Der neue Präsident der Zyperntürken stellt die Interessen seiner Volksgruppe über die strategischen Interessen der Türkei auf der Insel. Das ist eine Chance, den festgefahrenen Zypernkonflikt zu lösen, meint Günter Seufert.
Kurz gesagt, 13.05.2015 Research AreasGünter Seufert
Der neue Präsident der Zyperntürken stellt die Interessen seiner Volksgruppe über die strategischen Interessen der Türkei auf der Insel. Das ist eine Chance, den festgefahrenen Zypernkonflikt zu lösen, meint Günter Seufert.
Fast euphorisch begrüßten die Europäische Union und die USA in der ersten Maiwoche die Wahl des neuen Präsidenten eines Staates, den sie nicht anerkennen. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker sandte dem Wahlsieger Mustafa Akıncı ein Glückwunschtelegramm in die Türkische Republik Nordzypern (TRNZ), und EU-Parlamentspräsident Martin Schulz gratulierte telefonisch. Auch US-Vizepräsident Joe Biden griff zum Hörer. Er forderte Nicos Anastasiadis, den Präsidenten der griechisch dominierten Republik Zypern auf, die Chance zu nutzen, die die Wahl Akıncıs für eine Lösung des Zypernproblems biete.
Mehr als zurückhaltend waren dagegen die Reaktionen in der Türkei, dem Staat, der als einziger diplomatische Beziehungen mit der TRNZ unterhält. Präsident Recep Tayyip Erdoğan bügelte moderate Vorstöße des neuen Führers der Zyperntürken nach größerer Unabhängigkeit der TRNZ von Ankara ab. Er machte klar, dass der anatolische »Mutterstaat« und nicht der »Babystaat« die türkische Linie in den Verhandlungen bestimmen werde. Damit relativiert ausgerechnet die Türkei, die stets betonte, dass die Türken auf Zypern ein Souverän für sich seien, die Rechte dieses Souveräns. Welche Möglichkeiten bietet der Konflikt zwischen Akıncı und Erdoğan für Fortschritte auf der geteilten Insel?
Die Zyperntürken hatten 2004 für die Annahme des UN-Plans zur Vereinigung der Insel votiert. Doch nach dessen Scheitern durch das »Nein« der Zyperngriechen hatten sich die türkischen Zyprioten auf die anhaltende Teilung der Insel eingerichtet und 2009/2010 den Gegner einer Einigung, Derviş Eroğlu, erst zum Premier und dann zum Staatspräsidenten gewählt. Enttäuscht waren die türkischen Zyprioten damals auch von der EU gewesen, die dem Versprechen des Europäischen Rates, ihnen den Direkthandel mit der EU zu ermöglichen, keine Taten folgen ließen.
Dass Akıncı mit seiner Orientierung auf einen gemeinsamen föderalen Staat der Türken und der Griechen sowie auf größere Unabhängigkeit der TRNZ von Ankara über 60 Prozent der Stimmen einfahren konnte, zeigt die Unzufriedenheit der Zyperntürken mit der Politik ihres Mutterlandes. Denn Ankara setzt sich nicht wirklich für eine Lösung des Zypernproblems ein. Die Türkei mauert bei vertrauensbildenden Maßnahmen. Sie weigert sich, einen Teil der circa 40.000 türkischen Soldaten abzuziehen oder ihre Häfen für Schiffe und Flugzeuge zu öffnen, wozu sie sich im Rahmen der Zollunion mit der EU verpflichtet hat. Und sie macht auch nicht ernst mit den eigenen großen Worten, die Anerkennung der TRNZ durch befreundete Staaten zu betreiben und so die Isolation der Zyperntürken zu beenden.
