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Mitverantwortung für Nordirland

Warum sich die EU und das Vereinigte Königreich nach dem Brexit gemeinsam um flexible Lösungen bemühen sollten

SWP-Aktuell 2021/A 60, 22.09.2021, 8 Pages

doi:10.18449/2021A60

Research Areas

Auch nach dem Vollzug des Brexits belastet der Umgang mit Nordirland die Beziehungen zwischen Europäischer Union und Vereinigtem Königreich. Aus Sicht Lon­dons führt das Nordirland-Protokoll zu unzumutbaren wirtschaftlichen und sozialen Verwerfungen, darum fordert es eine grundlegende Neuverhandlung. Die EU wieder­um wirft der britischen Regierung vor, ihren Pflichten nicht vollständig nachzukom­men, die sich aus dem Protokoll ergeben. Die jüngste Verlängerung von Übergangsfristen hat die Konfrontation zwar entschärft, aber eine Regelung der schwierigen Fragen nur vertagt. Im Hintergrund schwelt weiterhin ein ernster politischer Streit mit Folgen für das ohnehin angespannte britisch-europäische Verhältnis. Doch ein reines Beharren auf den Rechtspflichten Londons reicht auch für die EU nicht – sie sollte sich bei der Umsetzung flexibel zeigen, dafür aber einfordern, dass London das Protokoll unmissverständlich akzeptiert.

Als Boris Johnson im Herbst 2019 einen neuen Austrittsvertrag mit der Europäischen Union (EU) vereinbarte, feierte er diesen als großen Durchbruch in den Brexit-Verhand­lungen. Der markante Unterschied zu dem Vertrag, den seine Vorgängerin Theresa May abgeschlossen hatte, war das vollständig neu formulierte Nordirland-Protokoll (NIP). Gut ein halbes Jahr nach Vollzug des Brexits fordert Johnson nun dessen Neu­verhandlung.

Grund dafür sind die Verpflichtungen, die das NIP für das Vereinigte Königreich (VK) mit sich bringen. Denn um die Land­grenze Nordirlands zur Republik Irland so offen wie möglich zu halten, verpflichten sich beide Seiten zu einer Reihe von Son­der­maß­nahmen: Dies betrifft zum einen Zollkontrollen. Zwar bleibt Nordirland Teil des Zollgebiets des VK, die britische Regie­rung verpflichtet sich allerdings, Zoll­kontrollen in der Irischen See zwischen Großbritannien und Nordirland durchzuführen. Nur für Waren »ohne Risiko«, in den EU-Binnenmarkt weiterexportiert zu werden, die also ausschließlich für Nord­irland bestimmt sind, fallen keine Zölle an; die Liste dieser Waren legen EU und VK gemeinsam fest. Die EU akzeptiert im Gegenzug, dass die Kontrollen einer ihrer wirtschaftlichen Außengrenzen von der britischen Regierung durchgeführt werden und die dort fälligen Zölle dem Vereinigten Königreich zufließen.

Zum anderen bestimmt das Protokoll, dass in Nordirland – im Gegensatz zum restlichen Vereinigten Königreich – weite Teile der EU-Standards beim Warenverkehr weiterhin gelten, wie etwa für Lebens­mittel, zu Kraftfahrzeugen, Medikamenten, zum Tierschutz, Spielzeug, Chemikalien und viele andere mehr. Hinzu kommen Regeln für einen einheitlichen, die Repu­blik Irland und Nordirland umfassenden Strommarkt, zur Mehrwertsteuer und zur Kontrolle staatlicher Beihilfen durch die EU. Auch Änderungen oder Erneuerungen dieser EU-Regulierungen gelten in Nord­irland fort, ohne dass die britische Regie­rung oder das nordirische Parlament ein Mitspracherecht haben. Das nordirische Parlament wird jedoch Ende 2024 darüber ab­stim­men, ob die zentralen Bestimmungen von Artikel 5–10 NIP Gültigkeit behal­ten sollen; falls nein, gilt es noch zwei Jahre lang, um EU und VK Zeit zu geben, eine neue Lösung für die irisch-nordirische Grenze in Übereinstimmung mit dem Kar­freitags-Friedensabkommen zu finden.

