neu-Delhi betrieb ab Mitte der 1990er Jahre durchaus erfolgreich eine Politik der außenwirtschaftlichen Liberalisierung und der weltwirtschaftlichen Integration. Doch unter Premierminister Narendra Modi hat ein Kurswechsel stattgefunden. Wie die aktuellen wirtschaftspolitischen Leitlinien »Make in India« und »Self-Reliant India« anzeigen, orientiert sich die Entwicklungsstrategie wieder stärker nach innen. Indus­triepolitik hat an Stellenwert gewonnen. Die Protektion nach außen nimmt zu, ins­besondere gegenüber China.

CAI – Priorität für Marktzugang

Kurz vor Jahresende 2020 einigten sich die EU und China auf ein Umfassendes Inves­titionsabkommen (Comprehensive Agree­ment on Investment, CAI). Vorausgegangen waren dem Abschluss 34 zähe Verhandlungsrunden über sieben Jahre hinweg. Die Aussicht auf eine gemeinsame handelspolitische Front des Westens hatte China kurz vor Amtsantritt der Biden-Administration zu entscheidenden Zugeständnissen genö­tigt. Im Ergebnis wird CAI den Marktzugang europäischer Unternehmen substantiell verbessern und die Wettbewerbsbedingungen für Investoren in China meistbegünstigend ein Stück weit fairer und regelgebundener gestalten, während der EU-Binnen­markt für chinesische Investoren auch künftig offen bleiben wird. China verzichtet auf unfreiwilligen Technologietransfer und auf Joint-Venture-Zwang, zudem verspricht es Transparenz bei staatlichen Subventionen und der Regulierung seiner Staats­unter­nehmen. In einem Nachhaltigkeits­kapitel akzeptiert Peking überdies Bemühungsklauseln zur Einhaltung von Umwelt- und Arbeitsstandards. Avisiert ist sogar, die Konventionen der Internationalen Arbeits­organisation (ILO) zur Zwangsarbeit zu unterzeichnen.

Allerdings ist fraglich, ob und gegebenenfalls wie stringent CAI umgesetzt wird. Zum einen besteht aufgrund entsprechender Negativerfahrungen große Skepsis, ob China seine der EU gegebenen Zusagen tat­sächlich einhalten wird. Zumindest wird es politisch nachdrücklicher Anstrengungen der europäischen Seite bedürfen, auf eine vertragsgerechte Umsetzung zu drän­gen. Zum anderen ist angesichts heftiger Kritik in Europa höchst unsicher, ob es überhaupt zu einer Unterzeichnung wäh­rend der fran­zösischen EU-Ratspräsident­schaft 2022 und einer anschließenden Rati­fizierung durch das Europäische Parlament kommen wird.

Offensichtlich ist, dass sich die EU als ein unabhängiger handelspolitischer Akteur positioniert, der nicht nur für einen verbes­serten Marktzugang europäischer Unternehmen eintritt – und dabei China beacht­liche Konzessionen abringen kann –, son­dern auch für eine regelbasierte Handels­ordnung und die Durchsetzung der eigenen Regulierungsstandards. Mit CAI dokumentiert die EU, dass sie gegenüber China prin­zipiell an ihrer Politik der Einbindung und Interdependenz festhält und zumindest wirtschaftlich keine Entkoppelung von der Volksrepublik anstrebt, auch wenn die politischen Gegensätze in den vergangenen Jahren gewachsen sind.

Europas handelspolitische Positionierung wird jedoch erkauft durch einen Verlust an außenpolitischer Glaubwürdigkeit. Unter der Regentschaft Xi Jinpings hat China sich autoritär verhärtet und gerade im zurückliegenden Jahr 2020 eine aggressive Politik betrieben, etwa gegenüber Hongkong, Tai­wan, Australien, Indien und Schweden. In diesem Lichte werten Kritiker aus Europas Zivilgesellschaft, Medien und Parlamenten die Übereinkunft der EU mit Peking zu Recht als opportune Akzeptanz chinesischer Realpolitik. Mit der bewusst und sichtlich gewählten Priorität für Markt­zugang ver­liert der Anspruch, gegenüber dem »System­rivalen« China die europäischen Werte Demokratie, Freiheit, Rechts­staatlichkeit und Menschenrechte zu ver­treten, politisch an Überzeugungskraft. Zudem hätte das Timing für den Abschluss der Verhandlungen kaum schlechter sein können, unmit­telbar vor Amtsantritt der demokratischen Biden-Administration, die offen für eine ge­meinsame China-Politik des Westens wirbt. CAI wird es Europa und den USA nicht ein­facher machen, eine einheitliche Position gegenüber Peking zu fin­den. Genau dies aber dürfte China mit seinem Einlenken kurz vor Ende der deut­schen EU-Ratspräsi­dentschaft bezweckt haben. Nun kann es sich als verantwortungsvolle, dem Multi­la­teralismus ver­pflichtete Großmacht prä­­sentieren. Für Europa bleibt die bittere Er­kenntnis, dass die EU in dem Dilemma zwischen außenwirtschaftlichen Interessen und außenpolitischem Anspruch die rechte Balance noch nicht gefunden hat.

