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»Kein Blick in die Glaskugel«

Der Herausgeber der SWP-Studie »Während wir planten«, Lars Brozus, spricht im Interview über den Mehrwert, den eine wissenschaftlich angeleitete Vorausschau der Politik bieten kann.

Kurz gesagt, 29.05.2018 Research Areas

Der Herausgeber der SWP-Studie »Während wir planten«, Lars Brozus, spricht im Interview über den Mehrwert, den eine wissenschaftlich angeleitete Vorausschau der Politik bieten kann.

2019: Die Türkei tritt aus der Nato aus und wendet sich stärker Russland zu. Der Zusammenhalt des Bündnisses wird fundamental infrage gestellt. Solche und ähnliche Zukunftsszenarien und ihre potenziellen Folgen für deutsche und europäische Politik sind Gegenstand der von Ihnen herausgegebenen Foresight-Studie. Wozu sind solche Zukunftsszenarien nützlich?

Lars Brozus: Sie können dabei helfen, sich besser auf unerwartete Ereignisse einzustellen. In den letzten Jahren wimmelte es in der internationalen Politik geradezu vor Überraschungen: Der Brexit, Donald Trump oder Russlands Annexion der Krim sind einige prominente Beispiele. Und wir müssen davon ausgehen, dass weitere Überraschungen folgen. Daher spielen wir Situationen durch, die denkbar sind, wie zum Beispiel eine Annäherung zwischen Saudi-Arabien und dem Iran oder die nukleare Bewaffnung Südkoreas.

Sie plädieren in der Einleitung zur Studie dafür, dass Wissenschaft gegenüber der Politik Erwartungsmanagement betreiben müsse, wenn es um vorausschauende Analysen geht. Was können politische Entscheidungsträger von Ihren Studienergebnissen erwarten – und was nicht?

Den Blick in die Glaskugel gibt es bei uns nicht: Wir können und wollen nicht vorhersagen, was passieren wird. Und das sollten wir der Politik auch nicht vorgaukeln, weil dann Enttäuschungen vorprogrammiert sind. Wir können aber dabei helfen, den Blick der Politik für Situationen zu schärfen, die überraschend eintreten könnten. Dabei geht es nicht nur um die in der Studie beschriebenen Entwicklungen. Vielmehr möchten wir betonen, wie wichtig es ist, auch andere potenzielle Entwicklungen und ihre Folgen im Blick zu haben, um in der Lage zu sein, schließlich besser mit unvermeidlichen Überraschungen umzugehen.

Zwei wichtige Ereignisse der jüngeren Geschichte sind kaum antizipiert worden, Sie haben sie bereits genannt: Der Brexit und die Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten. Wieso?

Die Wahlumfragen legten jeweils einen anderen Ausgang nahe. Man darf aber nicht vergessen, dass in beiden Fällen das Wahlergebnis recht knapp ausfiel. Bei Trump entschieden etwa 90.000 Stimmen über den Ausgang. Das lässt sich seriös kaum prognostizieren. Dennoch hätte sich die Politik besser vorbereiten können, etwa indem die möglichen Folgen auch für das unerwartete Ergebnis ernsthaft durchgespielt worden wären. Ehrlicherweise sollte aber hinzugefügt werden, dass die Wissenschaft ebenfalls oft überrascht wird, etwa vom Arabischen Frühling. Auch deshalb investieren wir Zeit und Energie in die wissenschaftlich angeleitete Vorausschau.

Wie kann sich Politik so verändern, dass sie in der Lage ist, Vergleichbares vorherzusehen und sich darauf vorzubereiten?

Wichtig wäre es, sich regelmäßig mit Situationen auseinanderzusetzen, von denen es denkbar ist, dass sie eintreten – selbst wenn dies unwahrscheinlich ist. Ziel ist einerseits, mögliche Entwicklungen besser zu antizipieren. Andererseits geht es darum, ganz konkrete Reaktionen auf unerwartete Ereignisse einzuüben: Wer nimmt an der Lagebesprechung teil, welche Fragen müssen dort beantwortet und wie muss kommuniziert werden? Dabei können Planspiele und Szenarien helfen. Das geht allerdings zu Lasten der Routinetätigkeiten. Es würde sicher helfen, in der politischen Administration mehr Anreize für diese Form der zukunftsorientierten Analyse zu setzen.