Seine volle Wirkung entfaltet das NIP erst mit dem harten Brexit, den Johnson und sein Chefunterhändler David Frost Ende 2020 mit der EU ausgehandelt haben. Denn nach dem Handels- und Koopera­tions­abkommen (HKA) gelten für das VK die Regeln des EU-Binnenmarkts nicht mehr, das mithin auf maximale Souveränität setzt. In der Folge wurde die harte wirtschaft­liche Grenze zwischen EU und ihrem Ex-Mitglied auch innerhalb des Vereinigten Königreichs wirksam, mit nunmehr unter­schiedlichen Zoll- und Warenregeln für den wechselseitigen Handel Nordirlands und Großbritanniens. Diese innerstaatliche Divergenz wird sich perspektivisch weiter vergrößern, je mehr Großbritannien von EU-Standards und damit auch in Nordirland geltenden Regeln abweicht.

Schwierigkeiten bei der Umsetzung

Doch auch mit Inkrafttreten des HKA zum Jahreswechsel 2020/21 haben die Spannungen zwischen EU und VK nicht abgenommen. Dabei steht erneut Nordirland und die Umsetzung des NIP im Zentrum, dessen Bestimmungen sich nach Ende der Brexit-Übergangszeit wirtschaftlich, aber auch in Form von sozialen und politischen Span­nungen in Nordirland auswirken. In den Verhandlungen über die weitere Umsetzung des Protokolls sollte die EU ungeachtet der konfrontativen britischen Diplo­matie auch die Auswirkungen vor Ort in den Blick nehmen.

Wirtschaftliche Folgen des Protokolls

Die größten wirtschaftlichen Probleme für Nordirland gab es bei der anfänglichen Um­stellung auf das neue Regime, vor allem wegen der kurzen Vorbereitungszeit. Auch als Folge der britischen Verhandlungs­strategie einigten sich EU und VK erst am 24. Dezember 2020 auf das HKA. Unternehmen in Nordirland, aber auch solche in Großbritannien mit Produktions- oder Liefer­ketten nach Nordirland hatten daher weniger als eine Woche Zeit, um sich auf die endgültigen Regeln einzustellen, die ab Januar 2021 gelten sollten. Die herrschende Ungewissheit traf Nordirland besonders hart. Laut Industrieverband Nordirland gaben 77 Prozent der Unternehmen an, negative Folgen erlitten zu haben, wobei 36 Pro­zent davon ausgehen, dass sie dauerhaft belastet sein werden. Insbesondere auf­grund der Unsicherheit über die notwendigen Formalitäten stellten zahlreiche bri­tische Unternehmen zunächst Lieferungen nach Nordirland ein, was beispielsweise einige Produktkategorien von Amazon betraf. Größere Lieferengpässe etwa in den Supermärkten seien dadurch nach Aus­sagen des Northern Ireland Retail Con­sortium aber nicht entstanden.

Die mittelfristigen Folgen sind schwerer zu beurteilen. Drei Konsequenzen sind bis­lang zu erkennen: Sowohl der Handel von Nordirland nach Großbritannien als auch in die Gegenrichtung ist nun, obwohl inner­britisch, mit nichttarifären Handelshemmnissen belastet. Je nach Produktkategorie können diese Hemmnisse die Kosten bis zur Gefähr­dung der Wirtschaftlichkeit in die Höhe treiben. Zu den stark betroffenen Sektoren zählt die Agrar- und Lebensmittelwirt­schaft. So wurden etwa zwischen Januar und Mai 2021 allein 40.000 Gesundheits­zertifikate für lebende Tiere ausgestellt, die zwischen Großbritannien und Nordirland verschifft wurden. Skandalisiert wurde in Nordirland ins­besondere, dass nach Ablauf der nächsten Übergangsfrist bestimmte tie­rische Produkte wie Würstchen nicht mehr aus Großbritannien in die EU und auch nicht mehr nach Nordirland exportiert wer­den dürften – was in der britischen Presse zum »Würstchen-Krieg« stilisiert wurde; diese Übergangsfristen hat die britische Regie­rung im September 2021 unter Dul­dung der EU aber auf unbestimmte Zeit verlängert.

