Tunesien ist noch immer die einzige funktionierende arabische Demokratie. Doch das Land benötigt dringend Strukturreformen. Europa sollte seine Finanzspritzen künftig von Reformschritten abhängig machen, empfehlen Christian-P. Hanelt und Isabelle Werenfels.
Am 14. Januar ist es neun Jahre her, dass Tunesiens langjähriger Diktator Ben Ali infolge von friedlichen Massen-Protesten nach Saudi-Arabien flüchtete. In dem Land mit den knapp 12 Millionen Einwohnern ist in der Folge der Übergang von der Diktatur zur Demokratie gelungen. Zuletzt fanden im Herbst 2019 Parlaments- und Präsidentschaftswahlen statt, die von in- und externen Beobachtern als fair und frei taxiert wurden. In keinem anderen arabischen Land arbeiten internationale Menschenrechtsorganisationen so ungehindert, beeinflussen lokale Watch-Dog-Organisationen das Verhalten der Politiker so stark und kämpfen sexuelle Minderheiten so offen für ihre Rechte.
Diese positiven Entwicklungen waren keineswegs selbstverständlich. Innenpolitische Turbulenzen nach zwei politischen Morden 2013 sowie islamistische Anschläge auf Touristen 2015 und die Folgen des Bürgerkriegs in Libyen, die auch Anfang 2020 wieder akut sind, haben den politischen Prozess gefährdet und die ökonomischen Probleme des Landes verschärft. Dass die Demokratisierung nicht entgleiste, lag stark an der konstruktiven Rolle zivilgesellschaftlicher Akteure. Aber auch technische, diplomatische und wirtschaftliche Unterstützung sowie eine enge Sicherheitskooperation mit europäischen Partnern waren gewichtige Faktoren.
Europa bleibt – trotz der wachsenden Rolle von Staaten wie der Türkei und China – Tunesiens wichtigster Kooperationspartner. Dabei spielt Deutschland eine herausragende Rolle; zusammen mit Paris steht Berlin an der Spitze der bilateralen Geber. Bisher aber ist es nicht gelungen, Strukturreformen im Verwaltungsapparat, der Justiz und im Finanz- und Steuerwesen voranzubringen. Diese wären für die Dynamisierung der Wirtschaft und die Stärkung staatlicher Institutionen indes bitter nötig: Umfragen 2019 zeigten ein geringes Vertrauen der Bürger und Bürgerinnen in die staatliche Verwaltung, die Justiz und die Politik. Proteste gegen Korruption, fehlende Arbeitsplätze, schlechte Dienstleistungen, steigende Preise und stagnierende Löhne nehmen seit Jahren zu.
Das Resultat der Wahlen vom Herbst 2019 spiegelte deutlich den Wunsch nach einem Neuaufbruch. Anti-Establishment-Parteien schnitten stark ab, und mit Kais Saied wurde ein Verfassungsrechtler ohne politische Erfahrung, aber mit dem Ruf großer persönlicher Integrität und Bescheidenheit zum Präsidenten gewählt. Allerdings stand aufgrund von mangelndem Kooperationsgeist innerhalb der zersplitterten Parteienlandschaft auch Mitte Januar noch keine Regierung. Dies ist ein Dämpfer für die hohen Erwartungen der Bevölkerung.
Die bisherige Regierung hatte ihre große Koalition und ihre Legitimation nicht genutzt, um Strukturreformen anzugehen. Im jüngsten Ranking des »Global Competitiveness-Report« (2019) des World Economic Forum schnitt die tunesische Regierung beim Indikator »langfristige Vision« signifikant schlecht ab (insgesamt rangiert Tunesien auf Platz 87 von 141). Nicht nur politische Grabenkämpfe und mangelnde Koordination zwischen Ministerien verhinderten Fortschritte, sondern auch Blockadeakteure des alten Systems, die kein Interesse an Wettbewerb und Transparenz haben, sowie Widerstand von Veto-Kräften, wie der Gewerkschaft UGTT oder des Arbeitgeberverbands UTICA.