Wie unterscheidet sich eine wissenschaftlich angeleitete Vorausschau von einer Prognose?

Die Prognose macht eine Vorhersage darüber, mit welcher Wahrscheinlichkeit und wann ein konkretes Ereignis eintreten wird. Das nennt man auch Forecast. Foresight – die Vorausschau – befasst sich hingegen mit hypothetischen Entwicklungen. Welche Folgen könnte es beispielsweise haben, wenn sich die USA, China und Russland darauf verständigen, die Reform der Vereinten Nationen gemäß ihren Interessen voranzutreiben, oder wenn es zu einer systematischen Manipulation von EU-Datenbanken im Sicherheitsbereich kommt? Wir machen darauf aufmerksam, was und wie etwas passieren könnte. Zugleich wird thematisiert, welche Handlungsoptionen gegebenenfalls bestehen.

An welchen Kriterien orientieren Sie sich bei der Auswahl der Foresight-Beiträge?

Drei Kriterien sind uns wichtig: Konsistenz, Plausibilität und Relevanz. Konsistenz bezieht sich auf die beschriebene Situation: Ist sie in sich schlüssig? Plausibilität betrifft ihre Einbettung in den jeweiligen realpolitischen Kontext: Erscheint die Situation grundsätzlich vorstellbar? Hier ist die wissenschaftliche Expertise und Kreativität besonders gefragt. Und dann finden wir Situationen interessant, die, wenn sie eintreten, zwar erhebliche Auswirkungen auf die deutsche und europäische Außen- und Sicherheitspolitik hätten, aber gegenwärtig nicht im Zentrum der politischen Aufmerksamkeit stehen.

Ihre Studie enthält auch zwei »Foresight-Rückschau«-Beiträge, die sich kritisch mit Szenarien aus dem Jahr 2013 auseinandersetzen. Wozu dient diese Übung?

Die Foresight-Rückschau ist eine methodische Innovation. Dabei setzen sich die Autorinnen und Autoren aus heutiger Perspektive mit ihren früheren Zukunftsvorstellungen auseinander. Konkret fragen sie zum Beispiel, welche Einflussfaktoren ihnen damals besonders wichtig erschienen waren und wie sie diese aus heutiger Sicht beurteilen. Diese Selbstüberprüfung ermöglicht es, die Annahmen über künftige Entwicklungen zu aktualisieren.

In der ersten Rückschau reflektiert die Autorin ihre Sicht auf eine Revolutionierung des Energiesektors durch einen Durchbruch in der Stromspeichertechnik. Was ist aus heutiger Sicht anders?

Womit sie 2013 nicht rechnete, war der rasante Verfall des Ölpreises, der in den folgenden Jahren Investitionen in mehr Energieeffizienz unattraktiv machte. Dieser Faktor spielt daher in ihrer aktuellen Analyse eine sehr viel größere Rolle.

Der zweite Rückschau-Beitrag fragt: Ist der Verhandlungsprozess zum britischen EU-Austritt so verlaufen, wie ihn der Autor 2013 erwartet hatte? Welches Fazit zieht er?

Im Großen und Ganzen verliefen die Verhandlungen tatsächlich so, wie der Autor das drei Jahre vor dem Referendum, das 2016 stattfand, erwartet hatte. Was er damals unterschätzt hat, ist einerseits das Konfliktpotential innerhalb der britischen Regierung und andererseits das Einigungsvermögen der EU-27.

Wie könnte diese Erkenntnis künftige Foresights verbessern?

Die systematische wissenschaftliche Selbstreflexion kann den Blick für wichtige Einflussfaktoren schärfen, die wir womöglich übersehen. Wir lernen also für künftige Foresights.

Das Interview führte Candida Splett von der Online-Redaktion. Es ist auch bei EurActiv.de erschienen.