Besonders kritisch wären potentielle Probleme bei der Versorgung der Bevölkerung. Diese gab es bei der holprigen Umstellung in begrenztem Maße im Lebensmittelsektor, sind mittlerweile aber behoben. Kritischer ist die Versorgung mit Medikamenten und Medizingeräten, die noch bis Ende des Jah­res trotz Regulierungsunterschieden frei zwischen Nordirland und Großbritannien gehandelt werden können. Bisher werden ca. 80 Prozent der Medikamente in Nord­irland auf einer »just in time«-Basis aus Großbritannien eingeführt. Perspektivisch dürften Medikamente und Medizingeräte, die in Großbritannien, aber nicht in der EU zertifiziert wären, nicht in Nordirland ver­kauft werden oder müssten aufwendig kon­trolliert werden. Der landeseinheitliche National Health Service (NHS) kann aber auf­grund rechtlicher und logistischer Be­schränkungen nicht ohne weiteres in Nord­irland auf EU-Medizin wechseln. Die EU hat jedoch bereits angekündigt, noch in diesem Jahr Gesetze zu erlassen, die es ermöglichen sol­len, dass britische Medikamente weiter­hin in Nordirland verkauft werden können, ohne dass dafür eine separate EU-Zulassung nötig ist.

In einigen Güterklassen hingegen ist bereits eine Verschiebung der Handelsströme in Nordirland weg von Großbritannien in Rich­tung EU/Irland zu beobachten, ins­beson­dere im Lebensmittel- und Agrar­sektor. Im ersten Halbjahr 2021 ist laut irischem Statistikamt der Export von Nord­irland in die Republik Irland um 77 Prozent gestie­gen, der Import um 43 Prozent. Zwar hat der Handel zwischen Nordirland und Großbritannien noch einen weitaus größe­ren Umfang als der mit Irland/der EU. Doch perspektivisch kann das NIP nach einer Phase der Umstellung nordirischen Unter­nehmen, die gleichzeitig Zugang zum bri­tischen und zum EU-Markt haben, einen Wettbewerbsvorteil ver­schaffen. Während die EU diese Verlagerung von Liefer- und Produktionsketten als gewollten Neben­effekt des NIP ansieht, ist sie für den briti­schen Chefunterhändler David Frost Aus­druck der nicht tragfähigen Handelshemm­nisse, die das Protokoll mit sich bringt.

Politische und soziale Spannungen in Nordirland

Gravierend auch aus EU-Perspektive sind die politischen und sozialen Spannungen, die der Brexit in Kombination mit dem NIP ausgelöst hat. Hauptmotiv für das NIP war die Bewahrung des Karfreitagsabkommens, das die Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland offen hält – ein für die nordirischen Nationalisten essenzieller Baustein. Das Karfreitagsabkommen beruht aber auch auf dem Prinzip der geteilten Zustimmung, und die Unionisten haben ihrerseits dem NIP und der damit verbundenen Sonderstellung Nordirlands nicht zu­gestimmt. Sowohl die Democratic Unionist Party (DUP) in Westminister als auch das nordirische Parlament haben gegen den Austrittsvertrag samt NIP votiert – es bleibt aber ebenfalls zu konstatieren, dass die Nordiren mehrheitlich auch nicht für den Brexit gestimmt haben.

Trotz seiner technischen Natur wirkt sich das Protokoll daher unmittelbar auf den so umkämpften Streit um die politischen Iden­titäten in Nordirland aus. Denn aus Sicht der Unionisten spaltet das NIP Nordirland vom Vereinigten Königreich ab und droht langfristig einer Vereinigung mit der Repu­blik Irland den Weg zu ebnen. Dass nun Waren im Handel zwischen Großbritannien und Nordirland kontrolliert werden müssen oder gar nicht mehr exportiert werden dür­fen, gilt auch »gemäßigteren« Unionisten als Angriff auf ihre politische Identität. Und dies in einer Situation, die ohnehin poli­tisch fragil ist. Zwischen 2017 und 2020 war Nordirland ohne Regierung, weil sich DUP und Sinn Féin auch unter den Spannungen des Brexits nicht auf die im Karfreitags­abkommen vorgesehene gemeinsame Regie­rung einigen konnten. Erst Anfang 2020 war wieder eine neue nordirische Regierung zustande gekommen, die 2021 aber kaum handlungsfähig war – vor allem weil es im unionistischen Lager erheblichen Dissens gab, ob das Protokoll nun zu akzep­tieren oder grundsätzlich abzulehnen sei. In innerparteilichen Machtkämpfen musste die langjährige DUP-Vorsitzende und nord­irische Regierungschefin Arlene Foster zurücktreten; ihr unmittelbarer Nachfolger Edwin Poots wurde nach einem Kompromiss mit Sinn Féin zur irischen Sprache in weniger als drei Wochen ebenfalls zum Rücktritt gezwungen. Der neue Parteichef Jeffrey Donaldson hat die DUP auf die Posi­tion eingeschworen, das Protokoll müsse in seiner Gänze abgeschafft werden. Im Sep­tember 2021 erklärte Donaldson, dass sich die DUP aus der nordirischen Regierung und den Gremien des Karfreitagsabkommens zurückziehen werde, wenn das Proto­koll nicht abgelöst wird; DUP-Minister wür­den das Protokoll bis dahin nicht umsetzen.

