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Nach der Überprüfungskonferenz: Der NPT bleibt stabil

SWP-Aktuell 2022/A 69, 04.11.2022, 4 Pages

doi:10.18449/2022A69

Research Areas

Turnusgemäß hätte die 10. Überprüfungskonferenz des Nukle­aren Nichtverbreitungs­vertrags (Treaty on the Nonproliferation of Nuclear Weapons, NPT) 2020 stattfinden sollen. Nachdem sie viermal verschoben worden war, trafen sich die 191 NPT-Staaten im August 2022. Dass sie sich dabei nicht auf ein Schlussdokument einigen konnten, war spätestens seit der russischen Invasion der Ukraine erwartet worden. Indes spielte die Streitfrage der atomaren Abrüstung überraschenderweise keine Rolle für das Schei­tern der Konferenz – obwohl die Polarisierung hierüber seit Inkrafttreten des »Nuclear Ban Treaty« (Treaty on the Prohibition of Nuclear Weapons, TPNW) Anfang 2021 noch gewachsen war. Die nichtnuklearen NPT-Parteien machten größte Zugeständnisse, um die Konferenz keinesfalls scheitern zu lassen. Erst Russland torpedierte den Kon­sens. Dieser Verlauf zeigt, dass in einer angespannten Weltlage atomare Abrüstung als An­liegen für die Nichtkernwaffenstaaten weniger wichtig ist, als sie suggerieren. Dass die Stabilität des NPT nicht von Abrüstungsfortschritten abhängt, ist eine gute Nachricht. Für Deutsch­lands Natio­nale Sicherheitsstrategie (NSS) bedeutet dies, dass aus Gründen des NPT größere Rück­sichtnahme auf TPNW-Verfechter nicht nötig ist.

Bei der Erarbeitung der Nationalen Sicher­heitsstrategie muss die Bundesregierung die Frage beantworten, in welchem Zustand sich die Pfeiler der regelbasierten internatio­nalen Ordnung befinden, auf der Deutsch­lands Sicherheit gründet. Falls deren Zustand kritisch ist, müsste Berlin versuchen gegen­zusteuern. Der NPT ist einer dieser ordnungs­politischen Grundpfeiler. Oft ist zu hören, er sei in einer tiefen Krise und für viele Staa­ten nicht mehr zeitgemäß, ihm drohe der Kol­laps. Gerade deshalb ist es für die NSS höchst relevant zu wissen, dass der NPT stabil ist – auch nach der erfolglosen Konferenz.

Stetig sinkende Erwartungen

Nach der gescheiterten 9. Überprüfungskon­ferenz (2015) vertiefte sich die Spaltung der NPT-Staa­ten über die nukleare Abrüstung. Innerhalb der »Humanitären Initiative« setz­­ten sich jene Länder durch, die die Idee eines Vertrags zur Ächtung von Kernwaffen realisieren wollten, ohne die Atomwaffenstaaten einzubinden. Auch strikte Verifikati­onsregeln wollten sie dabei nicht zugestehen. Der 2017 geschlossene TPNW mit heute 68 Mitgliedstaaten verkörpert diese neue, kom­promisslose Linie zur Abrüstungs­frage.

Parallel verhärteten sich die Fronten. Die fünf NPT-Kernwaffenstaaten (USA, Russ­land, China, Frankreich und Großbritannien) und die Nato-Staaten lehnten die Bemühungen um den TPNW immer resoluter ab: 2014 nahmen noch fast alle Nato-Länder an der letzten Konferenz der Humanitären Initia­tive teil, bei der TPNW-Aushandlung 2016–2017 waren von ihnen nur noch die Nieder­lande ver­treten. Am Ende votierte Den Haag aber gegen den TPNW. Die Nato-Mitglieder stellten sich sofort geschlossen gegen den fertigen Vertrag, die NPT-Atomwaffenstaaten folg­ten 2018. Ende 2020 erneuerte die Nato ihre Ab­lehnung, kurz vor Inkrafttreten des TPNW.

Der Streit über den TPNW strahlte auf den NPT aus und vertiefte die alte Konfliktlinie zwischen dem Norden (bestehend aus den Kernwaffenstaaten und den Verbün­deten der USA), der auf nukleare Abschreckung setzt, und dem nichtnuklearen Glo­ba­len Süden. Deshalb rechneten viele Fach­leute damit, dass allen künftigen Überprü­fungskonferenzen wegen der nötigen Ein­stimmigkeit sehr schwierige Verhand­lun­gen bevor­stünden, sofern keine größeren Abrüs­tungs­fortschritte erzielt würden.

