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Krieg und Hunger – Versorgungsrisiken, Lösungsansätze, Konfliktkonstellationen

360 Grad, 01.07.2022 Research Areas

Die russische Invasion in die Ukraine, ein großer Weizenexporteur, verursacht weltweit Versorgungsrisiken. Dabei ist die Versorgungslage vielfach ohnehin angespannt. Unsere Beispiele zeigen auf, wie unterschiedlich einzelne Länder auf die Weizenknappheit reagieren. Individuelle Problemlagen in den Ländern bestimmen deren Lösungsansätze, zusätzlich zu den generelleren aktuellen Beschlüssen der G7 und der WTO zur Ernährungssicherheit. Die Koordination dieses 360 Grad hat Bettina Rudloff übernommen.

Unterschiedliche Risiko- und Konfliktmuster

Kriegsbedingt verursacht die Zerstörung von Produktions- und Transportkapazitäten Ausfälle ukrainischer Weizenlieferungen. Mittelbar wirken sich auch Lieferausfälle in der größeren Schwarzmeerregion aus, inklusive Belarus und Russland; Letzteres begrenzt Weizen- und Stickstoffdüngerexporte. Insgesamt könnten bis zu 30 Prozent der globalen Weizenexporte wegfallen.

Dabei ist die Versorgungssituation weltweit ohnehin stark angespannt: Seit Jahren gibt es 900 Millionen Hungernde. Die Weizenweltmarktpreise verdoppelten sich innerhalb des Jahres 2021 vor allem infolge steigender Energie- und Düngemittelpreise. Hinzu kam die Coronakrise, die etwa die Lieferungen von Betriebsmitteln verzögerte. Seit Kriegsbeginn stiegen die Weizenweltmarktpreise nochmals etwa um ein Drittel an. Nach Schätzungen wächst die Zahl akut Hungernder kriegsbedingt um zusätzlich fast 50 Millionen Menschen, die regionale Betroffenheit ist unterschiedlich:

Importländer wie Sudan und Nordafrika sind betroffen, da sie Weizen vor allem aus der ausfallenden Lieferregion bezogen haben. Dabei müssen alle Importländer nun höhere Preise zahlen. Das Versorgungsrisiko ist besonders hoch, wenn es keine Ausgleichsoptionen etwa in Form von Vorräten gibt, die Produktion durch Dürre erschwert, der finanzielle Spielraum für höhere Importausgaben begrenzt ist und bereits viele Menschen hungern (Horn von Afrika). Ein Zielkonflikt bei eigenen Versorgungsansätzen besteht etwa in nordafrikanischen Ländern in der Balance zwischen dem Streben nach Versorgungsautonomie und der Notwendigkeit, Getreide zu importieren, außerdem müssen sie Wasserknappheit berücksichtigen.

Große Exportländer wie die EU, Argentinien und Kasachstan dagegen profitieren von steigenden Weizenpreisen und könnten durch mehr Exporte für Preissenkungen sorgen. Große Produktionsländer, deren Exporte bislang keine weltmarktbeeinflussende Rolle spielen (Indien), rücken derzeit ins Blickfeld, da sie zur globalen Versorgungssicherung beitragen können.

Ob Export- und Produktionsländer tatsächlich zur Versorgung beitragen, hängt wiederum von Zielkonflikten ab – etwa zwischen angestrebten Exportgewinnen und interner Verbraucherentlastung (Argentinien, Kasachstan, Indien), zwischen widerstreitenden Interessen von Erzeugern und Verarbeitern (Argentinien, Kasachstan, EU) und zwischen Produktions- und Naturschutzzielen (EU).

Die aktuelle Krisenzuspitzung löste internationale Entlastungsmaßnahmen der G7, der UN und der WTO aus, darunter Nahrungshilfen, Transportinitiativen und Beschlüsse, Exportbegrenzungen einzudämmen.

Strategisch wären intensivere gemeinsame Bemühungen der großen Weizenproduzenten zur kurzfristigen Exportsteigerung ein wichtiges politisches und Marktsignal, um die Deckung der Versorgungslücke nicht ausgerechnet dem dominanten Weizenmarktakteur Russland zu überlassen. Jenseits der aktuellen Krise sind aber auch die längerfristigen Versorgungs- und ökologischen Probleme auch von den versorgungsgefährdeten Ländern und in Kooperation mit ihnen verstärkt anzugehen.