Die Ablehnung des Protokolls hat auch zu Gewaltausbrüchen in Nordirland bei­getragen. Ende März/April 2021 kam es in mehreren nordirischen Städten einschließlich Belfast zu gewaltsamen Auseinandersetzungen, die von der nordirischen Polizei als die schwersten seit Jahren bezeichnet wurden. Vertreter der gewaltbereiten Aus­prägung des Unionismus, des Loyalist Com­munities Council, haben aus Protest gegen das NIP ihre Unterstützung für den Karfrei­tagsfriedensprozess aufgekündigt und bei einer Anhörung im britischen Unterhaus offen Gewalt zu einem legitimen Mittel im Kampf gegen das Protokoll erklärt. Ange­sichts der von EU und Vereinigtem König­reich vereinbarten Verlängerung der Übergangsfristen blieben erneute Gewaltausbrüche in der »Marching Season« im Sommer 2021 allerdings aus.

Die kategorische Ablehnung des NIP ist auch insoweit problematisch, als das Proto­koll spätestens 2024 demokratische Unter­stützung im nordirischen Parlament braucht. Jenseits rechtlicher Überlegungen wäre ein NIP mit seinen weitreichenden Bestimmungen politisch Gift für den Frie­densprozess, wenn es nur von einer der beiden Seiten getragen wird.

Britische Forderungen nach einer Neuverhandlung

Diese Schwierigkeiten nutzt die britische Regierung, um eine Neuverhandlung des ungeliebten Protokolls zu fordern. Aus Sicht von Chefunterhändler David Frost – der das Protokoll selbst ausgehandelt hat – tragen das NIP und die aus britischer Sicht allzu unflexible Auslegung der EU dazu bei, Liefer­ketten zu stören, Kosten zu erhöhen und die politische Lage in Nordirland zu destabilisieren. Damit würde es auch die Beziehungen zur EU insgesamt belasten und müsse folglich in zentralen Punkten neu verhandelt werden. In dem im Juli 2021 vorgestellten Strategiepapier »Northern Ireland Protocol: the way forward« erhebt die britische Regierung drei Kernforderungen zur Reform des NIP, die aus ihrer Sicht eine tragfähigere Balance schaffen würden:

Erstens sollten die notwendigen Kontrollen bei der Ausfuhr von Großbritannien nach Nordirland drastisch reduziert werden. So sollen EU-Standards beim Export etwa von Lebensmitteln nach Nordirland nicht mehr gelten, sondern nur noch dann, wenn Waren in den EU-Binnenmarkt exportiert werden. Die Deklaration soll auf Vertrauensbasis durch die Wirtschaft erfolgen, die Kontrollen würde die britische Regierung bei den Produzenten vornehmen statt in der Irischen See. Da Exporte von Nordirland in den EU-Binnenmarkt nur 0,5 Prozent der gesamten Importe des Landes in die EU aus­machen, sei dies aus britischer Sicht ein hinnehmbares Risiko für den EU-Binnen­markt. Insofern sei ein Regime akzeptabel, das auf gegenseitigem Vertrauen aufbaut.

Zweitens sollten in Nordirland keine EU-Standards gelten, sondern ein duales Regu­lierungsregime, bei dem gleichzeitig EU- und britische Standards Anwendung finden, und dies bei produzierten Gütern ebenso wie im Lebensmittelsektor. Güter aus Nord­irland sollten auf diese Weise frei sowohl in Richtung EU-Binnenmarkt als auch den britischen Binnenmarkt zirkulieren kön­nen. Die Regelung staatlicher Beihilfen, die gemäß NIP-Protokoll der EU obliegt, soll wieder dem Vereinigten Königreich zufal­len und dort nun einer – von EU-Regeln ab­wei­chenden – Beihilfekontrolle unter­worfen werden.