CPTPP – auf dem Wege zur Erweiterung

Im Januar 2017 zogen sich die USA unter dem frisch ins Amt gekommenen Präsidenten Donald Trump aus dem – mit ameri­kanischer Federführung verhandelten – transpazifischen Freihandelsabkommen TPP zurück. Daraufhin vereinbarten die ver­bliebenen elf Staaten, die Initiative ohne Washington weiterzuverfolgen. Tatsächlich unterzeichneten Australien, Brunei, Chile, Japan, Kanada, Malaysia, Mexiko, Neuseeland, Peru, Singapur und Vietnam am 8. März 2018 das Abkommen unter der neuen Bezeichnung Comprehensive and Progressive Agreement for Trans-Pacific Partnership (CPTPP, auch TPP-11). Vom ursprünglichen Vertragstext ausgesetzt – aber nicht entfernt – wurden lediglich 22 Vertragsklauseln, überwiegend angesiedelt im Bereich der geistigen Eigentumsrechte. Bereits am 30. Dezember 2018 trat CPTPP für die Vertragsstaaten Australien, Japan, Kanada, Mexiko, Neuseeland und Singapur in Kraft, für Vietnam am 14. Januar 2019. Brunei, Chile, Malaysia und Peru haben CPTPP bis heute nicht ratifiziert.

Auch ohne amerikanische Beteiligung ist CPTPP das wichtigste Handelsabkommen seit Gründung der WTO im Jahr 1994. Was erreicht wurde, sind weitreichende Libera­lisierungen, eine wegweisende Weiterentwicklung von Handelsregeln und die strate­gische Positionierung als beitrittsoffene Speerspitze einer globalen handelspolitischen Liberalisierung. Für die EU ist CPTPP im internationalen Regulierungswettbewerb gleichermaßen Partner, Konkurrent und Widersacher. Bereits das neue USMC-Handelsabkommen, das 2017/2018 zwi­schen den USA, Mexiko und Kanada ausge­handelt wurde, nutzte zahlreiche CPTPP-Vertragsklauseln als Vorlage.

Die im CPTPP getroffenen Vereinbarungen sind zukunftsweisend. Industrie- und Warenhandel werden nahezu vollständig liberalisiert. Bei Inkrafttreten des Abkommens werden 86 Prozent der Tariflinien zollfrei gestellt, nach fünfzehn Jahren sol­len es 99 Prozent sein. Für analoge und digitale Dienstleistungen sind Nichtdiskriminierung, Meistbegünstigung, Niederlassungsfreiheit und Transparenz umfänglich und rechtsverbindlich garantiert. Für Inves­titionen gelten alle maßgeblichen Schutzstandards. Bei Enteignungen und Diskriminierungen steht der Weg zu Investor-Staat-Schiedsgerichten offen. Nachhaltigkeits­kapitel verpflichten die Vertragsstaaten auf die ILO-Schutznormen und die maßgeblichen internationalen Umweltabkommen. In Bezug auf Staatsunternehmen binden sich die CPTPP-Mitglieder an die Prinzipien Nichtdiskriminierung, Nichtsubventionierung, Transparenz, neutrale Aufsicht und kommerzielle Ausrichtung. Spezielle Fach­ausschüsse sorgen für eine vertragskonforme Implementierung des Abkommens und erforderlichenfalls für inhaltliche Anpassungen. Per jährlich rotierendem Vorsitz zeichnen Mitgliedstaaten verantwortlich für die interne Koordination und Zusammenarbeit sowie die Repräsentanz nach außen.

CPTPP steht vor einer Erweiterung. Zahl­reiche Länder haben Interesse an einer Mit­gliedschaft bekundet, darunter Großbritannien, Kolumbien, Südkorea, Taiwan, Thai­land und sogar die Volksrepublik China. Die Sequenz der Erweiterungen wird maß­geblich bestimmen, wie sich CPTPP handels- und geopolitisch aufstellen wird.