Von der Hand in den Mund: Vulnerable Maghreb-Staaten

Russlands Angriffskrieg gefährdet die Ernährungssicherheit im Maghreb besonders stark. Dort herrscht ohnehin die schwerste Dürre seit 30 Jahren. Zudem sind Algerien, Marokko und Tunesien existentiell von Weizenimporten abhängig und internationalen Preissteigerungen ausgeliefert. Von Juli 2021 bis Juni 2022 war Nordafrika (inklusive Ägypten und Libyen) zweitgrößter Getreideimporteur der Welt. Algerien und Marokko importierten zusammen fast drei Mal so viel Weizen wie die gesamte EU. Schwerpunktmäßig aus der Ukraine und Russland beziehen bislang Marokko (2021: 22,1 Prozent) und Tunesien (36,5 Prozent) ihren Weizen, während Algerien seinen Bedarf größtenteils anderweitig deckt und von hohen Öl- und Gaspreisen profitiert. Tunesien importierte 2021 mit knapp 31 Prozent aus keinem Land mehr Weizen als aus der Ukraine (Marokko: 18,7 Prozent). Tunis und Rabat sehen sich zusätzlich unter Druck, weil die Kosten für Subventionen – betreffend Lebensmittel wie Energie – und Kredite gestiegen sind, Zollbefreiungen wiederum Einnahmen sinken lassen.

Die Reaktionen auf die angespannte Versorgungslage variieren, zielen aber im Wesentlichen auf mehr Autarkie, Diversifizierung und Beschwichtigung ab. Algerien verkündete, seine eigene Weizenproduktion im Vorjahresvergleich bereits gesteigert zu haben und über Vorräte bis Ende 2022 zu verfügen. Es sucht dennoch nach zusätzlichen Weizenlieferanten und wandte sich wieder an Frankreich – von dem es sich eben erst zugunsten Russlands abgekehrt hatte. Marokko hat schon im Februar 2022 ein Programm zur Unterstützung der Landwirtschaft über rund eine Milliarde Euro aufgelegt; zudem will man strategische Reserven an Grundnahrungsmitteln schaffen. Doch mehren sich Proteste gegen Preissteigerungen im Land. Wohl auch deshalb bemüht sich Marokko, seine Importe zu diversifizieren, und blickt nach Lateinamerika. Im hochverschuldeten Tunesien machte der Präsident – auf Antikorruptionsfeldzug – Stimmung gegen mutmaßliche Spekulanten. Er lenkte so davon ab, dass Lebensmittel, aber auch Problemlösungsansätze tatsächlich knapp sind. Der Unmut über steigende Preise und der Widerstand gegen eine autoritäre Konsolidierung könnten sich gegenseitig verstärken und einmal mehr eskalieren.

Die internationale Gemeinschaft kann die Kriegsauswirkungen im Maghreb möglicherweise kurzfristig abfedern. Vor dem Hintergrund hohen Bevölkerungswachstums in der Region sollte sie überdies lokale Agrarprojekte fördern, um die Abhängigkeit von Weizenimporten längerfristig zu verringern. Dabei stellt sich angesichts regionaler Wasserknappheit die Frage, inwiefern die geplante Energietransformation so gestaltet werden kann, dass sie größerer Ernährungssouveränität des Maghreb nicht im Wege steht. Dies gilt insbesondere für die von Deutschland angestrebten Wasserstoffkooperationen.

Horn von Afrika: Politisches Versagen führt zu Hungersnot

Die Länder am Horn von Afrika leiden seit längerem weltweit mit am stärksten unter Ernährungsunsicherheit. In Äthiopien, Sudan, Südsudan, Somalia und Kenia sind davon 2022 bis zu 38 Millionen Menschen akut betroffen, so die Welternährungsorganisation (FAO) und das Ernährungsprogramm der Vereinten Nationen (WFP). Rund 700.000 Menschen droht ohne schnelle externe Hilfe der Hungertod. Gegenüber dem Preisschock bei Weizen als Folge des Ukraine-Krieges sind diese Länder besonders verwundbar. Verantwortlich dafür sind eine ohnehin schlechte Versorgungslage, bewaffnete Konflikte, politische Instabilität, Überflutungen und aktuell die schlimmste Dürrekrise seit 40 Jahren.