Schließlich lehnt die Regierung Johnson auch die institutionelle Struktur des Nord­irland-Protokolls ab, die aus ihrer Sicht eine Unterordnung gegenüber der EU erkennen lasse und damit ein Relikt der asymmetrischen Brexit-Verhandlungssituation unter Theresa May sei. Grundsätzlich lehnt sie die Rolle des Europäischen Gerichtshofs und dessen Jurisdiktion in Nordirland ab und fordert stattdessen einen Wechsel zu den Streitbeilegungsmechanismen des HKA, das wie andere Handelsabkommen auf Schieds­gerichte setzt.

Zusammengenommen will die britische Regierung also die Kernbestimmungen des Protokolls komplett umschreiben. Sie greift dabei weitgehend Vorschläge auf, welche die EU während der Brexit-Verhandlungen immer wieder abgelehnt hat. Die EU argu­mentierte dabei, dass für sie eine offene Grenze zum EU-Binnenmarkt nur akzep­tabel sei, wenn in Nordirland EU-Standards gelten und rechtlich verbindlich durch­gesetzt werden und wenn die Warenströme in den Binnenmarkt kontrolliert werden. Eben diese Kontrollen will die britische Regierung nun aufheben und zu einem Regime überwechseln, das im Kern auf Ver­trauen basiert und so eine offene Flanke im Bin­nenmarkt schafft.

Verlust an Vertrauen in die VK‑Regierung

Doch eben dieses Vertrauen hat die Regie­rung Johnson aus Brüsseler Sicht in den vergangenen Jahren stark erschüttert, in­dem sie die aus dem NIP erwachsenen Ver­tragspflichten zunächst geleugnet, spät oder nicht zureichend erfüllt oder gar offen mit Vertragsbruch gedroht hat.

Praktisch seit Aushandlung des Nord­irland-Protokolls hat die Regierung Johnson Kernbestandteile verleugnet. So hat bei­spielsweise Boris Johnson im Wahlkampf im Herbst 2019 nordirischen Exporteuren zugesichert, es werde keine zusätzliche Bürokratie im Handel mit Großbritannien geben – obwohl das von ihm ausgehandelte Protokoll genau das Gegenteil vorsah. Diese Verleugnung der Konsequenzen des Proto­kolls hat auch dazu beigetragen, dass die Umstellungsschwierigkeiten besonders aus­geprägt waren, weil Unternehmen nicht rechtzeitig informiert wurden und daher unzureichend vorbereitet waren.

Die britische Rhetorik änderte sich dann parallel zu den Brexit-Handelsverhandlun­gen im Laufe des Jahres. Dabei erkannte die Regierung Johnson zwar schrittweise die Notwendigkeit von Grenzkontrollen gemäß NIP an. Sie begann aber nur sehr zögerlich, ihren Vertragspflichten nachzukommen. Erst spät investierte sie in den Aufbau der für die Umsetzung des NIP notwendigen Infrastruktur und in IT-Systeme; bis heute verwehrt die britische Regierung der EU nach Brüsseler Aussage die Zugänge zu den IT-Systemen, die für die Umsetzung erfor­derlich sind. Dies wiederum verstärkt die Handelshemmnisse, da notwendige Kon­trollen ohne vollumfänglich nutzbare IT-Sys­teme aufwendiger sind. Der unzureichende Zugang der EU erschwert zudem eine Eini­gung darüber, welche Waren als »ohne Risiko« eingestuft werden können.

Die antagonistische Rhetorik bekam im Herbst 2020 noch einmal Auftrieb, als die bri­tische Regierung die Nordirland-Thema­tik nutzen wollte, um Druck in den Handels­verhandlungen auszuüben, und die britische Binnenmarktgesetzgebung darauf hinauslief, Teile des NIP außer Kraft zu setzen. In den begleitenden Parlamentsdebatten warf Premier Johnson der EU vor, die territoriale Integrität des Vereinigten Königreichs zu bedrohen. Darum wollte er sich vom Parla­ment ermächtigen lassen, die völkerrecht­lichen Verpflichtungen des NIP durch natio­nales Recht zu brechen. Ein solcher Vertrags­bruch hätte nicht nur das NIP ausgehebelt, sondern aus Sicht der EU auch die Basis des Brexit-Austrittsvertrags in Frage gestellt.