Der Krieg in der Ukraine begrub die letzten Hoffnungen auf eine konstruktive 10. Über­prüfungskonferenz, denn Moskau verletzt elementare nukleare Normen: Eine Atom­macht hat einen Nichtkernwaffenstaat an­gegriffen. Damit hat Russland neben der Charta der Vereinten Nationen auch die negativen Sicherheitsgarantien gebrochen, die es der Ukraine 1994 gegeben hatte, als diese ihre »geerbten« so­wje­tischen Nuklearwaffen abgab und dem NPT beitrat. Zudem versucht Moskau, seinen Angriffskrieg mit atomaren Drohun­gen ab­zuschirmen. Ange­sichts dieser Tat­sachen schien es unrealistisch zu erwar­ten, dass entweder der Wes­ten diese Norm­verstöße auf der Überprüfungskonferenz ignorieren oder dass der Kreml ein Dokument ab­segnen würde, das rus­si­sche Völkerrechtsbrüche auflistet.

Im Juni 2022 trafen sich die TPNW-Staa­ten in Wien zu ihrer ersten Konferenz. Dort wurden aber nicht »die Reihen gegen Russ­land geschlossen«, sondern erneut der Abrüs­tungsstreit in den Fokus gerückt. Die Mit­glie­der feierten den vereinbarten Aktionsplan und tadelten die auf nu­kleare Ab­schre­ckung bauenden Länder. Dabei konn­ten sie sich jedoch nicht durch­ringen, Mos­kaus Atom­drohungen im Ukrainekrieg zu verurteilen. Die Abschlusserklärung kriti­siert »alle und jegliche nukle­aren Drohungen«, was viele als Seitenhieb auch auf die Nato-Abschre­ckungs­politik verstehen. Die als Beobachter anwesenden Nato-Staaten Deutschland und Norwegen erklärten indes, dem TPNW auch künf­tig nicht beitreten zu wollen, weil dies mit ihrer Mitwirkung in der Nato als Nuklear­allianz unvereinbar sei.

In dieser doppelt polarisierten Situation gingen fast alle Expertinnen und Experten davon aus, dass die NPT-Überprüfungs­konfe­renz scheitern würde – am Streit über ato­mare Abrüstung und an Putins nuk­lear »abgeschirmtem« Überfall auf die Ukraine.

Warum scheiterte die Konferenz?

Die Überprüfungskonferenz ist tatsächlich gescheitert – die Ursache überraschte hin­gegen. Russlands nukleare Drohungen und sein Angriff auf die Ukraine waren nur in­di­rekt verantwortlich für diesen Ausgang, der Abrüstungsstreit sogar unerheblich.

Stattdessen lag der alleinige Grund dafür, dass letzten Endes kein Konsens über die Abschlusserklärung erzielt wurde, in einem Ad‑hoc-Pro­blem: Russland wollte Formulierungen im finalen Text zum Kernkraftwerk in Saporischschja, das gerade in Kampfhand­lungen ver­wickelt wurde, nicht mit­tragen. Woran genau Moskau sich störte, ist unbe­kannt. Wahrscheinlich waren es jene Pas­sa­gen, die 1) den Beschuss des Kraftwerks neut­ral ver­urteilen (Russland wollte, trotz feh­len­­der Belege, die Ukrainer als »Täter« be­nen­nen), 2) den Kontrollverlust »der zustän­di­gen ukra­i­nischen Behörden« über Saporisch­schja be­klagen und 3) fordern, die Sicher­heit aller Atom­anlagen der Ukraine wie­der­her­zustellen, und zwar der Ukraine »in ihren inter­national anerkannten Gren­zen«.

Keine der Formulierungen nennt Russland als den Verantwortlichen für die Sicher­heitslage in der Ukraine oder die Angriffe auf das Kraftwerk. Dass Kritik am russischen Vor­gehen herauszulesen ist, genügte, damit Moskau die Passage als politisiert darstellte. Russland versuchte aber nicht, Kompromiss­formulierungen auszuhandeln. Erst am letz­ten Tag, als es dafür schon zu spät war, mel­dete es Änderungswünsche an.