Weizen gehört zu den wichtigsten Lebensmitteln in Äthiopien und Sudan. Ein Fünftel der täglichen Kalorienzufuhr in Sudan stammt aus Weizenmehl. Laut FAO deckt das Land 77 Prozent seines entsprechenden Verbrauchs durch Importe, die 2021 zu rund 35 Prozent aus Russland und der Ukraine kamen. Äthiopien importierte 2020/21 etwa 30 Prozent seines Weizenbedarfs, davon wiederum 20 Prozent aus der Ukraine.

Zu Preissteigerungen von geschätzt 20 Prozent für Weizen kommen in Sudan höhere Kosten für Energie und Düngemittel, was zu Versorgungsengpässen führt. 2021 machte Nahrung für den Großteil der Bevölkerung zwei Drittel ihrer Gesamtausgaben aus. Dabei erhielten insgesamt 27,8 Millionen Menschen in Äthiopien, Somalia, Südsudan und Sudan humanitäre Nahrungsmittelhilfe.

Schon länger gilt am Horn von Afrika das erklärte Ziel, die eigene Weizenproduktion zu steigern. Äthiopiens Regierung fördert den Anbau des Getreides und will bis 2023 unabhängig von Importen sein, worin Deutschland sie unterstützt. Die Regierung kauft alle Weizenimporte selbst; bereits 2021 senkte sie den Zoll, um Einfuhren günstiger zu machen. Sudan konnte seine Weizenernte durch verbessertes Saatgut zwischen 2015 und 2020 mehr als verdoppeln. Die Regierung erwarb üblicherweise die Ernte von Bauern zu festgelegten Preisen. Seit dem Putsch im Oktober 2021 befindet sich das Land in einer politischen Krise, was die Wirtschaftslage verschärft und bisherige Ansätze hemmt. Während Millionen hungern, droht geernteter Weizen wegen schlechter Lagerung zu verrotten, da der Staat ihn nicht mehr abkaufen kann.

Der Spielraum regionaler Regierungen ist begrenzt, eine weitere Weizenpreissteigerung abzufedern, denn wegen bewaffneter Konflikte und politischer Instabilität fehlen Währungsreserven und sind die Staatskassen leer. Politische Eliten investieren in Sicherheit und die Versorgung ihrer Netzwerke statt in Agrarproduktion und Nahrungsmittelversorgung. In der Folge erwächst aus Ernährungsunsicherheit eine lebensbedrohliche Hungersnot.

Argentinien: Weizenexporteur mit ungenutzten Möglichkeiten

Als landwirtschaftlicher Nettoexporteur profitiert Argentinien von gestiegenen Agrarpreisen. Wegen seiner Verpflichtungen beim Internationalen Währungsfonds ist das Land auf Devisenzuflüsse angewiesen. Zugleich steigern hohe Exportpreise die Inflationsrate; die nahrungsbezogene lag im Mai 2022 bei 64,2 Prozent. Dabei lebt mehr als ein Drittel der Bevölkerung unter der Armutsgrenze. Zwar verfügt das Land über ausreichende Flächen, um seine Agrarproduktion zu erhöhen. Es könnte entscheidend dazu beitragen, ukrainische Lieferausfälle auf dem Weltmarkt zu ersetzen, auch weil argentinische Ernten anstehen, wenn auf der Nordhalbkugel Herbst ist. Doch bleibt dieses Potential ungenutzt – als Folge mehrerer Faktoren.

2021 war Argentinien der weltweit siebtgrößte Weizenexporteur, mit einem Anteil von rund 6 Prozent und einer Menge von etwa 11,5 Millionen Tonnen. Hauptabnehmer ist Brasilien, an das fast die Hälfte der Ausfuhren ging. Allerdings ist Argentinien stark von Düngemittelimporten abhängig; entsprechende Engpässe könnten bei Mais und Weizen den Ertrag um bis zu 26 Prozent reduzieren, den Export um bis zu 12 Prozent. Die aktuelle Knappheit energetischer Betriebsmittel wie Diesel und Gas bremst ebenfalls die Produktion. Zudem bewirkt die Kluft zwischen den offiziellen Wechselkursen des US-Dollars und dem Schwarzmarktwert, dass die Produktionsfaktoren des Agrarsektors teurer gehandelt werden als die Exportprodukte. Weitere Probleme bringt eine anhaltende Dürre.