Mit der Einigung auf das Handelsabkom­men strich die britische Regierung jedoch die vertragsbrechenden Klauseln aus der Bin­nenmarktgesetzgebung. Seitdem hat sie das NIP ungeachtet dessen immer wieder als »schädlich« für Nordirland kritisiert und mit scharfen Attacken gegen das Protokoll auch dazu beigetragen, dass sich die poli­tische Lage in Nordirland aufheizte. Die Übergangsfristen hat sie zunächst im März 2021 vertrags­brechend unilateral verlängert, mittlerweile mit Duldung der EU, die sich allerdings eine Wiederaufnahme ihrer Vertragsverletzungsklage offen hält. Mit ihren neuen For­derungen hat die britische Regierung zwar das Prinzip des Protokolls akzeptiert, stellt seine Kernbestandteile aber weiterhin in Frage – und behält sich ihrerseits vor, gemäß Artikel 16 NIP Teile des Protokolls auszusetzen.

Verlust an Vertrauen in die EU

Doch auch die EU hat aus britischer, aber auch nordirischer Sicht viel Vertrauen in der Nordirland-Frage verspielt. Auf der einen Seite werfen Unionisten in Nord­irland der EU vor, dass sie auf Drängen der Iren einseitig für die Nationalisten Partei ergriffen habe. Nach dieser Sichtweise ver­letzt das Nordirland-Protokoll den Grundsatz des Karfreitagsabkommens, dass kon­stitutionelle Entscheidungen in Nordirland nur mit Zustimmung beider Seiten getrof­fen werden sollen. Hierzu zählt insbeson­dere das Durchsetzen des NIP ohne Zustim­mung des nordirischen Parlaments und bei klarer Ablehnung der DUP.

Für besonders großen Unmut hat der Einbezug des NIP beim Streit über die Impf­stoffbeschaffung gesorgt. Ende Januar 2021, als das Vereinigte Königreich mit schnellem Tempo beim Impfen voranschritt und die EU noch weit hinterherhinkte, hat die EU-Kommission einen Transparenz- und Geneh­migungsmechanismus für Covid-19-Impfstoffe eingeführt. Adressat war ins­besondere der britisch-schwedische Kon­zern AstraZeneca, der seine Lieferungen an die EU drastisch reduziert hatte, während das Vereinigte Königreich weiterhin um­fassend beliefert wurde, nach Aussagen des AstraZeneca-Chefs auch, weil London früher als die EU einen Vertrag mit dem Konzern abgeschlossen und daher Vorrang habe.

In diesem ohnehin bereits politisch stark aufgeladenen Streit, in dem britische Me­dien die EU beschuldigten, Impfstoffexporte ins VK blockieren zu wollen, kam nun Nord­irland ins Spiel. Denn die EU-Kom­mission kündigte an, Artikel 16 des NIP zu nutzen, nach dem die Union (oder das VK) einseitig Schutzmaßnahmen erlassen könne, wenn die Anwendung des Protokolls zu schwerwiegenden und voraussichtlich anhaltenden wirtschaftlichen, gesellschaftlichen oder ökologischen Schwierigkeiten führt. Denn angesichts der offenen Grenze zwischen der Republik Irland und Nord­irland hätte die EU den Impfstoffexport nur vollumfänglich kontrollieren können, wenn auch Kontrollen an der irisch-bri­tischen Grenze stattgefunden hätten.

Diese Drohung, schon kurz nach Ende der Übergangszeit Kontrollen an der Grenze zu Nordirland einzuführen, und das bei dem so sensiblen Thema der Impfstoffe, rief einen Sturm der Entrüstung in Nordirland, Großbritannien, aber auch in dem vorher nicht konsultierten EU-Mitgliedstaat Irland hervor. Innerhalb weniger Stunden rief die EU-Kommission die Durchführungs­verordnung zurück und verabschiedete den Genehmigungsmechanismus ohne den Ver­weis auf Artikel 16 neu. Kommissionspräsi­dentin von der Leyen entschuldigte sich später für den unabgesprochenen Vorstoß. In der britischen und vor allem nordirischen Debatte wird die Ankündigung der Kommis­sion, Artikel 16 NIP aktivieren zu wollen, dennoch immer wieder als Beweis dafür angeführt, dass die EU die irisch-nordirische Grenze nur als Vorwand benutzt habe und im Konflikt parteiisch sei. Aus Sicht der bri­tischen Regierung habe schon allein diese Ankündigung der EU einen »dramatischen Effekt auf die öffentliche Wahrnehmung in Nordirland« gehabt. Auch wenn dieser Feh­ler der EU von der britischen Regierung instrumentalisiert wird, hat er die Neigung bei nordirischen Unionisten verstärkt, die EU nicht als neutrale Kraft anzusehen, sondern klar als parteiisch, was eine Lösung der Nordirland-Problematik weiter er­schwert.