Allein das Vereinigte Königreich hat bislang formell einen Beitrittsantrag gestellt (am 1. Februar 2021). Die britische Regierung verspricht sich von einer CPTPP-Mitglied­schaft, den erstrebten handelspolitischen Neuanfang nach dem Brexit zu erreichen und den Traum von »Global Britain« in einer anglosphären Welt zu verwirklichen. Dabei stehen die Chancen auf einen Beitritt gut. Aus Sicht der CPTPP-Mitglieder wäre Großbritannien zweifellos ein wirtschaftlich attraktives Neumitglied. Zudem sollte es dem Land nicht sonderlich schwerfallen, die Verpflichtungen des Abkommens zu erfüllen. Allerdings würde dessen Charakter fundamental verändert, sollte ein Nicht-Pazifik-Anrainerstaat aufgenommen wer­den. CPTPP wäre dann weniger eine pazi­fisch-regionale Freihandelszone als viel­mehr ein anglosphär dominierter, freihändlerisch ausgerichteter Globalisierungsclub. Insofern dürfte ein Beitritt Großbritanniens nicht zum Selbstläufer werden.

Die Rückkehr der USA zu dem Abkommen wäre grundsätzlich möglich. Sehr wahrscheinlich wären die CPTPP-Mitglieder bereit, die bei der Neuverhandlung suspen­dierten 22 Vertragsklauseln wieder in Kraft zu setzen, um damit eine Aufnahme des Landes zu erleichtern. Der Beitritt würde den USA nicht nur beträchtliche Einkommensgewinne bescheren, sondern auch ein Instrument in die Hand geben, um chinesi­sche Machtansprüche einzuhegen. Aller­dings wären die bei einem CPTPP-Beitritt erforderlichen Marktöffnungen innenpolitisch derzeit kaum vermittelbar. Angesichts der bedenklichen inneren Verfassung Amerikas liegen die Prioritäten der Biden-Präsidentschaft zumindest vorläufig nicht in der Außenwirtschaftspolitik.

Der Beitrittswunsch Chinas, prominent geäußert von Xi Jinping persönlich, geht auf mehrere Motive zurück. Erstens könnte das Land mit einer CPTPP-Mitgliedschaft seine Exporte und Importe breiter aufstellen; es würde dabei erhebliche Einkommensgewinne realisieren. Zweitens könn­ten die Aufnahmebedingungen, ähnlich wie bei Chinas WTO-Beitritt von 2001, zur Durchsetzung schwieriger interner Refor­men genutzt werden. Drittens wäre die Volksrepublik als CPTPP-Mitglied exzellent positioniert, um künftig die globalen Han­delsregeln mitzugestalten. Viertens könnte Chinas Beteiligung an dem Abkommen den sino-amerikanischen Handelskonflikt ent­schärfen. Und fünftens würde ein Beitritt als diplomatischer Sieg über die USA gewer­tet werden. Allerdings ist fraglich, ob China je in der Lage sein wird, die strikt ausformulierten Vertragsklauseln zu Staatsunternehmen, geistigen Eigentumsrechten, Nach­haltigkeit und Niederlassungsfreiheit aus­ländisch kontrollierter Digitalunternehmen zu erfüllen. Für eine Aufnahme des Landes wäre daher ein erhebliches Ent­gegenkom­men erforderlich. Damit ist aber nicht zu rechnen. Schließlich liegt der un­ausgespro­chene Geschäftszweck von CPTPP darin, Peking auf eine regelgebundene Handelsordnung zu verpflichten. Einmal beigetreten, wäre China aber nicht mehr gezwungen, seine protektionistischen Strukturen und diskriminierenden Verhal­tensweisen zu ändern.

Taiwan hätte vergleichsweise wenig Prob­leme, die CPTPP-Beitrittskriterien zu erfül­len. Gegen eine Marktöffnung würde sich zwar die politisch gut vernetzte Agrarlobby des Landes heftig wehren. Doch hätte sie innenpolitisch wohl wenig Durchsetzungskraft, würde als Gegenargument auf Tai­wans politische Aufwertung verwiesen, die mit einem CPTPP-Beitritt einherginge. Allerdings hat China seinen Widerstand gegen eine Aufnahme Taiwans erklärt. Als Nichtmitglied kann die Volksrepublik des­sen Beitritt zwar nicht blockieren. Peking dürfte einen solchen Schritt aber als Ein­mischung in innere Angelegenheiten brandmarken und politischen Druck auf alle CPTPP-Mitglieder ausüben, der Auf­nahme Taiwans zu widersprechen.