Enormer Wille zum Konsens spiegelt die Prioritätenfolge wider

Der vom Kreml abgelehnte finale Entwurf war in allen Punkten, die nicht Saporischschja betrafen, konsensfähig – am Schluss­tag hielten viele Länder eine Einigung für möglich. Das legen Statements der Delega­tionen sowie Eindrücke von Teilnehmenden nahe. Dass die NPT-Staaten den Entwurf einstimmig verabschiedet hätten, wenn Russland ihn nicht blockiert hätte, er­staunt. Im Text finden sich nämlich nur vage, un­ver­bind­liche Bekenntnisse zur Abrüstung; alle be­kannten Forderungen fehlen. Diese nicht aufzunehmen galt für einige TPNW-Par­teien zuvor als unzumutbar. Hierzu zählt, dass der Entwurf

  • keine konkreten und verbindlichen For­de­rungen an die fünf Kernwaffenstaaten enthält, ihre nuklearen Abrüstungs­versprechen um­zusetzen;

  • bloß zum Dialog aufruft, um Sorgen der Nichtkernwaffenstaaten über die Mo­der­nisierung der Atomarsenale anzugehen;

  • Drohungen mit Atomschlägen an keiner Stelle explizit verurteilt;

  • keine allgemeine Verpflichtung beinhal­tet, Atomwaffen niemals einzusetzen;

  • keinen Verzicht auf den Ersteinsatz von Kernwaffen (no first use) verlangt;

  • kein Moratorium für die Produktion von waffenfähigem Spaltmaterial fordert;

  • die Mitglieder nuklearer Allianzen nicht aufruft, die Rolle von Kernwaffen in ihren Sicherheitsdoktrinen zu reduzieren;

  • die auf der TPNW-Konferenz im Juni ver­einbarte Erklärung und den Aktionsplan für nukleare Abrüstung nicht erwähnt.

Viele der »Lücken« im endgültigen Text entstanden in den letzten Tagen der Kon­ferenz, als die entsprechenden Forderungen aus dem Entwurf gestrichen wurden. Dies geschah Berichten zufolge auf Druck der Kernwaffenstaaten und ihrer Verbündeten.

In der Folge waren viele Nichtkernwaffen­staaten sehr unzufrieden; einige klag­ten, die Atommächte handelten unverantwortlich. Die TPNW-Parteien betonten, der Text bleibe dramatisch hinter dem zurück, was nötig wäre, um der Atomgefahr mit Abrüs­tungsschritten entgegenzuwirken. Die zivil­gesellschaftlichen Abrüs­tungs­verfech­ter äußerten noch schärfere Kritik: Der Text­entwurf sei, meint eine Nichtregierungs­orga­nisation, »eine gefähr­liche Enttäuschung«, der NPT nur noch »ein Zombie«.

Trotz dieser Kritik hätten alle an­wesen­den Nichtkernwaffenstaaten, und da­mit auch alle TPNW-Mitglieder, dem Ent­wurf zugestimmt. Wie lässt sich das erklären?

Die mit dem Text unzufriedenen Nichtkern­waffenstaaten, zum Beispiel Österreich und Neuseeland, hätten nach eigener Aus­sage für den Entwurf votiert, um in Zei­ten enormer Erschütterungen und Unsicher­heit ihre Unterstützung für den NPT als Pfei­ler der bestehenden Ordnung auszudrücken. Damit relativierten diese Staaten die Bedeu­tung ihrer vermeintlich obersten Priorität beim NPT: der nuklearen Abrüstung.

Dieses Verhalten ist bemerkenswert. Es erhärtet die auch schon vor der Konferenz vorgebrachte Kritik, dass – in Deutschland fast unhinterfragte – zentrale Annahmen darüber, was den NPT zusammenhält, nicht der Realität entsprechen. Das übliche Ver­ständ­nis stellt den NPT als ein sensibles, fein austariertes System von Regeln in drei Berei­chen dar: der atomaren Abrüstung, der Nicht­verbreitung von Kernwaffen sowie der friedlichen Nutzung der Atomenergie. Wer­den Pflichten und Versprechen in einem der Felder verletzt, so die Annahme, ero­diere die Vertragstreue ebenfalls in den bei­den ande­ren und der NPT insgesamt werde instabil.

Neuere Forschungen zum NPT zweifeln dies an. Demnach ist eine gleich­mäßige Im­ple­mentierung der drei Bereiche nur dann essentiell, wenn es um die Weiter­entwicklung des NPT geht: So müss­ten etwa strengere Nichtverbreitungsregeln mit Abrüstungsschritten »erkauft« werden.

Im Gegensatz dazu gründet die Stabilität des NPT in seiner heutigen Form nicht auf dieser Balance. Stabil ist der NPT, wenn die Nicht­kernwaffenstaaten davon absehen, inner­halb des Vertrags Atomwaffen zu ent­wickeln oder aus dem NPT auszutreten. Für ihre Ent­schei­dung, innerhalb des NPT und vertragstreu zu bleiben, sieht die Forschung drei Gründe:

Erstens müssten NPT-Parteien, sollten sie austreten, mit Sanktionen der Großmächte rechnen, denn in dieser Grundfrage sind sich die Atommächte zumindest bisher einig. Kaum ein Nichtkernwaffenstaat ist bereit, diese Kosten zu tragen.