Die agrarpolitischen Entscheidungen der Exekutive offenbaren die doppelte Herausforderung, Engpässen zu begegnen, damit die Eigenversorgung gesichert wird, und an wachsenden Gewinnen teilzuhaben. Für Weizen gilt traditionell eine Exportrestriktion, die im März 2022 für das Wirtschaftsjahr 2022/23 auf 10 Millionen Tonnen festgelegt wurde. Als befristete Maßnahme schuf die Regierung ebenfalls im März einen Weizen-Stabilisierungsfonds, um einheimische Mühlen zu entlasten. Finanziert werden soll er durch erhöhte Ausfuhrzölle auf Soja-Nebenprodukte. Die Restriktionen beim Zugang zum Devisenmarkt wurden im Mai für Ölförderung und Gasproduktion gelockert, um Investitionen in dem Sektor anzukurbeln. Gleichzeitig will sich der Staat an Übergewinnen beteiligen. Geplant ist eine Sonderbesteuerung für Unternehmen, die vom Krieg profitieren. Während Präsident Alberto Fernández dies als Umverteilung bezeichnet, klagt der Agrarsektor, zu den lange schon hohen Exportsteuern komme nun eine weitere Belastung. Vielfach ist von einer „verpassten Chance“ die Rede, weil Argentinien außerstande ist, Produktion und Export von Agrargütern signifikant zu steigern. Eine nennenswerte Entlastung des Weltmarkts ist von hier jedenfalls nicht zu erwarten.

Kasachstan: Potentiale werden nicht ausgeschöpft

Kasachstan ist einer der zehn größten Weizen- und Weizenmehlexporteure. 2020 wurde von geernteten 14 Millionen Tonnen etwa ein Drittel exportiert. Rund die Hälfte der Ausfuhren geht nach Usbekistan. Tadschikistan und das besonders versorgungsgefährdete Afghanistan sind weitere Hauptabnehmer und beziehen über 90 Prozent ihrer Importe aus Kasachstan. Bei Weizenmehl wurden 2020 rund 1,7 Millionen Tonnen ausgeführt, zwei Drittel davon nach Afghanistan. Auf Usbekistan entfielen 20 Prozent, 6 Prozent auf Tadschikistan. Stark zugenommen haben Kasachstans Exporte von Weizen und Mehl in den Iran.

Besonders für die Produktion von Weizenmehl sind Weizenimporte aus Russland wichtig. Diese sind für Mitglieder der Eurasischen Wirtschaftsunion (EWU), der auch Kasachstan angehört, zollfrei und damit billiger als heimischer Weizen. Kasachstans Müller kaufen daher russischen Weizen hinzu, um Mehl vor allem für den heimischen Markt zu produzieren.

Als Russland im März die Ausfuhr seines Weizens auch in die EWU beschränkte, stieg der Preis binnen eines Monats um 34 Prozent. Gleichzeitig drohte eine Unterversorgung des heimischen Marktes. Zahlreiche Mühlen in Kasachstan stellten die Produktion ein, weil lokale Anbieter weitere Preissteigerungen erwarteten und darum größere Mengen Weizen für den Export zurückhielten. Dieser Trend veranlasste Kasachstan Mitte April, zunächst bis Mitte Juni selbst Exportquoten für Weizen (1 Million Tonnen) und Mehl (300.000 Tonnen) festzusetzen.

Dabei könnte Kasachstan zusätzliche Abnehmer versorgen, zumal die Erträge 2022 ungefähr 15 Prozent höher liegen dürften als im Vorjahr. Entsprechende Pläne liegen vor, werden aber vorerst nicht umzusetzen sein. Die Hauptroute für den Export verläuft über Russland, das von den Mitgliedern der EWU verlangt, sie sollten Quoten und Zölle auf Getreideexporte in Drittländer erheben. Auch hat Russland gedroht, seine Weizenexporte weiter zu verringern, falls der lukrative Re-Export russischen Getreides nicht unterbleibt.