Derweil steigen die Schulden der öffentlichen Haushalte und sozialen Kassen. Weltbank, Währungsfonds und europäische Geber schultern bislang die Liquiditätsengpässe. Im Gegenzug zu Krediten diktiert der IWF Austeritätsmaßnahmen, die auf Einsparungen im öffentlichen Sektor, nicht aber auf dessen Effektivität abzielen. Wenn sich der Privatsektor stärker entfalten soll, mehr Investitionen ins Land fließen und bereits zur Verfügung gestellte Projektmittel besser abfließen sollen, müssen sich Bewilligungsprozesse, Verwaltungsabläufe und -transparenz verbessern. Eine Umfrage der Deutsch-Tunesischen Industrie- und Handelskammer 2019 zeigte, dass in Tunesien tätige Firmen bürokratische Hürden als erhebliches Problem betrachten.
Um erneute Enttäuschung der Bevölkerung und drohenden inneren Turbulenzen entgegenzuwirken, sollte Europa versuchen, reformorientierten Kräften den Rücken zu stärken und die Kosten-Nutzen-Kalküle der Status-quo-Akteure zu verändern. Das Instrument, das sich hierfür in erster Linie anbietet, sind direkte Hilfen für den Staatshaushalt. Allein Berlin, Brüssel und der IWF steuern jährlich deutlich mehr als eine halbe Milliarde Euro zum Budget bei. Wir empfehlen, die Praxis der Budgethilfen trotz ausbleibender Reformfortschritte zu beenden und die Finanzspritzen und Tranchenauszahlungen konsequent an nachweislich erfolgte Strukturreformschritte zu knüpfen.
Dass die Kombination aus Handlungsdruck und Anreizen funktionieren kann, hat die internationale Arbeitsgruppe für finanzielle Maßnahmen gegen Geldwäsche GAFI gezeigt: Als die EU Tunesien 2017 auf die schwarze Geldwäsche-Liste setzte, reagierte die tunesische Regierung schnell und setzte versprochene Maßnahmen um – und wurde im Oktober 2019 wieder von der Liste entfernt.
Ein Umsteuern bei den direkten Hilfen für den Staatshaushalt müsste gleichzeitig mit größeren Anreizen für vollbrachte Reformen einhergehen, etwa indem Staatsschulden in Projektgelder umgewandelt oder mehr tunesischen Auszubildenden Visa erteilt werden, um sich in der EU für einige Jahre fortbilden oder dort arbeiten zu können. Darüber hinaus gälte es, Möglichkeiten für den Import bestimmter tunesischer Agrarprodukte in die EU schnell, flexibel und großzügig zu verbessern– ohne den Abschluss des in Tunesien äußerst umstrittenen umfassenden EU-Handelsabkommens abzuwarten.
Letztlich geht es Anfang 2020 darum, eine klare Botschaft an die politischen Eliten in Tunis zu senden: Europa steht weiterhin solidarisch an Tunesiens Seite und führt seine bisherige Kooperationspolitik fort. Mit einer Ausnahme: Voraussetzung für zukünftige direkte Hilfen für den Staatshaushalt ist die Einleitung von Strukturreformen, die für nachhaltige wirtschaftliche und gesellschaftliche Stabilisierung – sogenannte »Resilienz« – als unerlässlich gelten. Erfolgen diese, darf Tunesien mit noch deutlich mehr europäischer Unterstützung rechnen.
Christian-P. Hanelt ist Nahost-Experte der Bertelsmann Stiftung; in deren Europa-Programm arbeitet er im Projekt »Strategien für die EU-Nachbarschaft«. Isabelle Werenfels ist Senior Fellow an der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) und forscht zu den Maghreb-Staaten.
Dieser Artikel ist auch auf Handelsblatt.com und der Themen-Webseite »Europa« der Bertelsmann-Stiftung erschienen.
Eine längere Version dieses Textes in englischer Sprache finden Sie hier.
Effekte des neuen EU-Handelsabkommens (DCFTA) im Agrarsektor
doi:10.18449/2019S24
Große Fortschritte, alte Seilschaften, unklare Perspektiven
doi:10.18449/2019A07
Schlecht gerüstetes Tunesien und ratlose EU