Fünf Leitlinien für die weiteren Verhandlungen

In der Summe ergibt sich in Nordirland eine höchst komplexe Gemengelage, beste­hend aus Post-Brexit-Konkurrenz, echten und skandalisierten negativen Konsequenzen, angespanntem Friedensprozess und gegenseitigem Misstrauen zwischen EU und Vereinigtem Königreich. Eine Aussicht auf schnelle Einigung existiert derweil nicht. Die Übergangsfristen hat das Vereinigte Königreich nun unbegrenzt verlängert, gleichzeitig hat die EU ihre Klage vor dem Europäischen Gerichtshof vorerst eingefroren. Das verschafft Zeit für Verhandlungen, ist aber auf Dauer kein tragfähiger Zustand. Währenddessen stehen nach wie vor die Drohungen der Briten im Raum, ihrerseits Artikel 16 des NIP zu aktivieren und Teile davon auszusetzen oder erneut unilateral vorzugehen. Ein Fortdauern dieser Situa­tion droht das britisch-europäische Verhält­nis kurzfristig zu beschädigen und dauer­haft zu belasten. Will die EU eine langfristige Lösung erreichen, sollte sie neben einer Regelung der technischen Fragen auf der politischen Ebene fünf Leitlinien berück­­sichtigen:

Die EU hat Mitverantwortung für Nordirland: Erstens hat sie mit dem Protokoll eine Mit­verantwortung für den Friedensprozess in Nordirland übernommen. Viele negative Folgen für Nordirland sind zweifellos im Brexit begründet. Aber als Friedensprojekt und mit Blick auf das eigene Mitglied Irland hat die EU ein ureigenes Interesse daran, dass der Friedensprozess im Norden der Insel fortgesetzt wird. Die Union ist damit unwiderruflich zu einem Faktor in der nordirischen Politik geworden. Ihrer Mit­verantwortung kann und sollte sich die EU nicht mit Verweis auf die Vertrauensbrüche Londons entziehen. Trotz, nicht wegen der aggressiven britischen Verhandlungs­strategie hat die EU ein Interesse daran, sich flexi­bel bei der Lösung der tatsäch­lichen Probleme in Nordirland zu zeigen. Zahlreiche EU-Regeln gelten nun in Nord­irland, ohne dass die Bevölkerung über die nordirische oder britische Regierung ein Mitspracherecht hat. Die EU sollte daher von sich aus auf die Betroffenen zugehen und etwa durch Konsultationen mit der nord­irischen Regierung, dem Parlament in Stormont und mit der Zivilgesellschaft ein tieferes Verständnis für die so komplexen Besonderheiten Nordirlands entwickeln, auch um in Zukunft Fehler zu vermeiden wie die erwogene Aktivierung von Artikel 16. Zudem sollte Nordirland vergleichbar mit den Staaten des Europäischen Wirtschaftsraums konsultiert werden, bevor neue, für das Land verbindliche EU-Regeln erlassen werden.

Pacta sunt servanda reicht nicht aus: Zweitens genügt es nicht, einzig auf das Erfüllen des Nordirland-Protokolls zu pochen. Pre­mier Johnsons lang anhaltende Leugnung der eingegangenen Verpflichtungen und die wiederholten Versuche, das Protokoll zu missachten, haben das Vertrauen in die britische Regierung merklich beschädigt. Die späte Umsetzung und die verschleppte Informationskampagne haben zweifellos erschwerend gewirkt. Dennoch reicht es für die EU nicht aus, sich auf diese anklagende Position zurückzuziehen und mit dem Fin­ger auf London zu zeigen. Denn ungeachtet der aggressiven britischen Verhandlungstaktik gibt es durchaus längerfristige, struk­turelle Probleme, die eine enge Auslegung des Protokolls verstärken würde. Hier sollte die EU auch mit Rücksicht auf den Friedens­prozess Nordirlands Verständnis, Verhand­lungsbereitschaft und Flexibilität zeigen.