Die Türkei begnügt sich stattdessen mit der Fortführung des Status Quo, der es ihr erlaubt, Militär auf der strategisch wichtigen Insel zu stationieren, der jedoch für die Zyperntürken unerträglich ist. Schon sind die türkischen Zyprioten den zugewanderten Festlandtürken gegenüber in der Minderheit, und festlandstürkisches Kapital hat im Norden der Insel eine beherrschende Stellung eingenommen. Ankara treibt den Bau von Moscheen und religiösen Schulen voran und ist nicht gewillt, seine faktische Oberherrschaft über die Zyperntürken zu lockern, wie sie im Kommando eines türkischen Generals über die zyperntürkische Armee, die Polizei und die Feuerwehr Ausdruck findet. Auch der Zentralbank-Chef ist stets ein Festlandstürke, und in den Augen vieler Zyperntürken hat der Botschafter der Türkei in Nordzypern viel zu großen Einfluss auf die Politik des Ministaates. »Weiß er, was er da sagt?«, fragte Erdoğan rhetorisch, als Akıncı von einem Verhältnis auf Augenhöhe sprach, und leitete aus der Stellung der Türkei als Garantiemacht der Zyperntürken eine Vormundschaftsrolle für Ankara ab.
Zumindest seinen Beratern muss aufgefallen sein, was für eine Blöße Erdoğan der türkischen Diplomatie damit gegeben hat. Ist doch die Wahrung der Interessen der Zyperntürken die einzige Grundlage für das Mitspracherecht der Türkei auf Zypern. Jedenfalls empfing Erdoğan am 6. Mai seinen Amtskollegen in Ankara mit allen Ehren. Man habe sich auf eine Roadmap für die Verhandlungen geeignet, hieß es hinterher. Freilich liegt die Befürchtung nahe, dass es weniger um technische Fragen ging, als dass Akıncı auf Erdoğans Linie eingeschworen werden sollte.
Denn was die neue Runde von Verhandlungen betrifft, sind zwei Vorgehensweisen denkbar. Die erste zielt – wie bisher – auf den einen großen Wurf zur Lösung des Problems. Das hat nicht funktioniert und wird nicht funktionieren, weil die Gründung eines neuen föderativen Staates quasi aus dem Stand viel zu viele Unwägbarkeiten mit sich bringt. Das Riesenprojekt weckt zwangsläufig Ängste und Widerstände auf beiden Seiten. Schließlich lebt man seit über vierzig Jahren getrennt. Kein Wunder, dass der große Wurf am stärksten von jenen favorisiert wird, die sich in Einzelfragen am wenigsten zu Kompromissen bereit zeigen; so auch Erdoğan. Die zweite Möglichkeit ist es, nacheinander eine Reihe von Schritten zu tun, die sowohl den Türken als auch den Griechen auf der Insel direkt zugutekommen, die die eine Gruppe von der Ernsthaftigkeit der jeweils anderen überzeugen, die gegenseitiges Vertrauen aufbauen und so die Zahl der Skeptiker auf beiden Seiten verringern.
Dies ist die Strategie von Mustafa Akıncı. In der ersten Ansprache nach seiner Wahl hat er erneut die Öffnung Varoshas, des ehemaligen Tourismuszentrums der Insel, angeregt. Varosha ist seit vierzig Jahren eine vom türkischen Militär besetzte Geisterstadt. Ihre Wiederbelebung unter Aufsicht der UN und die spätere Rückgabe des Gebiets an die Inselgriechen könnte von griechisch-zyprischer Seite mit der Erlaubnis beantwortet werden, den nordzyprischen Flughafen Ercan für internationale Flüge zu öffnen und so den nordzyprischen Tourismus zu befördern. Der Außenminister der Republik Zypern Joanis Kasulidis hat erstmals positive Zeichen in diese Richtung ausgesandt. So würden beide Seiten profitieren. Lange schien es, als sei jede Verbesserung der Lage der Inseltürken ein Schritt zur Festigung des strategischen und militärischen Einflusses der Türkei auf Zypern und deshalb zum Nachteil der Inselgriechen. Die Wahl Akıncıs hat das Potential, diese Gleichung neu zu schreiben. Die EU und ihre Mitgliedstaaten sollten konkrete Zwischenschritte auf dem Weg zur Lösung des Zypernproblems nach Kräften unterstützen und der neuen zyperntürkischen Regierung den Rücken stärken.
Der Text ist auch bei Handelsblatt.com und EurActiv.de erschienen.