Kasachstans Verband der Getreideproduzenten hat sich gegen solche Restriktionen ausgesprochen und betont, das Land sei auf russische Weizenimporte nicht angewiesen. Dennoch wurde die Exportkontingentierung bis 30. September verlängert und für Weizen sogar verschärft, um Preisstabilität und damit die Versorgung mit Brot zu sichern, dem wichtigsten Grundnahrungsmittel gerade der ärmeren Bevölkerungsgruppen.

Nicht nur wirtschaftliche Interdependenzen mit Russland begrenzen also die Exportmöglichkeiten, sondern auch Preiskämpfe zwischen Erzeugern und Verarbeitern. Das Zusammenwirken beider Faktoren hat zur Folge, dass Kasachstan sein Potential nicht ausschöpfen und daher zur Weltmarktentlastung kaum beitragen kann.

Die EU: Entscheidung zur Marktentlastung zwischen Nahrung, Futter, Kraftstoff und Ökologie

Die EU ist nicht unmittelbar in ihrer Nahrungsmittel- und insbesondere Weizenversorgung gefährdet. Doch das steigende Preisniveau belastet auch in der EU ärmere Haushalte. Ursachen sind hohe Energie- und damit Transport- und Verarbeitungskosten, aber auch knappe, folglich teure Düngemittel. Hier besteht eine hohe Importabhängigkeit der EU. Dagegen liegt sie mit einem Anteil von etwa 20 Prozent an den globalen Weizenexporten fast gleichauf mit Russland und vor Australien, Kanada und den USA. Insofern hat sie durchaus Einfluss auf weltweite Mengen, Preise und die globale Versorgungssicherheit.

Überlegungen, wie die EU zur Marktentlastung beitragen könnte, gehen von der Frage aus, ob EU-Exporte kriegsbedingt wegfallende Getreidelieferungen auffangen können:

Schon im März haben Mitgliedstaaten aus ökologischen Gründen stillgelegte Flächen für den Nahrungs- und Futteranbau freigegeben; Deutschland begrenzte dies auf die Futternutzung des Pflanzenaufwuchses auf den Stilllegungsflächen.

Die EU ermunterte die Mitgliedstaaten zu einer Umnutzung von Agrarkraftstoffen zugunsten von Nahrungsmitteln, was bereits Kroatien, die Tschechische Republik und Finnland getan haben. In Belgien, Schweden, Lettland und Deutschland stehen ähnliche Entscheidungen an.

Diese Maßnahmen kommen für 2022 zu spät. Schneller wirkende Ansätze greifen über die Agrarpolitik hinaus:

Im März wurden 330 Millionen Euro als Hilfen an den ukrainischen Agrarsektor beschlossen, im Mai Transporthilfen gewährt, um in der Ukraine feststeckende Weizenmengen angesichts der blockierten Seepassage über alternative Routen zu exportieren. Auch wurde die Marktöffnung im EU-Ukraine-Assoziierungsabkommen komplettiert, um eine schnellere Zollabfertigung zu ermöglichen.

Für 2023 und insofern rechtzeitig für eine Steigerung der Getreideaussaat wird darüber debattiert, die Inkraftsetzung beschlossener Naturschutzvorgaben zu verschieben: hierzu zählen die Verdoppelung ökologischer Vorrangflächen oder eine neue Fruchtfolgeverpflichtung, die aus Naturschutzgründen kontinuierlichen Weizenanbau verhindert.

Der Ukraine-Krieg lässt die Debatte um Ansprüche auf begrenzte Flächen wiederaufleben, um die beim Anbau von Nahrung, Futter, Energie- und Kraftstoffträgern ebenso konkurriert wird wie hinsichtlich ökologischer Ziele wie Artenvielfalt. Gerungen wird darum, ob Grundsatzentscheidungen im Green Deal der EU und seiner landwirtschaftlichen Komponente, der auf verbesserten Natur- und Klimaschutz gerichteten Farm-to-Fork-Strategie, aufgegeben werden sollen oder ob es eher um flexible befristete Krisenmechanismen für mehr Produktion in akuten Versorgungskrisen gehen soll. Insgesamt werden aktuelle Beschlüsse von EU und G7 der Idee der nur vernetzt zu gewährleistenden Versorgungssicherheit insofern gerecht, als sie unterschiedliche Faktoren wie Düngemittelverfügbarkeit, Transport und Handel berücksichtigen.