Das Protokoll ist die beste aller schlechten Mög­lichkeiten: Drittens bleibt die Erkenntnis, dass das Protokoll zwar beiden Seiten schmerz­liche Kompromisse abverlangt, aber den­noch besser ist als alle anderen Varianten. Mögliche Alternativen sind in den letzten fünf Jahren der Brexit-Verhandlungen zur Genüge durchgespielt und zu Recht ver­worfen worden. Nachdem der harte Brexit nun Realität geworden ist, muss irgendwo zwischen dem Vereinigten Königreich und dem EU-Binnenmarkt eine Zoll- und Regu­lierungsgrenze gezogen werden. Eine harte Grenze zwischen Nordirland und der Repu­blik Irland lehnen beide Seiten ab. Kontrol­len zwischen der Insel Irland und dem rest­lichen EU-Binnenmarkt wären für die EU völlig inakzeptabel, da der Brexit auf diese Weise eines ihrer Mitglieder ausgrenzen würde. Kontrollen und Management der Regulierungsunterschiede zwischen Nord­irland und dem Vereinigten Königreich bleibt daher der beste Kompromiss.

Schutz des Binnenmarkts im Prinzip, Flexibilität in der Umsetzung: Viertens sollte dieser Kompromiss so weit möglich durch tech­nische Vereinfachungen abgefedert werden. Teile der Vorschläge, welche die britische Regierung im Juli 2021 eingebracht hat, sollten für die EU weiterhin unverhandelbar sein. Dies gilt insbesondere für die For­derungen nach vollständiger Umwandlung der institutionellen Struktur in Richtung eines vertrauensbasierten Modells. Ange­sichts der Handlungen und der Rhetorik der britischen Regierung ist ein solches Modell weder glaubwürdig noch tragbar. Verhandlungsoffen sollte sich die EU hingegen zei­gen, wenn es darum geht, die bestehenden Flexibilitäten maximal auszureizen. Ein wichtiges Zeichen wäre hier die rasche Ver­abschiedung der EU-Gesetzgebung, um die Versorgung mit britischen Medikamenten in Nordirland weiterhin zu gewährleisten. Auch bei der Liste jener Güter, die EU und Vereinigtes Königreich als »ohne Risiko« klassifizieren, in den EU-Binnenmarkt weiter­verkauft zu werden, sollte die EU möglichst viel Spielraum lassen, etwa bei Lebens­mitteln aus Großbritannien, die ausschließ­lich für Supermärkte in Nordirland be­stimmt sind.

Vertrauensbildende Maßnahmen vereinbaren: Nicht zuletzt kann eine stabile Lösung mit Blick auf das Nordirland-Protokoll nur gelingen, wenn auch die britische Regierung Verantwortung und Ownership für das Protokoll übernimmt. Bei bislang jeder Einigung zum Protokoll hat die Regierung Johnson anschließend Verpflichtungen geleugnet und/oder nahezu umgehend versucht, Teile des Protokolls wieder außer Kraft zu setzen. Dabei hat London vor allem auch den Unionisten in Nordirland signa­lisiert, das Protokoll abschaffen zu wollen. Dieses Vorgehen hat die Glaubwürdigkeit der Einigungen untergraben, das Misstrauen gestärkt und zur Erosion des Friedens­prozesses in Nordirland beigetragen. Vor­aus­setzung für eine weitergehende Eini­gung über die Anpassung des Protokolls sollte daher die Vereinbarung von Maß­nahmen sein, die bei der Umsetzung der Vertrauensbildung dienen. So sollte die EU mit dem VK vereinbaren, dass die Liste der Güter »ohne Risiko« schrittweise und paral­lel zur vollumfänglichen Umsetzung des Protokolls ausgeweitet wird.

Auch bei Beachtung dieser fünf Leit­linien wird eine Einigung der EU und des Vereinigten Königreichs über das Nord­irland-Protokoll sehr schwierig werden. Doch die Alternativen sind für Brüssel wie auch für London ebenso wenig attraktiv – ein lang­wieriger politischer Konflikt, der die Beziehungen zwischen den beiden wie auch der Briten mit einzelnen europäischen Staaten dauerhaft belastet, immer neue Übergangsfristen und Gerichtsverhandlungen, die im Vereinigten Königreich genutzt werden, um gegen die EU politisch zu mobi­lisieren. Vor allem an massiven nega­tiven Folgen für die Menschen in Nord­irland kann keinem der Beteiligten gelegen sein. Eine stabile Lösung für Nordirland dagegen würde ein wichtiger Baustein sein, um nach dem schmerzhaften Brexit-Prozess zu einer Partnerschaft zwischen EU und Vereinigtem Königreich zu kommen, die in beiderseitigem Interesse ist.

Dr. Nicolai von Ondarza ist Leiter der Forschungsgruppe EU / Europa.

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