Zweitens würden NPT-Austritte oder eine Atomrüstung die internationale nukleare Rechtsordnung beschädigen. Viele Länder schätzen aber die rechtsverbindliche Form des Atomwaffenverzichts ihrer Nachbarn. Kaum ein Ziel ist es wert, diese verlässliche Ordnung zu zerstören. Das gilt vor allem für Mittelmächte, die Kernwaffen bauen könn­ten, es im Vertrauen auf den NPT aber nicht zu tun brauchen. Viele Mittel­mächte, auch Deutschland, profitieren sogar doppelt: Ob­wohl sie Nichtkernwaffen­staaten sind, genie­ßen sie als US-Verbündete nuk­learen Schutz.

Drittens würden NPT-Austritte und ille­gale Waffenprogramme die übergeordnete regelbasierte internationale Ordnung unter­graben, zu deren Kernteilen der NPT gehört. Eine Welt, in der sich Staaten nicht mehr an so zentrale Vereinbarungen halten, wäre jedoch gerade für kleine und schwache Länder nicht erstrebenswert, weil sie Regel­brüchen nichts entgegensetzen können.

Entscheidend ist, dass derzeit die legale nukleare Ordnung sowie die regelbasierte inter­nationale Ordnung bereits durch Russ­lands Krieg gegen die Ukraine unter Druck stehen. In dieser volatilen und unsicheren Situation wollte eine Mehrheit der Staaten gegensteuern und die Lage keinesfalls noch ver­schärfen, indem sie die NPT-Konferenz scheitern ließen. Daher waren alle Nicht­kernwaffenstaaten bereit, einem Textentwurf zuzustimmen, der keinerlei Fortschritte in der nuklearen Abrüstung enthielt.

Folgerungen für die deutsche NSS

Putins Krieg fordert nukleare Normen und die Weltordnung heraus und stellt die Koope­ration gegen Proliferation infrage. Trotzdem ist es sehr unwahrscheinlich, dass der Krieg die Grundlagen des NPT entschei­dend schwächt: Die Tole­ranz der Großmächte für Proliferation ist nicht gestiegen, die Mittel­mächte schät­zen den forma­len Verzicht ihrer Nachbarn auf Kern­waffen, und der Westen verteidigt die regel­basierte Ord­nung, damit Angriffskriege nicht salon­fähig werden.

Da zwei dieser drei Faktoren auf fast alle nichtnuklearen NPT-Parteien einwirken, ist der Vertrag äußerst stabil. Austritte und er­folgreiche vertragswidrige Kernwaffenprogramme sind sehr selten; Ausnahmen (wie Nordkorea) gibt es nur in Extremsituatio­nen. Um gegen bloße Unge­rechtigkeiten wie man­­gelnde Abrüs­tung zu protestieren, ist eine Beschädigung des NPT ungeeignet – die Kos­­ten wären viel zu hoch. Zudem würde es deut­lich schwieriger, Ab­rüstungsziele zu er­reichen, wenn die jetzige Ordnung wegfiele.

Da die Stabilität des NPT auf äußeren Fak­toren beruht, sollte die deutsche NSS an­streben, dieses Fundament zu stär­ken: indem Berlin versucht, die regel­basierte Ordnung zu erhalten, speziell das Gewalt­ver­bot; indem es ille­gale Kernwaffen­pro­gramme ebenso wie nukle­are Erpres­sung verurteilt und ahn­det; indem es klar­stellt, NPT-Aus­tritte auch dann zu sanktionieren, wenn sie nicht mit einem Kernwaffenbau einhergehen.

Unwichtig für die Stabilität des NPT sind gleichmäßige Fortschritte in den drei Ver­trags­bereichen. Ergo sind deutsche Konzes­sio­nen an TPNW-Verfechter sicher­heits­poli­tisch nicht zielführend. Wenn die Modernisierung der Atomarsenale an­dauert – und das wird sie –, kann auch ein Beobachterstatus bei TPNW-Tref­fen dessen Parteien nicht zu stren­geren Nichtverbreitungsregeln be­wegen. Deutsch­land braucht auch keine »Brücken« zum TPNW zu bauen, um so den NPT zu stabili­sieren: Die Kräfte, die den NPT zusam­menhalten, bieten ein solides Fundament.

Dr. Jonas Schneider und Dr. Liviu Horovitz sind Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik. Das Aktuell entstand im Rahmen des Projekts STAND (Strategic Threat Analysis and Nuclear (Dis-)Order).

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2022

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