Indien: Strategisch gezielte Weizenexporte begleiten Exportrestriktionen

Mit seiner Ankündigung Anfang Mai, mittels indischer Getreideexporte die Welt vor drohendem Hunger zu retten, unterstrich Premierminister Modi Indiens globale Führungsambitionen. Vermutlich hoffte er damit auch Vertrauen bei den westlichen Staaten zurückzugewinnen, das Indien durch seine Enthaltungen bei den Abstimmungen in den Vereinten Nationen über Sanktionen gegen Russland teilweise verloren hatte. Am 13. Mai vollzog die indische Regierung jedoch eine Kehrtwende und verhängte einen sofortigen Exportstopp für Weizen. Ausgenommen davon waren jedoch bereits getroffene Vereinbarungen sowie Lieferungen an Nachbarländer und versorgungsgefährdete Staaten.

Der Politikwechsel löste eine heftige innenpolitische Debatte aus. Als Gründe für sein Vorgehen nannte Neu-Delhi geringere Weizenlagerbestände als im vergangenen Jahr und zu befürchtende Ernteausfälle nach der Hitzewelle im Frühjahr. Indien leidet zudem unter Teuerungen bei Nahrungsmitteln von über acht Prozent. Zwar gilt das Land als Selbstversorger bei der Nahrungsmittelproduktion, doch Hunger und Unterernährung sind weiterhin ein Problem. Experten monierten, dass die staatlichen Vorräte kein versorgungskritisches Niveau erreichten. Darüber hinaus belaste der Exportstopp die Bauern entgegen der Regierungsankündigung, deren Einkommen zu verdoppeln. Die innenpolitische Brisanz erklärt sich auch aus den weltweit umfangreichsten öffentlichen Nahrungsprogrammen, von denen rund 800 Millionen Menschen abhängig sind.

Jenseits innenpolitischer Beweggründe scheint Indien mit dem Exportstopp auch außenpolitische Interessen zu verfolgen. Nach China gilt das Land als zweitgrößter Weizenproduzent, doch mit einem Anteil von weniger als einem Prozent spielen seine Weizenexporte auf dem Weltmarkt kaum eine Rolle. Dennoch kann Indien die Weizenausfuhr instrumentalisieren, um bedürftige Staaten in der Nachbarschaft zu unterstützen, wie Afghanistan, Bangladesch und Nepal. Damit will es wieder mehr Einfluss gegenüber China erlangen.

Ferner versuchte Indien, den Exportstopp als Druckmittel in den WTO-Verhandlungen einzusetzen. Zwar wird in einem WTO-Beschluss vom Juni 2022 zu Exporten aus Lagerhaltung ermuntert. Allerdings wird dort auch das WTO-Verbot subventionierter Exporte wiederholt. Vermutlich wollte Indien beim letzten WTO-Ministertreffen die Versorgungskrise nutzen, um Sonderregeln für die Ausfuhr seiner subventionierten Lagerbestände zu erhalten. Doch konnte sich Neu-Delhi nicht gegen Widerstände der Industriestaaten und wichtiger Staaten des Globalen Südens durchsetzen.

Trotz Indiens globaler Ambitionen dienen seine begrenzten Weizenexporte eher gezielt außenpolitischen Interessen. Indiens Position erinnert die WTO zugleich daran, dass sie einen neuen Umgang mit den ohnehin wiederholt von vielen Ländern vorschnell genutzten und global oft schädlichen Exportrestriktionen finden sollte.

Zitiervorschlag

Zitiervorschlag 360 Grad gesamt:

Bettina Rudloff (Koord.), Krieg und Hunger – Versorgungsrisiken, Lösungsansätze, Konfliktkonstellationen, Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, 01.07.2022 (360 Grad)

Zitiervorschlag einzelner 360 Grad-Beitrag:

Aljoscha Albrecht, Isabelle Werenfels, „Von der Hand in den Mund: Vulnerable Maghreb-Staaten“, in: Bettina Rudloff (Koord.), Krieg und Hunger – Versorgungsrisiken, Lösungsansätze, Konfliktkonstellationen, Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, 01.07.2022 (360 Grad)