Japan spielt in den anstehenden Beitrittsverhandlungen eine zentrale Rolle. Das Land ist faktische Führungsmacht von CPTPP und hat dort den diesjährigen Vor­sitz inne. Schon die Über­führung der TPP-Initiative in CPTPP wäre ohne Tokios ent­schlossenes Handeln nicht möglich ge­wesen. Denn jenseits von Liberalisierungszielen ist Han­delspolitik für die Administra­tionen von Abe (2012–2020) und Suga (seit September 2020) ein strategisches Instrument der Außenpolitik. In Kongruenz mit Japans 2016 offiziell verkündeter »Free and Open Indo-Pacific«-Strategie (FOIP) geht es bei CPTPP um die Einhegung der wirt­schaft­lichen Offensiven Chinas. Vor diesem Hin­tergrund hat die japanische Handels­büro­kratie schon deutlich gemacht, dass sie auf rigorosen Liberalisierungs- und Regulierungsstandards bestehen und es nicht akzeptieren wird, Inhalte zu verwäs­sern, damit ein wichtiger Beitritt (sprich der chinesische) möglich wird. Dabei kommt Tokio das Aufnahmegesuch des liberalen Großbritannien sehr gelegen. Mit London ließe sich ein modellhafter Beitritt durch­exerzieren und damit ein Maßstab setzen, den China sicherlich nicht erfüllen könnte.

Schlussfolgerungen für Europa

Die neue EU-Handelsstrategie für eine offe­ne, nachhaltige und durchsetzungs­fähige Handelspolitik setzt die nötigen Akzente, um in realistischer und defensiver Weise mit der chinesischen Herausforderung umgehen zu können. Das Asien außer­halb Chinas bleibt in der Strategie aber praktisch unerwähnt. Dabei handelt es sich hier um die dynamischste und vom Volumen her wichtigste Wirtschaftsregion der Welt. Und um die regelbasierte Han­delsordnung auf­rechterhalten und stärken zu können, gera­de auch in Reaktion auf Pekings Offensiven, ist eine enge Zusammenarbeit mit gleich­gesinnten Akteuren der Indopazifik-Region unverzichtbar, dar­unter mit Japan, Süd­korea, Australien, Singa­pur und Kanada.

Die europäische Handelspolitik sollte zweierlei tun. Erstens gilt es Europas indo­pazifische Handels- und Investitionsverbindungen jenseits von China auszubauen, nicht zuletzt auch um bestehende Abhängigkeiten vom chinesischen Markt abzu­mildern. Bi- und multilaterale Vereinbarungen können dafür ein sinnvolles Instru­ment sein. So sollten insbesondere die seit Jahresmitte 2018 laufenden Verhandlungen für ein Freihandelsabkommen mit Austra­lien und mit Neuseeland zügig zum Ab­schluss gebracht werden.

Zweitens ist zu empfehlen, dass die EU auch mit CPTPP als Gruppe in Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen tritt. Zumindest sollten sich EU und CPTPP beid­seitig über die Weiterentwicklung und Modernisierung der globalen Handelsregeln verständigen, insbesondere in den Bereichen geistige Eigentumsrechte, Nachhaltigkeit, Schutzmaßnahmen, Subventionen, Staatsunternehmen, digitaler Handel und Investor-Staat-Streitschlichtung. Sollte ein Abschluss mit Australien und Neuseeland gelingen, wäre die EU mit all jenen Mit­gliedstaaten in einem Freihandelsabkommen verbunden, die CPTPP ratifiziert haben. Damit wäre eine exzellente politi­sche und rechtliche Grundlage für eine euro-indopazifische Partnerschaft geschaffen, welche über die Handelspolitik hinaus auf die Außenpolitik ausstrahlen würde.

Beide Seiten verfolgen in der Handels­politik und im Verhältnis zu China analo­ge, bereichsweise deckungsgleiche Interes­sen. Da in regulatorischen Fragen ohnehin schon eine weitreichende Konvergenz besteht (bzw. in den einzelnen Freihandelsabkommen erreicht wurde), würden sich durch eine Zusammenarbeit mit CPTPP zu­dem die Chancen verbessern, EU-Stan­dards global durchzusetzen. Schließlich wäre eine euro-indopazifische Partnerschaft auch im Verhältnis zu den USA wichtig. Gemeinsam ließe sich einem in Amerika wiederkehrenden Trend zu Protektionismus und Unilate­ralismus mit sehr viel mehr Überzeugungs- und Durchsetzungskraft entgegentreten.

Dr. Hanns Günther Hilpert ist Leiter der Forschungsgruppe Asien.

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2021

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