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Nach Regionalwahl: Streit um das Nordirland-Protokoll

Kurz gesagt, 13.05.2022 Research Areas

Bei den Parlamentswahlen in Nordirland ist die republikanisch-nationalistische Sinn Fein erstmals stärkste Kraft geworden. Das wird die politische Instabilität in Nordirland weiter erhöhen – und die Beziehungen zwischen der EU und Großbritannien weiter belasten, meint Nicolai von Ondarza.

Der Wahlsieg der nationalistischen Partei Sinn Fein und die Schwäche der unionistischen DUP haben Nordirland ein historisches politisches Erdbeben beschert. Bemerkenswert ist zunächst die Größe der politischen Verschiebungen. Denn auch bald 25 Jahre nach dem Karfreitagsabkommen war die Politik in Nordirland bis dato sehr stabil, indem die pro-britische, protestantische Bevölkerung größtenteils für unionistische Parteien abstimmte und die katholische, pro-irische Bevölkerung größtenteils für republikanisch-nationalistische Parteien. Kernbestandteil des Karfreitagsabkommens ist, dass die stärksten Parteien aus beiden Lagern eine Einheitsregierung bilden. Mit 27 von 90 Sitzen hat Sinn Fein aber nunmehr als stärkste Fraktion erstmals Anspruch auf den Posten der Ersten Ministerin.

Ein zeitnahes Referendum über den Austritt aus dem Vereinigten Königreich und Vereinigung mit der Republik Irland wird es zwar mangels Mehrheit im nordirischen Parlament und in der Bevölkerung nicht geben. Ein symbolischer Sieg für die irisch-katholischen Nationalisten ist es jedoch trotzdem. Aus Londoner Sicht erhöht der Wahlsieg Sinn Feins zudem den Druck auf die Unionisten in Nordirland und trägt gemeinsam mit dem Nordirland-Protokoll zu einer Destabilisierung in Nordirland bei. Denn die DUP hat bereits zur Bedingung für eine neue Regierung gemacht, dass die Frage des Nordirland-Protokolls »gelöst« wird. Die britische Regierung bereitet hierfür einen Gesetzesentwurf vor, mit dem sie droht – als Druckmittel gegen die EU – Teile des Protokolls einseitig und damit vertragsbrüchig außer Kraft zu setzen.

(K)eine ausreichende Mehrheit für das Nordirland-Protokoll

Dabei ist festzustellen, dass London zwar die Regionalwahlen zum Anlass nimmt, das Protokoll erneut infrage zu stellen. Nimmt man allein das Wahlergebnis als Ausgangspunkt, haben jedoch die Parteien, welche das Protokoll grundsätzlich befürworten, 53 Sitze und damit eine Mehrheit im neuen nordirischen Parlament. Gleichzeitig hat die DUP, die die Ablehnung des Protokolls ins Zentrum ihres Wahlkampfs gestellt hat, eine historische Wahlniederlage erlitten. Dies ist rechtlich nicht unerheblich: Denn das Protokoll enthält einen Mechanismus, nach dem das nordirische Parlament bis Januar 2024 über dessen Fortbestehen abstimmen muss. Bei einer einfachen Mehrheit wird das Protokoll um vier Jahre verlängert, bei einer Zweidrittelmehrheit für acht Jahre.

Ausreichend für den Friedensprozess wäre eine einfache Mehrheit aber nicht. Denn das Karfreitagsabkommen baut auf gleichberechtigter demokratischer Teilhabe auf und dafür müssten beide Bevölkerungsgruppen dem Protokoll zustimmen. Die britische Regierung und die Unionisten argumentieren daher, dass eine Beibehaltung des Protokolls mit einfacher Mehrheit den Friedensprozess gefährden statt sichern würde. Kündigt Großbritannien das Protokoll allerdings gegen den Willen der pro-irischen Nationalisten, würde das den Friedensprozess aber ebenso gefährden. Schon der Brexit ist gegen den Willen der pro-irischen Bevölkerung durchgesetzt worden. Will man den Friedensprozess aufrechterhalten, bleibt nur eine Verhandlungslösung mit einem reformierten Nordirland-Protokoll.

Schwierige Regierungsbildung und Gefahr der Instrumentalisierung

Der große politische Umschwung wird auch die Regierungsbildung in Nordirland massiv erschweren. Bereits seit 2017 ist das Prinzip des politischen Konsenses, auf dem das Karfreitagsabkommen aufbaut, kaum umzusetzen gewesen. Unter dem Eindruck des Brexits, aber auch eines Korruptionsskandals, konnten sich zwischen 2017 und 2020 Sinn Fein und DUP nicht auf eine gemeinsame Regierung einigen. Diese Blockade wird sich nun absehbar fortsetzen.

Hinzukommt der politische Faktor Boris Johnson. Denn der britische Premierminister ist aus britischen Lokalwahlen, die parallel stattgefunden haben, weiter geschwächt hervorgegangen. In der eigenen Fraktion mehren sich die Rücktrittsforderungen, auch aus den Reihen der Brexiteers. Schon in der Vergangenheit hat Johnson politische Kämpfe mit der EU genutzt, um die internen Reihen zu schließen und die Brexiteers in Partei und Land hinter sich zu vereinen. Obgleich Johnson selbst das veränderte Nordirland-Protokoll mit der EU ausgehandelt und damit – anders als seine Vorgängerin Theresa May – eine Mehrheit im britischen Parlament bekommen hat, versucht er seitdem immer wieder, das Protokoll zu unterminieren oder sogar einseitig außer Kraft zu setzen, um Stärke gegenüber den Brexiteers zu demonstrieren. Für die Entscheidung der britischen Regierung, auf Konfrontationskurs mit der EU über das Nordirland-Protokoll zu gehen, spielt daher das Wahlergebnis in Nordirland nur eine untergeordnete Rolle.

Klare Warnungen und strategische Geduld

Für die EU und das Vereinigte Königreich bleibt das Nordirland-Protokoll damit eine Belastung ohne einfache Lösung. Vor allem sind die Streitigkeiten über das Protokoll aufgrund der nun noch komplexer gewordenen politischen Lage nicht allein auf technischer Ebene zu lösen, sondern brauchen eine politische Lösung. Hierfür sollte die EU drei Dinge mitbringen: Erstens braucht sie viel strategische Geduld. Die blockierte politische Lage in Nordirland, die Verknüpfung mit den wechselnden innenpolitischen Motivlagen von Boris Johnson und die hohe technische Komplexität – all das spricht gegen eine einfache und schnelle Einigung. Dabei wird Großbritannien wohl immer wieder drohen, Teile des Protokolls einseitig auszusetzen.

Zweitens sollte die EU daher ihre klare, einheitliche Linie aufrechterhalten, dass ein Vertragsbruch auf eine harte Reaktion der EU treffen würde, bis hin zum Aussetzen der präferierten Handelsbeziehungen. Ein solcher Handelskrieg zwischen der EU und Großbritannien ist mit Blick auf den Krieg in der Ukraine, in der London eine starke unterstützende Rolle einnimmt, für keine Seite wünschenswert.

Und nicht zuletzt sollte die EU Flexibilität und Kreativität in die Verhandlungen einbringen. Das Nordirland-Protokoll schützt die Außengrenze von EU-Zollunion und Binnenmarkt. Trotzdem sollte auch die EU bereit sein, alle Flexibilität ausreizen, um Handelshemmnisse zwischen Nordirland und Großbritannien so weit wie möglich zu reduzieren.